Ein Saxofonquartett plus Rhythmustrio – das kann wie die Miniaturausgabe einer Bigband klingen, wie ein ganzes Jazzorchester unterm Mikroskop. Daher der Name der Band: The Microscopic Septet. Oder kurz: die „Micros“. Eine Band feiert Geburtstag.
Als die Micros zusammenfanden (1980), holte die New Yorker Jazzszene gerade kräftig Luft. Zwei Jahrzehnte lang hatte der Jazz ein rasches Wechselbad der Extreme erlebt: Freejazz und New Thing, Electric Jazz und Jazzrock, dann die Welle der ästhetisch bemühten Solo- und Duo-Aufnahmen, ein neuer Kammerjazz. Zwei Jahrzehnte lang hatten die eigentlichen Tugenden des Mainstream-Jazz – Standard-Themen, Chorusformen, rhythmischer Swing, klare Akkordwechsel – nicht mehr viel gegolten.
Die Micros waren Spontis
Die jungen Jazzmusiker der 1970er Jahre hatten kein Musikcollege besucht, keine Lehrzeiten bei Mainstream-Assen absolviert. Sie waren mit Freejazz und Punk großgeworden, waren Spontis und wollten einfach ihr eigenes Ding machen. Sie mochten dies und jenes und mischten es bunt zusammen. Wer eine Sache nicht schulmäßig lernt, bewahrt sich seine ungebrochene Fantasie. Downtown in New York blühte die „Loft Scene“ – ihr Symbol war die Wildblume.
„Es gab einen großen Zustrom an Musikern“, sagte der Saxofonist Sam Rivers, der „Bürgermeister“ der Loft Scene. „Alle beschlossen zur gleichen Zeit, nach New York zu kommen.“ Der Gitarrist James Emery meinte: „Die Musik explodierte in New York damals über alle Grenzen hinweg. Jeder spielte mit jedem. Es ging darum zu zeigen, wer du bist und was du auf deinem Instrument Eigenes zu sagen hast.“
Über den Saxofonisten David Murray, der aus Kalifornien nach New York kam, hieß es zum Beispiel: „Er begann mit Kirchenmusik und Rhythm & Blues und dann, indem er das Bebop-Idiom komplett umging, landete er mit beiden Füßen in der Avantgarde.“
Ellington und Free Jazz
Auch Phillip Johnston, der Sopransaxofonist und Co-Leader der Micros, war ein Jazz-Sponti. Er hatte in New York das College abgebrochen und wollte nach San Francisco gehen. „Ich wollte ein Hippie werden und verrückte Sachen auf dem Saxofon spielen.“ Am Tag vor seiner Abreise lernte er zufällig den Pianisten Joel Forrester kennen, der sein Geld als Alleinunterhalter in Restaurants verdiente. Forrester kam einfach in Johnstons Wohnung, als er ihn auf dem Saxofon ein Stück von Thelonious Monk üben hörte – Monk war Forresters Klavier-Idol.
Ein paar Jahre später gründeten Johnston und Forrester zusammen in New York das Microscopic Septet. Saxofonquartette – mit und ohne Rhythmusgruppe – kamen damals gerade in Mode. „Als die Micros anfingen, hatten wir keine Ahnung, was für eine Band das werden würde“, sagt Johnston. „Wir machten erst mal eine Menge der Sachen, die eine Band mit vier Saxofonen und Rhythmusgruppe eben machen kann: Coverversionen, Gesangseinlagen, Transkriptionen, harmonisierte Jazzsoli. Vieles davon fiel später weg.“

Einig war man sich nur, dass man swingen wollte – aber dabei auch Verrücktes tun und Spaß haben. „Meine zwei größten Einflüsse zu Beginn waren der Jazz der 1920er und 1930er Jahre und die Freejazz-Avantgarde der AACM – beide hatte ich in meiner Highschool-Zeit entdeckt“, sagt Johnston. „Ich hörte Anthony Braxtons Album ‚For Alto‘ und den Jungle-Sound des frühen Duke Ellington. Man könnte sagen, die Micros waren anfangs der Versuch, beides gleichzeitig zu spielen.“
Außerdem war Johnston – wie Forrester – ein großer Fan von Monk und dem Sopransaxofonisten Steve Lacy, der Monks Musik „weiterdachte“. „Was mich zu Lacy zog, war sein Humor, der feinsinnig, trocken und irgendwie intellektuell war. Das kombinierte ich mit eher lustigen Sachen wie der Musik von Raymond Scott. Eine andere tolle Band war das John Kirby Sextet, das auch viel Witz besaß. Sagen wir: Ich kombinierte Steve Lacy mit Scott, Kirby und Spike Jones.“
