Die Streichquartette haben es vorgemacht. In den 1980er Jahren revolutionierte das Kronos Quartet das Image des klassischen Ensembles und wurde zum multistilistischen Pop- und Rock-Act. Heute ist die Grenze zwischen Kammer-Ensemble und Experimental-Band oft kaum mehr zu ziehen. Der angesagte Kammersound ist laut, rhythmusbetont und elektrisch. Und Bläser spielen kräftig mit in Kammer-Bands.
Geradezu der Inbegriff der amerikanischen Kammer-Band-Szene ist die Organisation Bang On A Can. Es war 1987, als drei junge Komponisten – Julia Wolfe, David Lang und Michael Gordon – einmal so richtig „auf die Kanne“ hauen wollten. Die Situation für aktuelle Avantgarde-Musik war damals eher deprimierend, erinnert sich Michael Gordon. „Es gab Konzerte und niemand kam. Das war die Welt, in der wir aufwuchsen. Unsere Lehrer sagten uns praktisch: ‚Niemand wird eure Musik spielen, niemand interessiert sich für sie, niemand wird sie sich anhören.'“
Doch die drei Yale-Absolventen wollten sich damit nicht abfinden. Es leuchtete ihnen einfach nicht ein, warum Gleichaltrige, die sich für modernen Tanz, Avantgarde-Theater oder experimentelle Poesie interessierten, nicht auch zeitgenössische Musik hören sollten. Deshalb besorgten sie sich Adresslisten von Theater- und Tanzveranstaltern. „Wir wollten Leute erreichen, die neugierig, intellektuell und kunstinteressiert sind“, sagt Julia Wolfe. „Wir wollten kein Publikum von Neue-Musik-Spezialisten.“
Neue Musik wird cool
Bang On A Can nahm seinen Anfang mit einem Zwölf-Stunden-Konzert 1987 in einer Galerie im New Yorker Downtown-Viertel SoHo. Gespielt wurde Musik von 25 verschiedenen Komponisten, von Strawinsky über Xenakis, Cage und Reich bis hin zu John Zorn und den drei Initiatoren selbst. Musik mit rhythmischer Energie, mit repetitivem Puls, mit einer Nähe zu Rock und Folk. Es war kein steifer Konzertsaal. Die Leute kamen in Jeans und T-Shirt, die Musik war greifbar wie bei einem Rock- oder Jazzkonzert. Und die Veranstaltung wurde ein großer Erfolg.
Die drei Macher fühlten sich bestätigt: Zeitgenössische Musik braucht ungekünstelte Präsentation, ein cooles Image, eine ungezwungene Atmosphäre. Dann wird sie auch gehört. „Einige Jahre lang machten wir drei alles selbst“, erinnert sich Julia Wolfe. „Wir stellten das Programm zusammen, wir wählten die Musiker aus, wir verkauften das Bier, wir putzten die Toiletten.“
Heute gilt Bang On A Can als die „wichtigste Institution zeitgenössischer Musik“ in den USA. Steve Reich, Terry Riley, Michael Nyman, John Adams, Ornette Coleman und viele andere schrieben Auftragswerke für Bang On A Can. Es gibt regelmäßige Sommer- und Wochenendfestivals, ein eigenes CD-Label (Cantaloupe) und verschiedene Förderprogramme für junge Komponisten, für interdisziplinäre Projekte oder internationale Jugendarbeit. Auch die Marathon-Konzerte gibt es noch, bei denen die Besucher jederzeit ein und aus gehen können. Sie dauern bis zu 26 Stunden. Und natürlich gibt es eigene Ensembles.
Keine Schranken setzen
Julia Wolfe erzählt: „Leute riefen uns an und sagten: ‚Ihr müsst das auch in San Francisco machen‘ oder ‚Ihr müsst Bang On A Can nach Amsterdam bringen‘. Eine Band zu bilden gab uns die Möglichkeit, mobil zu sein.“ So entstanden 1996 die Bang On A Can All-Stars. Sie sind ein Sextett – mit einer Klarinette als Führungsstimme und einer E-Gitarre als Brücke in Richtung Rock, Jazz und Ambient. „Es ist die Band, für die ich am liebsten schreibe“, sagt Wolfe. „Bei dieser Formation muss ich mir keine Schranken setzen.“
Und ihr Kollege David Lang meint: „Diese Kombination von Instrumenten gab es noch nie zuvor. Mit all den Stücken, die wir in Auftrag geben oder selbst schreiben, bauen wir ein Basis-Repertoire für diese Besetzung.“ Mehr als 20 Alben haben die All-Stars bereits eingespielt, darunter auch Musik von Brian Eno, Iva Bittová, Don Byron und Terry Riley. Seit 2013 ist Ken Thomson der Klarinettist der Band – er wurde auch als Jazzsaxofonist bekannt.
Kammer-Bands im Trend
Bang On A Can hat die Rahmenbedingungen für zeitgenössische Musik in den USA neu definiert. In Chicago zum Beispiel residiert die Formation Eighth Blackbird – ebenfalls ein Sextett, aber gleich mit zwei Bläsern (Flöte und Klarinette) besetzt. Die Band ging 1996 aus einem Kammerorchester von Studenten am Oberlin-Konservatorium hervor, wo Lisa Kaplan (Piano) und Matthew Duvall (Percussion), die beiden Leiter, schon seit 1992 zusammen musizierten. Eighth Blackbird wurden als Ensemble „in residence“ an zahlreiche Universitäten und Festivals berufen. Steve Reich, Frederic Rzewski, Jennifer Higdon, Nico Muhly und andere haben für sie neue Werke geschrieben. Es entstanden an die 20 Alben, auch mit Musik von Rockkünstlern wie Bryce Dessner, Sun Lux und Bonnie „Prince“ Billy.
Ein anderes Beispiel sind Alarm Will Sound, ein (meist) 20-köpfiges Kammerorchester mit acht Bläsern, das 2001 von Studenten der Eastman School of Music (Rochester, NY) gegründet wurde. Auch diese Formation unter der Leitung von Alan Pierson hat zahlreiche Premieren gespielt, darunter Werke von Steve Reich, John Adams, Aaron Jay Kernis und Wolfgang Rihm. Mehr als zehn Alben wurden bereits aufgenommen. Auch genrefremde Musik von Aphex Twin, Björk oder den Beatles gehört zum Kammer-Mix des Ensembles. Die New York Times schreibt: „Alarm Will Sound kommen einer Rockband so nahe, wie es einem Kammerorchester nur möglich ist.“

Bereits 1993 entstand in New York das international besetzte Absolute Ensemble, das über zehn Alben gemacht hat – mit Musik von Debussy und Schönberg bis hin zu Jimi Hendrix und Joe Zawinul. Der Gründer des Ensembles, der renommierte Dirigent Kristjan Järvi, nennt seine bläserstarke Band eine „Klassik-HipHop-Jazz-Gruppe“. Er sagt: „Stilschubladen spielen für mich keine Rolle. Es kommt einzig darauf an, dass man von der Musik berührt wird. Klassik hat unglaubliche Power, aber Rock, Jazz und Folk ebenso.“
Auch in Europa
Eine Legende unter den Kammer-Bands zwischen neuer Musik, Rock und Experiment ist die britische Formation Icebreaker, die 1989 von James Poke und John Godfrey gegründet wurde. Die Band, die rund ein Dutzend Alben aufnahm, entstand als Nachfolgerin von Hoketus, dem Ensemble des niederländischen Komponisten Louis Andriessen. