Wood | Von Olaf Maikopf

Anders und Benjamin Koppel über “Mulberry Street Symphony”

Mulberry Street Symphony
Foto: Jacob Riis

Eine Vater-Sohn-Kollaboration der Extraklasse ist ihr gemeinsames aktuelles Album: Es ist die natürliche und logische Erweiterung der sinfonischen Werke von Anders Koppel und den eklektischen Funk- und ­Improvisations-Sets seines Sohnes, des Saxo­fonisten Benjamin Koppel. Mit Vater und Sohn Koppel sprach Olaf Maikopf über ihren Werdegang und das gemeinsame Album “Mulberry Street Symphony”.

In Kopenhagen sah Anders Koppel vor län­gerer Zeit eine Ausstellung über den Fotografen und Sozialreformer Jacob Riis. Dessen Schwarz-Weiß-Bilder aus den 1870er Jahren ­beeindruckten und inspirierten den dänischen Komponisten, Klarinettisten und Organisten zu einem groß angelegten epischen Werk für Jazztrio und Orchester. In einer fast fünfjährigen Arbeit entstand daraus das aus sieben Sätzen bestehende Album “Mulberry Street Symphony” (Unit Records), geschrieben für seinen Sohn, Saxofonist Benjamin Koppel, sowie die zwei Amerikaner Brian Blade (Schlagzeug) und Scott Colley (Bass). Tatsächlich gelang es Anders Koppel hier, sozusagen die Sozial-Fotografie seines Landsmannes in Töne zu wandeln. Dafür fand Koppel eine ideale Form in der Mischung aus Jazz und sinfonischer Musik.

Wie grandios die instrumentalen Dialoge der Jazzmusiker mit dem Odense Symphony Orchestra funktionieren, hört man aus jeder Note dieser mühelos klingenden Sinfonie. Was vielleicht auch mit daran liegen mag, dass nicht
nur Anders Koppel, sondern in anderen Kon­stellationen auch Benjamin Koppel bereits seit Jahren immer mal wieder mit Brian und Scott spielte.

Sie haben mit Musik in der bekannten dänischen Band “Savage Rose” angefangen, zusammen mit Ihrem Bruder Thomas. Aber eigentlich hatten Sie ja eine klassische Ausbildung. War also Rockmusik für Sie damals so etwas wie ein zeitgemäßer Ausdruck gegen die etablierte Kulturszene und für eine moderne Welt?

Anders Koppel: Ich wuchs in einer Familie auf, in der Musik eine große Rolle spielte. Mein Vater war Komponist und Pianist, meine drei Geschwister spielten und sangen ebenfalls, und ich selbst spielte ab meinem fünften Lebensjahr Klavier, sang im Kopenhagener Knabenchor und ­begann später mit der Klarinette. In der 78er-Plattensammlung meines Vaters gab es natürlich viel klassische Musik, wie Strawinsky, Bartók, Brahms usw., die ich hörte, genoss und studierte, aber es gab auch einen Haufen Jazzplatten aus seiner Jugend – Cab Calloway, Ellington, Armstrong, Fletcher Hendersen, Coleman Hawkins usw.

Es war also eine sehr aufgeschlossene und neugierige Atmosphäre. Als ich später, Anfang der 60er Jahre, mit Rockmusik in Be­rührung kam, also mit The Rolling Stones, Bob Dylan, Beatles, Hendrix, The Band usw., war mein Vater fast genauso interessiert wie ich. Da ist also kein großer Platz für einen Generationsunterschied! Aber natürlich war die Gesellschaft zu dieser Zeit viel autoritärer, und meine Generation und ich rebellierten natürlich dagegen  – und tun es immer noch! Frauenbefreiung und so weiter – all das hat mich beeinflusst.

Später spielten Sie eine frühe Form der Weltmusik und begannen dann, für klassische Ensembles und Film zu komponieren. War das für Sie eine “natürliche” Entwicklung hin zu groß angelegten Kompositionen?

Anders Koppel:In der Plattensammlung meines Vaters befanden sich auch ein paar 78er mit balinesischer Musik. Und als ich jung war, tauchten in den kleinen spezialisierten Plattenläden in der Stadt ständig neue Musikrichtungen auf, die ich vorher nicht gehört hatte. Ich begeisterte mich für afrikanische Musik, Gospelmusik, die sogenannte rumänische Gipsy music, modernen Jazz, argentinischen Tango, kubanische Son-Musik und vieles andere mehr. Und als ich 1975 “The Savage Rose” verließ, stieß ich auf Peter Bastian, der Balkanklarinette und elektrisches Fagott spielte, und den Percussionisten Flemming Quist Møller, und sie brachten eine Menge anderer Musik mit – hauptsächlich türkische, balkanische, kubanische und brasilianische.

