Orchestra | Von Renold Quade

Appalachian Overture von James Barnes

Barnes
Die Appalachian Mountains

Das Werk von James Barnes gehört sicher zu seinen bekanntesten, vielleicht ist es für die Oberstufe ­sogar seine beliebteste Komposition. Ohne Frage ist diese Ouvertüre ein Klassiker aus den frühen 1980er Jahren. Sie schwamm ­äußerst erfolgreich mit auf der Welle des ­zunehmenden Interesses an konzertanter Blasmusik. Besondere Beliebtheit erfuhr die „Appalachian Overture“ übrigens nachweislich in Japan, wo sie wieder und wieder in den Listen der Top-Kompositionen für Blasorchester auftauchte.

Der Komponist James Barnes

James Barnes, 1949 in Hobart (Oklahoma) ge­boren, ist von Haus aus Tubist und lehrte Komposition, Orchestrierung, Arrangement sowie Blasmusikgeschichte und Blasmusikrepertoire an der Universität von Kansas. Im Frühjahr 2015 beendete er ebendort sein 40. Lehrjahr. Er ist nun Professor im Ruhestand und es ist ruhiger um ihn geworden. Er lebt in Lawrence (Kansas), wo er sich, dem Vernehmen nach, gelegentlich ganz in Ruhe mit ein wenig Komponieren, aber auch gerne mit Angeln oder mit seiner Lieblings-Baseballmannschaft, den Kansas City Royals, beschäftigt.

Sein beachtliches Œuvre wurde und wird heute auf der ganzen Welt gespielt. Das Tokyo Kosei Wind Orchestra hat alleine drei CDs mit seiner Musik aufgenommen. Die Blasorchesterszene ehrte ihn mit begehrten Auszeichnungen, wie zum Beispiel dem „American Bandmasters Association Ostwald Award“ für herausragende zeitgenössische Blasmusik, zahlreichen „ASCAP Awards“, der „Kappa Kappa Psi Distinguished Service to Music Medal“ oder dem „Bohumil Makovsky Award“ für College-Band-Dirigenten. Den „BMI Award“ für herausragende Vermittlung von Kreativität verlieh ihm die Nationale Konferenz der US-Musikpädagogen. 

Die Idee 

James Barnes erinnert sich: „1983 bat mich der Komponist und Dirigent Claude T. Smith, ein Werk anlässlich des 25. Jubiläums des in Kansas City beheimateten Musikverlags ‚Wingert and Jones Music Company‘ zu schreiben. Eine inte­res­sante Adresse. War der Verlag doch einer der bekanntesten Händler für Noten in Mittelamerika und zudem prominenter Verleger der frühen Werke von Smith. Ich musste zunächst ab­lehnen, weil ich 1984 keinen Spielraum mehr für weitere Kompositionen sah, doch nachdem ich Smith mein zeitliches Problem erklärt hatte, ­fanden wir doch noch eine Lösung. Wir beschlossen, ein Stück, das ich für eine High School Honor Band in North Carolina schrieb, als Werk für das Verlagsjubiläum zu nehmen.

Das Resultat des Ganzen war die ‚Appalachian Overture‘, die im Frühling 1984 von der Ala­mance County Honor Band uraufgeführt wurde. Im Sommer 1984 wurde das Stück dann von Wingert and Jones veröffentlicht. Es blieb übrigens mein einziges Werk bei diesem Verlag.“

Namen- und inspirationsgebend sind die Appa­lachian Mountains, eine bewaldetete, weniger hohe, aber vielmehr recht lange Gebirgskette. Über etwa 2400 Kilometer erstreckt sie sich von der kanadischen Westküste der Insel Neufundland bis in den Norden des US-Bundesstaates Alabama. Der gesamte Streifen hat vornehmlich Mittelgebirgscharakter. Viele Bergkuppen bleiben unter 800 Meter, wenige über 1200 Meter, der höchste misst rund 2000 Meter. Durch die Landschaft führt der „Appalachian Trail“, ein an die 3500 Kilometer langer Fernwanderweg im US-amerikanischen National Trail System. Et­liches im Kultur- und Wirtschaftsraum der ­Region bezeichnet man gerne mit dem Zusatz „Appalachia“, benannt nach dem indigenen Stamm der „Apalachee“. 

