Brass, Orchestra, Wood | Von Jürgen K. Groh

Auswendig spielen als Übungsziel

Herzlich willkommen zur neuen Serie “Üben üben!” bei der in jeder BRAWOO-Ausgabe ein Satz zur Gestaltung bzw. Planung des Übens im Mittelpunkt steht. Die Artikel sind nach Barbara Mintos “Pyramiden-Prinzip” gestaltet: zuerst der Grundgedanke, dann nähere Erläuterungen dazu. Das hat nebenbei auch den Vorteil, dass Sie, liebe Leser, selbst bei schnellem Durchblättern die Kernaussage wahrnehmen.

“Von Anfängern […] ist es ratsam, zu jeder Stunde die sichere auswendige Beherrschung, wenn auch nur von ein, zwei Takten, zu verlangen.” Dieses Zitat stammt aus dem Buch “Modernes Klavierspiel” der be­rühmten Pianisten Karl Leimer und Walter Gieseking. Dies ist auch in digitalisierter Form bei https://books.google.de zu finden ist.

Auswendig spielen gehört in vielen Bereichen der Musik zur Normalität. Stellen Sie sich nur eine Oper oder ein Musikvideo vor, worin die Sänger mit einem Notenblatt in der Hand herumlaufen, oder eine Live-Aufführung von Mnozil Brass mit Notenhaltern auf den Instrumenten. Amüsant, nicht wahr? Achten Sie einmal auf Ihr Bauchgefühl, wenn die Solistin oder der Solist eines Instrumentalkonzerts auswendig oder nach Noten spielt. Welchen Unterschied empfinden Sie?

Ein Anfang für das Auswendig-Spielen ist eigentlich schon gemacht, denn oft werden Tonleitern und Akkordbrechungen so geübt. Und auch bei längeren Orchesterwerken spielt man Fermatentöne meist schon deshalb auswendig, weil man dann zur Dirigentin oder zum Dirigenten sehen kann.

Selbstverständlich ist auch die Fähigkeit zum Blattspiel oder “a prima vista” (auf den ersten Blick) äußerst hilfreich und für viele Musiker sogar unverzichtbar. Deshalb wäre es erstrebenswert, beides zu können: perfekt auswendig und perfekt “vom Blatt” zu spielen.

Kleinschrittige Annäherung

Doch nun sind wir wieder bei einem dieser Optimalziele, dessen sprachliche Formulierung mit der Befürchtung “Ich bin nicht gut genug” einhergeht. Damit ergibt sich aber keine dynamische Antriebs­feder für Verbesserungen, sondern ein bleierner Hemmschuh. Deshalb sei hier an die kleinschrittige Annäherung von Michael Endes “Beppo Straßenkehrer” an ein Optimalziel erinnert: “Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken… nur an den nächsten Schritt. Dann macht es Freude.”

Der Arzt und Musiker Eckart Altenmüller sagt, dass es beim Auswendig-Spielen wichtig ist, das Musikstück in verschiedenen Dimensionen zu verankern, also zum Beispiel:

  • die Musik lesen und sie mit dem inneren Ohr hören
  • sich gleichzeitig die Hand- oder Lippenbewegungen vorstellen und innerlich spüren
  • sich wie in einem inneren Film zu sehen, während man das Stück spielt (obwohl man ganz ruhig im Stuhl sitzt und die Noten vor sich liegen hat)
  • die Struktur des Musikstücks gut kennen.

Grau ist alle Theorie

Da wir schon von Goethes Mephisto wissen: “Grau, teurer Freund, ist alle Theorie”, wollen wir das jetzt ausprobieren. In Corona-Zeiten verwenden wir dazu eine Melodie, die man zweimal beim Händewaschen singen soll. Sie ist kurz, ­beginnt auftaktig mit dem fünften Ton der zu­grundeliegenden Dur-Tonleiter, endet mit deren Grundton und ist seit 2015 gemeinfrei.

Das Tor zum Auswendig-Spielen wird sich öffnen und die Motivation für “mehr davon” hervorrufen, wenn Sie “Happy Birthday” zuerst auswendig in Ihrer Lieblingstonart und dann in allen weiteren Dur-Tonarten spielen. Als Trompeter werden ­Ihnen die ersten fünf Töne dieses Liedes sogar im Largo von Schostakowitschs Sinfonie Nr. 2 in H-Dur op. 14 wieder begegnen. Und wenn das Lied sogar von diesem berühmten Komponisten verwendet wird, dann sollten wir uns nicht scheuen, es auch zu tun. Und das nicht nur beim Händewaschen.

Der Autor Jürgen K. Groh ist Master of Arts, Dirigent, Moderator und Vizepräsident der WASBE Sektion Deutschland und ist unter der E-Mail Adresse juergenkgroh@brawoo.de zu erreichen.