Unsere Musik basierte immer auf offenen Improvisa­tionen, gepaart mit meinen Kompositionen und Volksmusik. So wurde die Band zu einer Art Werkstatt und einem Schmelztiegel, 37 Jahre lang! 2013 haben wir dann aufgehört. Außerdem führte meine Arbeit als Komponist von Film-, Ballett- und Theatermusik ab 1975 natürlich zu einem Punkt, an dem ich absolute Musik in Par­tituren für klassische Musiker und Orchester schreiben musste, um gewissermaßen mein eigener Regisseur zu sein.

Kommen wir zu Ihrem neuen Album “Mulberry Street Symphony”, einem gemein­samen Werk mit ihrem Sohn, dem Saxofonisten Benjamin Koppel. Wie kam es dazu?

Anders Koppel:Ich wollte schon länger Musik für Benjamin, Brian Blade und Scott Colley schreiben. Denn zuvor hatte ich viel über den kulturellen Austausch zwischen Dänemark und den USA nachgedacht und wie viel mir das künstlerisch bedeutet. Ich stellte mir Fragen wie “Was hat Dänemark Amerika gegeben, ab­ge­sehen von Victor Borge?” So kam mir Jacob Riis in den Sinn als jemand, der die amerikanische Gesellschaft mit seinen ikonischen Fotos und Büchern wirklich veränderte. Seine Fotos sind Dokumente der sozialen Bedingungen, unter denen die Einwanderer in New York lebten, und gleichzeitig fangen sie die Hoffnung und die Träume in den Augen der Porträtierten ein. Das fand ich sehr inspirierend, und die sieben Fotos, die ich als Thema für die Musik auswählte, halfen mir, die Struktur dessen zu schaffen, was zur “Mulberry Street Symphony” werden sollte.

Ihre Formation mit Benjamin, Brian Blade und Scott Colley bezeichnen Sie als ein “interaktives” Quartett. Was können wir uns darunter vorstellen?

Anders Koppel:Benjamin spielt nun schon seit vielen Jahren mit Brian und Scott, und ich kenne und liebe sie seit ebenso vielen Jahren. Ich habe sowohl mit Brian als auch mit Scott bei zahlreichen Gelegenheiten und in vielen verschiedenen Formationen gespielt, und ich fand es immer unendlich inspirierend. Mit Benjamin habe ich natürlich sein ganzes Leben lang gearbeitet (lacht), wir haben zusammen Songs gemacht, als er noch ein Kind war, er hatte eine fabelhafte Gesangsstimme, und wir haben jetzt seit etwa 30 Jahren gemeinsame Gruppen. Ich kenne sein Spiel also in- und auswendig, obwohl er nie aufhört, mich zu verblüffen und zu überraschen. Ich bewundere alle drei für ihr grenzenloses musikalisches Verständnis, ihre Improvisationsfähigkeiten, ihre Virtuosität und ihre natürliche musikalische Hingabe bei allem, was sie tun – ob auf oder hinter der Bühne. Sie alle sind außergewöhnliche Musiker und großartige Interpreten, was auch notwendig war, um mein Stück zu spielen.

Benjamin Koppel: Es stimmt, mein Vater und ich arbeiten so eng zusammen, wie er ja eben erzählte, seit ich ein kleines Kind war. Und seit ich Berufsmusiker geworden bin, haben wir uns in zahlreichen Projekten gegenseitig heraus­gefordert. Aus diesem Grund ist unsere Zu­sammen­arbeit ein fester Bestandteil unseres Lebens, sowohl als Musiker und Komponisten wie auch als Familie. Dieses Projekt war etwas Besonderes, vor allem wegen des Umfangs und weil wir so viele Knoten miteinander knüpfen konnten. Alles in allem war das eine ganz großartige Erfahrung!

Was halten Sie als Jazz-Saxofonist von der auf “Mullberry Street Symphony” zu hörenden Kombination aus sinfonischer Musik und Jazz?

Benjamin Koppel:Ich habe immer mit und zwischen fast allen Genres der Musik gearbeitet. Und ich habe immer mit meinem Vater musiziert und seine Musik seit meiner Kindheit gespielt. Der kreative Bereich zwischen Jazz und sinfonischer Musik hat mich schon immer fasziniert, da ich hier meinen ganzen kreativen Erfindungsreichtum einsetzen kann.

