Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Almut Schlichting über „1000 Ideen pro Minute“

Almut Schlichting
Almut Schlichting (Foto: Sandra Schuck)

Die gesammelte Kraft aus zwei Jahren Konzerttournee steckt im neuen Album der Insomnia Brass Band von Almut Schlichting – daher der Titel „Road Works“. Gerade wurde die dreiköpfige Mini-Brassband für den Deutschen Jazzpreis nominiert. Wir drücken die Daumen. 

Die Baritonsaxofonistin Almut Schlichting hat gleich zwei neue Alben veröffentlicht. Eines mit ihrer Insomnia Brass Band (einem Trio) und eines mit Subsystem (einem Duo). Beide Formationen sind klein, beweglich und tiefenfreudig. Besonders die Insomnia Brass Band – in der Besetzung Baritonsaxofon, Posaune und Schlagzeug – sorgt für ordentlich Aufregung auf den Konzertbühnen und in der Fachpresse. Im Jazz Podium hieß es: „Sie schaffen es tatsächlich, aus einer Minimalbesetzung das Maximum herauszuholen und an die großen New-Orleans-Brassbands zu erinnern.“ Das New Yorker Dusted Magazine schreibt sinngemäß: „Es ist alles so komplex und voller Sensationen und zur gleichen Zeit extrem tanzbar, dass man überrascht sein könnte, wenn man herausfindet, dass hier nur drei Instrumente am Werk sind. Die Insomnia Brass Band klingt wie die kubistische Version einer Umtata-Kapelle…“. 

Wie kommt man überhaupt auf die mutige Idee, eine solche Mini-Brassband zu starten? Almut Schlichting hält da eine fantasievolle Legende bereit, die sie bei jedem Konzert etwas anders erzählt. Aber sie verrät uns auch die wahre Geschichte: „Vor ein paar Jahren haben die Posaunistin Anke Lucks und ich uns zufällig auf der Straße getroffen, wir kannten uns von früher. Daraus sind eine Reihe von Brass-Workout-Sessions entstanden und das gemeinsame Interesse, Groove mit unerwarteten improvisatorischen Kurven zu verbinden. Dann haben wir uns auf die Suche nach einem Schlagzeuger gemacht.“

Das Interview führte Hans-Jürgen Schaal.

In Ihrer früheren Band „Shoot The Moon“ kannte man Sie als Altsaxofonistin, jetzt spielen Sie konsequent das Bariton. Haben Sie Ihre musikalische Rolle neu definiert? 

Ja. „Bei Shoot The Moon“ habe ich mich eher als Komponistin verstanden. Als Altsaxofonistin war ich in dieser Band nur ein Teil im großen Ganzen aus Text, Musik und Arrangement, mit gelegentlichen Solo-Spots. Vor fünf Jahren habe ich mich entschieden, nur noch Bariton­saxofon zu spielen. Mittlerweile sehe ich mich viel mehr als Instrumentalistin, Spielerin, Improvisatorin – und das prägt meinen Umgang mit der Musik. Meine Kompositionen sind minimalistischer geworden, setzen Stimmungen, bieten Groove-Material, wirken als Sprungbretter fürs Spielen. Und meine Bands sind kleiner und beweglicher.

Was mögen Sie besonders am Baritonsax? Die Sonorität, die Kraft, den »rockigen« Groove? 

Klar, auf jeden Fall das Tiefe und den Rock’n’Roll-Faktor. Aber eben auch die Flexibilität des Tonumfangs zwischen tief und hoch – alles zwischen fetten Bass-Grooves und hohen leisen Melodien ist möglich. So kann ich im Maschinenraum der Band dabei sein und habe gleichzeitig genug andere Tonfarben, um solistisch oder kollektiv-improvisatorisch zu spielen.

Wie ist das mit dem Gewicht des Instruments? Belastet es Sie auf Dauer manchmal? Oder gibt das Gewicht gerade ein besonders gutes Gefühl? 

Rumschleppen nervt natürlich manchmal. Aber eigentlich ist es gut – ein echtes Gegenüber, es hält mich auf dem Boden.

Haben Sie unter den Baritonspielern der Jazzgeschichte besondere Lieblinge? 

Ehrlich gesagt höre ich gar keine Baritonsaxofonisten. Was Saxofonlinien und Phrasierung angeht, bin ich momentan eher bei den Tenor-Klassikern, John Coltrane, Joe Henderson, Sonny Rollins, Stan Getz. Dazu kommt die Bass-Groove-­Abteilung – vom Dirty-Dozen-Brass-Band-­Tubisten Kirk Joseph bis zum Red-Hot-Chili-­Peppers-Bassisten Flea. Und dann noch das Rumstöbern in Musik aus allen möglichen Ecken, sehr divers. In meiner Bandcamp-Bibliothek tummeln sich gerade Sons of Kemet, Tuba Skinny, Clipping, Derek Bailey, Meridian Brothers, Aby Ngana Diop …

Sie haben als Kind/Jugendliche viel Cello gespielt. Hat Ihre Liebe zum Bariton auch damit zu tun? 

Bestimmt. Ich hatte eine tolle Cellolehrerin in Göttingen, Ulrike Haase – und wahrscheinlich waren die wunderbaren „Cellonachmittage“, bei denen wir ab und zu mit mehreren Cello-Kindern bei Tee und Keksen zusammen musiziert haben, die Grundlage für meine spätere Liebe zur Bandarbeit.