Da keines der Bandmitglieder des Microscopic Septet ein etablierter Jazzmusiker war, spielten die Micros jahrelang nur in obskuren, kleinen Lokalitäten: Kellerstudios, Absturz-Kneipen, Büchereien, Rockclubs. Doch der wilde, humorvolle Stilmix ihrer Musik, geprägt vom vierstimmigen Saxofonsatz, lockte dann immer mehr Jazzfans an. „Humor in der Musik kommt aus dem Überraschungsmoment“, sagt Johnston. „Du bringst den Hörer dazu, etwas Bestimmtes zu erwarten, und dann passiert etwas völlig anderes.“
Dazu kam der spleenige Habitus der Band: „In unseren Anzügen und Krawatten sahen wir aus wie eine Gruppe arbeitsloser Staubsauger-Verkäufer. Wir hatten Vokaleinlagen, obwohl keiner von uns singen konnte, wir marschierten durch den Saal, wir hatten viele kleine Mätzchen.“
Viele Zutaten in einem Topf
Das Microscopic Septet war genau das, worum es im Jazz der 1980er Jahre ging. Sie montierten Elemente aus altem und neuem Jazz auf ganz eigene Art, mischten sie mit vielem anderen, reagierten auch auf die aktuelle Monk- und Bebop-Mode, machten auf Humor, Performance und Bühnenzirkus, auf Eklektizismus und Postmoderne.
„Das Microscopic Septet war für die New Yorker Downtown-Szene der 1980er, was in Chicago das Art Ensemble of Chicago war“, schreibt der Jazzkritiker Chris May. „Sie dekonstruierten und rekalibrierten die Stilkomponenten, jonglierten und spielten mit ihnen. Country & Western, R & B, Rock ’n’ Roll, Salsa, Klezmer, Bop, Dixieland, Lounge Jazz, Minimalismus, Film Noir, Barrelhouse und freie Improvisation wurden von den Micros zermahlen. Oft steckten sie drei oder vier dieser scheinbar widersprüchlichen Zutaten in einen Topf.“
Die Micros im Fernsehen
Die Jazz-Insider waren begeistert, die Jazzkritiker formulierten Hymnen. „Jemand müsste sie ins Fernsehen bringen“, schrieb Francis Davis 1989. Viele erwarteten den großen Durchbruch der Band. Aber dann nahm die Renaissance des Mainstream-Jazz Fahrt auf, die großen Plattenfirmen witterten ein großes Geschäft, und der Zug der Zeit ließ die Micros links liegen – 1992 löste sich die Band auf.
Die bis dahin veröffentlichten Alben (Vinyl!) dokumentieren nur einen kleinen Ausschnitt aus ihrem zuletzt 180 Stücke umfassenden Programm. Johnston ging irgendwann nach Australien, Forrester nach Paris, die Musiker starteten neue Projekte. Dem gepflegten Wahnsinn ihres Septetts trauerten sie noch lange nach.

Als die vier alten LPs völlig vom Markt verschwunden waren, fand Johnston ein Label, das die Musik der Micros auf zwei Doppel-CDs neu herausbrachte. Zur Unterstützung der Veröffentlichung kam die Band 2006 noch einmal zusammen. „Dabei hatten wir und das Publikum so viel Spaß, dass wir beschlossen, daraus eine sporadische Regelmäßigkeit zu machen. 2007 tourten wir wieder durch Europa – und danach machten wir nach 20 Jahren wieder ein neues Album. Unsere Langzeit-Fans werden einige der viel gespielten Klassiker aus unseren alten Konzerten wiedererkennen.“
Inzwischen gibt es bereits vier neue Alben. Die Micros sind keine jungen Spontis mehr, aber ihre Musik steckt noch immer voller Überraschungen. Was zunächst wie swingender Mainstream-Jazz klingen mag, überrumpelt die Hörer durch völlig unerwartete Wendungen, Figuren und Episoden. Da werden Brücken geschlagen zu Rock und Latin, Krimimusik und Showtune.
Wenn einer der Saxofonisten soliert, sind die anderen mit ihren Riffs immer präsent. „Warum machen wir weiter?“, fragt Phillip Johnston, inzwischen 65 Jahre alt. „Es geht darum, dass wir Einzigartigkeit, Individualität und Schrullen für wichtig halten. Nie gab es einen vierstimmigen Saxofonsatz, dessen Mitglieder in ihrem Vibrato, ihrer Tongebung und ihrer Phrasierung so verschieden waren. Nie gab es musikalische Konzepte wie die der Micros.“