Anders Koppel: Ich denke auch, dass Musik ­keine geradlinigen Grenzen zwischen den Genres kennen sollte. Die Begegnung mit anderen Musikern, die eine andere Heran­gehens­weise haben, befruchtet uns als Musiker immer. Ich selbst habe sowohl mit klassischen Musikern als auch mit Jazzmusikern intensiv gearbeitet und kenne daher die idiomatischen Unterschiede zwischen ihren Ansätzen – und ich sehe kein Problem darin, beide zu mischen, solange ich ihnen mit Respekt begegne und nicht ver­suche, sie dazu zu bringen, Dinge zu spielen, mit denen sie sich nicht wohl fühlen. Ich möchte fantastische Musiker natür­lich immer zu ihrem Vorteil einsetzen.

Wurde alles von Ihnen notiert oder hatten die drei Jazzmusiker Gelegenheit zur Improvisation? Und ist es nicht schwierig, in einem festen sinfonischen Rahmen zu improvisieren?

Anders Koppel: Für Benjamins Saxofon habe ich nur bestimmte Melodien und Arrangements notiert, ansonsten war Platz für Improvisation. Für den Bass habe ich mehr notiert, auch län­gere Basslinien hier und da, aber trotzdem viel offen gelassen. Und dür das Schlagzeug habe ich so gut wie nichts notiert, denn wenn man einen Schlagzeuger von Brian Blades Kaliber hat, will man sein Schlagzeugspiel hören und nicht meines! Für alle drei habe ich jedoch einen Klavierauszug der Partitur mit Akkordsymbolen angefertigt, sodass sie die Noten hatten und sich aus diesem Klavierarrangement das heraussuchen konnten, was sie spielen oder weiter ausarbeiten wollten.

Außerdem habe ich sorgfältig markiert, wo sie spielen und wo sie schweigen sollten – ich habe die Struktur ihres Spiels festgelegt. Wären sie nicht so gute Notenleser, hätte das natürlich nicht funktioniert. Aber es hat geklappt! Wenn man Musiker hat, die die Improvisation beherrschen, sollte man diese Fähigkeit nutzen! Jedenfalls hat die Improvisation auch in der klassischen Musik immer eine wichtige Rolle gespielt, Mozart war ein fantastischer Improvisator und hat sogar den Solopart seiner Klavierkonzerte improvisiert, wenn er keine Zeit hatte, sie aufzuschreiben. (lacht)

Mulberry Street Symphony
Foto: Robin Skjoldborg
Benjamin, warum spielen Sie Saxofon, was bedeutet Ihnen dieses Instrument?

Benjamin Koppel: Mit fünf Jahren fing ich an, Schlagzeug zu spielen. Aber als ich im Alter von zwölf ein Konzert der kalifornischen Funkband »Tower of Power« hörte, bei dem der Schotte ­Richard Elliot ein zehnminütiges, unbegleitetes Saxofon­solo spielte, wusste ich, dass ich Saxofon spielen musste. Es wurde zu meinem Ausdrucksmittel und ist so ziemlich das Schönste, was ich mir vorstellen kann zu tun. Aber ich bin wirklich kein Technikfreak, ich spiele so gut wie jedes Horn, solange ich mein Mundstück habe, das ein handgefertigtes von Peter Jessen aus Kopenhagen ist. Seit Jahren spiele ich ein “Yamaha Custom EX”-Altsaxofon sowie ein “RS Berkeley”-Saxofon. Außerdem besitze ich auch einige Selmer-Saxofone. Eines davon ist ein seltenes “Mark VI” mit einem tiefen A, das ganz anders aussieht und klingt als alle anderen Alt­saxofone.

Und Sie, Anders, begannen ja einst als Klarinettist.

Anders Koppel: Nun, bis zu einem gewissen Punkt, vielleicht als ich Anfang 20 war, dachte ich, dass die Klarinette mein Leben sein würde, aber dann kam auch das Interesse an anderen Instrumenten, beispielsweise der Orgel. Also fing ich an, parallel zum Klarinettenspiel, Organisten wie Jimmy Smith und Garth Hudson nachzueifern. Dann begann ich, Songs zu schreiben und das war das Ende als aktiver Klarinettist. Dafür komponierte ich Stücke wie “Caprice for Clarinet” oder “Quintet for Clarinet, Saxofone and String Quartet”. Ich hänge also irgendwie immer noch an der Klarinette. (lacht)