Brass, Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Athanasius Kircher: zwischen Wissenschaft und Aberglauben

Kircher
Kupferstich von Cornelis Bloemaert II

Im Roman „Tyll“ (2017) von Daniel Kehlmann hat der fromme Gelehrte Athanasius Kircher beeindruckende Auftritte als Inquisitor und Drachenjäger. Seine „Musurgia universalis“ war eine wichtige Musiktheorie des 17. Jahrhunderts.

Er war einer der größten Gelehrten seiner Zeit. Athanasius Kircher (1602 bis 1680), Sohn eines Amtmanns, im Thüringischen geboren, korrespondierte mit rund 800 Kollegen über wissenschaftliche Fragen und besaß in Fachkreisen internationales Renommee. Er un­ter­nahm Forschungsreisen, bestieg die italienischen Vulkane (Vesuv, Ätna, Stromboli), machte allerlei Experimente, erfand diverse Apparate, forschte über die Pest, beherrschte zahlreiche Sprachen, gründete ein Museum in Rom (eine Art Wunderkammer) und veröffentlichte rund
50 umfangreiche Werke. Sein Forschungsgebiet erstreckte sich von der Mathematik, Physik, Astronomie und Geologie über die Biologie und Medizin bis hin zur Ägyptologie, Sinologie und Musiktheorie. Vom Erlös seiner Bücher finan­zierte er sein Leben – ein Universalgelehrter als Freiberufler. 

Gleichzeitig war Kircher aber ein Mann der katholischen Kirche, ein Mitglied des Jesuiten­ordens. Im Jahr 1628 wurde er sowohl zum Mathematik­professor als auch zum Priester ernannt. Als eine Art wissenschaftlicher Sonderbeauftragter des Papstes sah er seine Aufgabe darin, Erkenntnisse der Forschung mit den kirchlichen Lehren in Einklang zu bringen. Kircher ­vollführte quasi eine Gratwanderung zwischen freiem und dogmatischem Denken. In seinen Büchern kam es daher zu einer manchmal bi­zarren Mischung aus Wissenschaft, Glaube, Aberglaube und völliger Spinnerei. Als Sinologe behauptete er zum Beispiel, die chinesischen Schriftzeichen seien von den ägyptischen Hieroglyphen abgeleitet. Auch meinte er, die Chinesen stammten überhaupt von Ham ab, dem zweiten Sohn Noahs, der außerdem mit dem persischen Zoroaster (Zarathustra) identisch sei. Als Naturforscher erklärte Kircher das Phänomen von Flut und Ebbe damit, dass sich Wassermassen zwischen den Meeren und einem unterirdischen Ozean hin und her bewegen.

Musurgia universalis

Eines von Kirchers umfangreichsten Werken (mit mehr als 1000 Seiten) ist die „Musurgia universalis“, auf Deutsch etwa: „Umfassende Musikkunde“. Der Untertitel lautet „Ars magna Con­soni et Dissoni“ – „Große Kunst der Konsonanz und Dissonanz“. Dieses Buch erschien erstmals 1650 in einer Auflage von 1500 Exemplaren – viele davon fanden ihren Weg in jesuitische Missions­stationen auf der ganzen Welt. Mithilfe et­licher Mitarbeiter (oder Zuträger) hat Kircher hier versucht, das gesamte Musikwissen seiner Zeit zu sammeln. Natürlich schrieb er sein Buch auf Latein – die Vorrede sogar in gereimten Versen. Das Werk enthält außerdem zahlreiche ­Illustrationen, die nach Kirchers Anweisungen angefertigt wurden, und etliche Notenbeispiele. 

Kircher
Titelblatt der „Musurgia universalis“

Die „Musurgia universalis“ gliedert sich in zehn einzelne „Bücher“ oder Kapitel. Kirchers Ausführungen beginnen mit dem Elementaren, mit den Tönen und dem Gehör. Besonders detailliert ist der Autor bei Fragen der Proportion und Physik, der mathematischen Herleitung der Intervalle und Konsonanzen. Es geht aber auch um Techniken des Kontrapunkts, die Musik des Altertums und neuere Stilarten. Das 6. Buch ist den Musikinstrumenten gewidmet, die Kircher in drei Klassen einteilt: die Saiteninstrumente (einschließlich des Cembalos), die Blasinstrumente und die Schlaginstrumente. Besonders umfangreich werden die Saiteninstrumente behandelt – kein Wunder, denn Kircher hat seine eigenen Musikexperimente an einem Monochord bzw. Polychord ausgeführt. (Von den Proportionen der Saitenlängen am Monochord handelt das komplette 4. Buch.) Besonders interessant sind die Ausführungen zu den verschiedenen Stimmungen der Cembali – die gleichstufige Temperatur war 1650 noch nicht verbreitet.

Kirchers kleine Bläserkunde

Die Blasinstrumente werden in Kirchers Werk eher stiefmütterlich behandelt. An zeitgenössischen Instrumenten erwähnt er unter anderem Ga­­loubet (Einhand-3-Loch-Flöte), Flageolet (6-Loch-Flöte), Blockflöte, Querpfeife, Zink („cornetto“), Trompete, Zugtrompete (= Posaune), Krummhorn („cromorne“), Dudelsack, Musette (Dudelsack mit Armsack), Oboe, Fagott (= Dulzian), Serpent. Besonders ausführlich wird auch die Orgel besprochen – als Königin der Blas­instru­mente. Vom Dulzian heißt es, er liefere die „süßeste“ Bassstimme, der Serpent klinge dagegen weniger „liebreizend“. Eine besondere Vorliebe hegt Kircher für den Klang eines Bläser­ensem­bles aus etwa vier Zinken und einem Dulzian. 