Aufbau 

Den Aufbau kann man, ganz typisch für den Stil dieser Zeit, recht einfach und kompakt wie folgt zusammenzufassen: Die Ouvertüre ist ein sehr kraftvolles und freudiges Werk und formal in mehrfacher Hinsicht in der A-B-A-Form angelegt. Barnes verwendete Motivik erinnert an Folklore, so wie ­diese in den beschriebenen Breiten durchaus üblich Verwendung findet. Der langsamere Mittelteil erlaubt einen kurzen Moment der Erholung, bevor das energische Da capo und der dramatische Schlussteil, in dem beide Hauptthemen abschließend noch einmal zueinandergeführt werden, das Werk energetisch und voluminös zum Abschluss bringen. 

Den ersten Aufschlag liefert einleitend das fan­faren­artige Kopfmotiv des später folgenden ersten Themas. Aus den ersten vier Takten – aus einem Unisono sich zu Akkorden formend – ­startet ab Takt 5 ein „Flirren“ und „Stauen“, das sich über zweimal vier Takte in weitere vier Takte ergießt, deren Besonderheit in der zweifachen Repetition eines kurzen Motivs im ³/₈-Takt liegt. Schließlich, zum prägenden und munteren ²/₄- Takt zurückgefunden, folgt ab Markierung 2 das erste Thema. 

Kraftvolle Hörner, gestützt von Eufonien und Saxofonen, präsentieren eine 16-taktige Themeneinheit, die sich aus einer viertaktigen Motivik von Punktierungen und Synkopen zusammensetzt. Wenngleich die musikalische Inspiration eher im Osten der USA angesiedelt ist, und der war ja auch mal „wild“, wirkt dieses Thema auf mich, der ich mit großen „Westernklassikern“ der Filmgeschichte groß geworden bin, ein wenig wie Musik aus dem „Wilden Westen“. Nicht zuletzt auch, weil die Begleitschläge im kom­pletten Restorchester ebenfalls in dieser Stilistik agieren. Ab Markierung 4 wiederholt sich diese Substanz, aber nun quasi mit vertauschten Rollen in Holz und Blech.

Das zweite Thema kommt entspannter daher

Ab Markierung 6 gehen Tempo und Energie beileibe nicht verloren, aber das nun beginnende zweite Thema kommt entspannter daher. Es basiert auf einem schlichten auftaktigen Motiv über zwei Takte, welches sich über 16 Takt fleißig sequenziert und charmant mit einer Gegenstimme gleicher Substanz angereichert wird. Die Wiederaufnahme in üppigerer Instrumentierung baut Barnes ab Markierung 8 ein. 

Die Reprise ab Markierung 10 startet nun wieder mit dem ersten Thema. Sind wir in As-Dur gestartet, befinden wir uns nun in Es-Dur. Die ­Hölzer steuern zudem nun zur Aufwertung des Klangerlebnisses komplementär Umspielungen mit dazu, Umspielungen, die durchaus an das »Flirren« der Einleitung erinnern. Der zweite Wiederaufgriff ab Markierung 11 währt dann nur für vier Takte, wie bereits bekannt, und wendet sich durchaus überraschend ab Markierung 12 der ebenfalls aus der Einleitung schon bekannten, stauenden viertaktigen Wendung zu. Hier baut sich nun, die Thematik weiterführend, eine erste kleine „Zwischencoda“ auf.