Almut Schlichting
Insomnia Brass Band (Foto: Oliver Potratz)
Wie viel bewusste Ironie oder Provokation steckt in der Insomnia Brass Band?

Von wegen Mini-Brass-Band mit tiefen Instrumenten? Nur Begeisterung!

Auch im Duo Subsystem fehlen die hohen Stimmen. Was schätzen Sie an der Besetzung mit Kontrabass besonders? 

Große Freiheit, große Beweglichkeit, sehr viel Platz. Und mit Sven Hinse verbindet mich eine lange Geschichte, wir kennen uns wirklich schon ewig, das hört man auf der Bühne. Wir teilen eine collagenhafte Herangehensweise, wir lieben unerwartete Wendungen und absurden Humor. Kitsch darf auch vorkommen.

Bietet Ihnen Subsystem eine komplementäre Ergänzung zu Insomnia? 

Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Insomnia Brass Band hat allein schon durch die Besetzung einen höheren Partyfaktor, Subsystem ist kammermusikalischer und feinsinniger. Insomnia hat mehr Improvisationsanteile und minimalistischere Stücke, das Repertoire von Subsystem ist auskomponierter. Beide arbeiten sehr viel mit rhythmischen Elementen. Und beide haben den Seiltanz-Faktor: Kleine Bands, die einen großen Sound machen und bei denen alle Beteiligten die ganze Zeit 100% im Einsatz sind.

Wissen Sie beim Komponieren immer schon, für welche Band Sie schreiben? 

Zur Zeit von „Shoot The Moon“ waren meine Kompositionen sehr viel ausgearbeiteter, länger und komplexer als jetzt. Damals habe ich dann auch wirklich für diese spezifische Besetzung komponiert, mit genau diesem Sound im Ohr. Heute entstehen meine Kompositionen viel aus dem Spielen heraus, beginnen oft mit einer Baritonsaxofon-Bassline. Und manchmal kommt noch eine Melodie hinzu. Acht Takte, 16 Takte, und fertig. Das ist dann eben universeller einsetzbar und direkt als Improvisations-Einladung gedacht.

Ich habe von dem Projekt Bauhauskapellentraum gelesen. Wie und wann kam diese Formation zustande? 

Die Band ist anlässlich des 100-jährigen Bauhaus-Jubiläums 2019 entstanden. Die originale „Bauhauskapelle“ trat in den 1920er Jahren bei den legendären Bauhaus-Festen und auch außerhalb auf; Tondokumente gibt es nicht, nur Beschreibungen von Mitwirkenden und Zeitzeugen. Es scheint sich um eine mitreißende Mischung aus Jazz, Folklore und Geräuschmusik gehandelt zu haben. Mit dem Projekt Bauhauskapellentraum möchten wir diese Legende wieder aufleben lassen – mit gründlichen Recherchen, aber ohne Anspruch auf historische Authenzität. Die Leerstellen und fehlenden musikalischen Dokumente füllen wir getreu dem Bauhaus-Konzept mit unseren individuellen »geistigen Abenteuern« – komponiert von Sven Hinse (Kontrabass) und mir, gespielt und dekonstruiert dann gemeinsam mit Jacobien Vlasman (Gesang) und Daniel Meyer (Gitarre).

Welches Ihrer früheren Projekte war Ihnen besonders wichtig? 

In der Vergangenheit sind da auf jeden Fall das Garagenoper Kollektiv und die Seemannslieder-Band Le Sorelle Blu zu nennen. Das Garagenoper Kollektiv hat drei Festivals veranstaltet und interdisziplinär gearbeitet – zwischen Neuer Musik, zeitgenössischem Jazz und Tanztheater. Le ­Sorelle Blu war auch sehr kollektiv, bunt, vielfältig, feministisch – und meine erste Baritonsax-Bass-Groove-Band. 

Sie betreiben zusammen mit Alexander Beierbach ein eigenes Label. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Tiger Moon Records gibt es jetzt seit fast zehn Jahren. Es ist toll, dass wir damit eine gemein­same Plattform für unsere unterschiedlichen Bands geschaffen haben – Alexander mit Absolutely Sweet Marie, Brom, Tru Cargo Service und demnächst Twirls, und ich mit »Shoot The Moon«, Subsystem und der Insomnia Brass Band. Und ich freue mich wirklich, dass wir mittlerweile in der Jazz-Presse- und -Radiolandschaft als Konstante wahrgenommen werden und ziemlich viel Aufmerksamkeit bekommen – dafür, dass wir so klein und selfmade sind.

Die Gretchenfrage zum Schluss: Müssen Frauen im Jazz besser, initiativfreudiger, fantasievoller sein als Männer, um Gehör zu finden? 

Frauen im Jazz – so generell kann ich das nicht beurteilen, wir sind alle sehr verschieden! Klar gibt es immer noch strukturelle Probleme und Benachteiligungen, so nach dem Motto „Wir können euch leider nicht einladen, wir haben dieses Jahr bereits eine Saxofonistin im Programm“. Und manche Netzwerke sind immer noch männerdominiert. Aber jede und jeder spielt sehr individuell und findet auch ihren oder seinen eigenen Weg. Jemand wie ich, die tausend Ideen pro Minute hat, denkt sich dann eher selbst etwas aus und treibt es mit eigener Kraft und mit Hilfe der Bandkolleginnen und -kollegen voran.

Almut
Subsystem (Foto: Sandra Schuck)