Bei der Form der Blasinstrumente unterscheidet Kircher zwischen gekrümmt, zylindrisch, konisch und einer Mischung daraus. Welche Bedeutung die Form der Bohrung für den Klang hat, ist ihm offenbar nicht klar. Er führt den Klang vielmehr ganz aufs Material zurück – hier unterscheidet er Schilf, Gänsekiel, Holz, Rinde, Tierknochen (Schienbein), Tierhorn, Blei, Zinn, Silber und Bronze. Da es unendlich viele Materialien gebe, schreibt er, seien auch unendlich viele Klangfarben von Blasinstrumenten denkbar. Nach seiner Darstellung war das erste Blasinstrument eine einfache Flötenpfeife ohne Griffloch, von der dann mehrere miteinander kombiniert wurden (vgl. Panflöte oder Orgel). Bei den Bezeichnungen dafür („Monaulos“ bis „Decaulos“) liegt Kircher aber falsch, denn der antike „Aulos“ war ein Rohrblattinstrument, keine Flöte.

Kircher fehlt die Vorstellung der unterschiedlich langen Luftsäule

Musurgia universalis
Darstellung der Ohren aus „Musurgia universalis“ (1650)

Was die Tonhöhenbildung der Holzblasinstrumente angeht, erkennt Kircher natürlich die Entsprechung zu Saitenlängen und deren proportionalen Verhältnissen. Allerdings fehlt ihm die Vorstellung der unterschiedlich langen Luftsäule. Er ist überzeugt, dass höhere Töne durch höheren Luftdruck hervorgebracht würden. Um die Ok­tave zu blasen, müsse man genau doppelt so stark blasen, für die Quinte anderthalbmal so stark. In den Tönen der Trompete (der ventil­losen Naturtrompete) erkennt er die Ober­ton­reihe, die ihm als naturgewollte Grundlage der Konsonanz erscheint.

Sein Glaube an die gute Ordnung der Töne hat allerdings seine Grenzen. Der 7. Überblaston (die Naturseptime) sei, so schreibt er, „musikalisch nutzlos“ und ein „Feind der Harmonie“. Und in den Intervallen in den höchsten Tönen erkennt er keine Natur­ton­schritte mehr. Diese Intervalle seien nur deshalb so klein, weil der Blasdruck schon so groß sei, dass man ihn nur noch minimal erhöhen könne. (Er schreibt, die Trompete werde bis in den 29. oder gar 32. Ton überblasen.)

Werwölfe, Dämonen, Schutzengel

Im zweiten Teil seines Werks „Musurgia universalis“, der die Bücher 8 bis 10 umfasst, gibt Kircher seiner frommen Fantasie viel Raum. Er erläutert zum Beispiel die von ihm entwickelte „musarithmische Kunst“, mithilfe derer auch Laien komponieren könnten. (Angeblich haben sich jesuitische Missionare dieser Methode bedient.) Er blickt außerdem auf „magische“ und „heilende“ Wirkungen der Musik – und auch im Bau der Welt will er die Proportionen der musikalischen Harmonie erkennen. Sein Lavieren zwischen Wissenschaft, kirchlichem Dogma und Volksglauben führt ihn hier zu abwegigen Behauptungen. Legenden übernimmt er ungeprüft: „Niemals hätte ich solches glauben mögen, wenn ich es nicht durch Patres, die absolut glaubwürdig sind, erfahren hätte.“ 

Kircher zeigt sich zum Beispiel überzeugt davon, dass man mit Musik bestimmte Krankheiten heilen könne, zum Beispiel Ischias, Besessenheit (!), Vergiftungen, Pest, Wahnsinn und die „Lykanthropie“ – das ist die Verwandlung in einen Werwolf (!). Es könnten allerdings nur solche Krankheiten geheilt werden, die von der schwarzen oder gelben Galle abhängig sind. Zuweilen sei dabei außerdem die Hilfe eines Dämons (!) nötig. Die Heilwirkung der Musik beruhe übrigens da­rauf, dass der menschliche Körper luftdurchlässig (!) sei und der „Hauch“ des Tons die Sehnen und Muskeln in Bewegung setze.

An anderer Stelle berichtet Kircher von Musikinstrumenten, die von selbst erklingen. Am Grab des heiligen Jakob von Compostela gebe es Instrumente, die von selbst ertönten, wenn Aufstände bevor­stehen. Es seien „unzählige Beispiele“ für solche „Wunderklänge“ verbürgt – in einem Fall sagten sie einen Sieg über Ungläubige voraus, dann wieder den Untergang von Jerusalem. Natürlich hat der Universalgelehrte auch eine Erklärung parat. Kircher meint, Wunderklänge würden grundsätzlich mithilfe der Schutzengel erzeugt, und zwar dank der Verdienste eines Heiligen.