Ab Markierung 13 reduziert sich das melodische Ge­schehen, ­kanonisch eng geführt, auf das Kopfmotiv des ersten Themas und führt, ähnlich wie in der Einleitung, zur aufbäumenden Wendung im ³/₈-Takt. Die findet schließlich, rallentando und im Subito meno mosso, Beruhigung. Das Kopfmotiv erfährt Verbreiterung in den Trompeten und führt zum ruhigen Mittelteil des Werkes im ³/₄-Takt. Der erste große formale Ablauf „Groß A“ in kleingliedriger abá-Manier ist nun abgeschlossen.

Der nahtlos folgende Übergang ist wahrlich fließend und der vier Takte vor Andante molto espressivo erreichte ³/₄-Takt schwebt zunächst noch suchend im quasi Orgelpunkt des Abschlusstons. 

Ab Markierung 15 verschlankt eine solistische Querflöte das Geschehen

Acht Takte vor Markierung 14 ergreift die Trompete aber dann klärend die Initiative und formt cantabile die erste Hälfte des neuen Themas. Ihrem Ruf, zunächst nur mild begleitet von tiefen Ruheklängen im Holz, folgt das ganze Register sowie das komplette Orchester und vollendet das Thema im Tutti, ohne Schlagwerk und Pic­colo, klangschön im Choralstil. Wir stecken nun mitten im Teil „Groß B“ des Barnes-Werks. Ab Markierung 15 verschlankt nun eine solistische Querflöte das Geschehen. Bewusst nuancierend, nun wieder im ⁴/₄-Takt, denkt sie die Musik weiter. Neben der akkordischen Begleitung gesellen sich Takt für Takt elegant und raumöffnend Fagott, Waldhorn und Oboe dazu. Ab Markierung 16, nun wieder in As-Dur im ³/₄-Takt, etabliert sich erneut der vor acht Takten verlassene Choralklang. Als zusätzliche Stilmittel wird eine quasi kanonisch angelegte Gegen­stimme auffällig. Die Tenorpartie führt, die Altlagen folgen.

Der weitere Aufgriff ab Markierung 17 startet ein Crescendo, welches innerhalb von fünf Takten ritardierend genüsslich einen Fortissimo-Höhepunkt aufbaut, der sich zu Markierung 18 hin aber auch schnell wieder entspannt. Von da an eröffnet sich abermals ein neues Klangbild. Sanft treibende Pauken, solistische Hörner (Altsaxofon) und weiche Tiefblechbegleitung. Nach sechs Takten wechselt noch einmal das Metrum in den ⁴/₄-Takt mit zunächst gleicher Motivik wie in Markierung 15. Diese Motivik verlagert sich schnell in die tiefen Register, verschlankt sich zum eigentlichen Kopfmotiv und lässt den langsamen Mittelteil „Groß B“ leise und ritardierend auspendeln. 

Das Szenario wandelt sich im „Tempo primo“

Nach kurzem „Atmer“, offensichtlich einen langen Ruheton anstrebend (was de facto ja auch passiert), wandelt sich aber das Szenario recht schnell im „Tempo primo“. Derweil die Pauken mit Wirbel die Ruhe des langen Tones noch zulassen, feuert die kleine Trommel mit prägnantem Rhythmus, mehr als nur erinnernd an das Kopfmotiv des ersten Themas, das Geschehen wieder an. Hörner, Posaunen und Eufonien folgen mezzopiano lauernd in gleicher Motivik auf dem Fuße, die Trompeten, mezzoforte und cres­cendo dann schon nachdrücklicher, und schließlich auch die Hölzer im nun wieder vollen Tutti. Spannungsaufbauend und weiter im Crescendo wird diese Bewegung nur noch getoppt vom genau für dieses energiestauende und gleichsam vorantreibende Moment erdachte, bereits bekannte, auf fünf Takte erweiterte rhythmische Motiv, vornehmlich im ³/₈-Takt. 

Es führt wieder zurück zum „Groß A“-Teil, der nun von Markierung 4 bis Ende 13 im Reprisen-Sinne wieder aufgegriffen wird. Ein Kopfzeichen leitet ab in die erweiterte Coda, die diesen letzten Teil nun insgesamt zu »Groß A’« werden lässt und noch einmal spannende Wendungen freigibt.

Einen antreibenden Part übernehmen die hohen Hölzer

Die ab Kopfzeichen zunächst wohl bestimmende melodische Idee im vollen Blechsatz mit Saxofonunterstützung erinnert stark an das Choralthema (B) aus dem Mittelteil. Tempo und Energie, im Sinne des vorantreibenden Gedanken A, geht (und darf auch) nicht verloren (gehen), auch wenn die Schlagzeuggruppe hier nun schweigt. Einen durchaus perkussiven und antreibenden Part übernehmen nun die hohen Hölzer, die nicht nur immer wieder das Kopfmotiv A aufblitzen lassen, sondern zudem, viel wichtiger noch, mit ihren flirrenden Umspielungen für die Antriebsenergie sorgen.

Vier Takte vor Markierung 21 bäumt sich, durch aufsteigend platzierte Sechzehntelgruppen im langen Abschlusston, die Szenerie noch einmal zu einem kurzen Fortissimo auf. Auch wenn es sich sofort wieder zum Forte beruhigt, treibt es aber unaufhaltsam weiter. Melodisch geht es nun aber nicht mehr über die volle Distanz, sondern die Ouvertüre biegt nach acht Takten bei Markierung 22, erneut cres­cen­dierend, mit der ³/₈-Motivik endgültig in die nun klar gefühlte Coda ab. 

Die hohen Hölzer hämmern im Stil einer kleinen Trommel im Unisono den Rhythmus des ersten Kopfmotivs, während sich ab Markierung 23 Trompeten und Posaunen verdichtend mit einem abfallenden Motiv Gehör verschaffen. Die mitt­leren und tiefen Lagen lassen das komplette Kopfmotiv noch einmal auferstehen, bevor das ganze Szenario den ³/₈-Takt, kanonisch versetzt zwischen Blech und Holz, noch einmal kurz stauend nutzt, um dann mit Kopfmotiv und Schlusston zu enden.

Instrumentation

Die Partituranlage ist konventionell und bietet, gemäß der Einstufung im damals noch recht weit gefassten Großraum Oberstufe, vielen In­stru­men­ten in unstrittigen und wohlklingenden Lagen Platz. Ausgewogene und volle Besetzungen können etliche strahlende und volltönende Klangbilder präsentieren. Registerausgleich bei gegebenenfalls weniger ausgewogenen Be­setzungen ist immer möglich, da Gewichtungen aufgrund von Doppelungen und Verstärkungen klug vorgenommen werden können. Da, wo gegebenenfalls ein Instrument nicht besetzt werden kann, wird in der Regel auch ein alternativer Besetzungsvorschlag angeboten. Das Werk enthält zudem einige gut spiel- und wahrnehmbare Solopassagen, die ohne Frage auch im engagierten Schulbereich dankbar angenommen und mit Freuden realisiert werden können. 

Fazit 

Gut sieben unterhaltsame und spannende Minuten im amerikanischen Stil der 1980er Jahre. Die Motivik des Werkes ist bewusst folkloristisch ­angelegt, zitiert aber keine etablierten Volks­themen, ist also eine Eigenkreation von James Barnes. Die Ouvertüre ist insgesamt natürlich programmatisch angelegt, verweist aber auf ­keine festgelegte Geschichte. Somit lässt sie durchaus auch Raum, die musikalische Landschaftsschilderung individuell zu erleben. 

Stellt man sich die Frage, warum manche Werke einfach mehr in Erinnerung bleiben als andere, so kann man dies oft kaum rein rational be­antworten. Klarheit der Gedanken, gemischt mit einer Prise Raffinesse in der handwerklichen Verarbeitung, stand dem Erfolg jedoch noch nie im Wege.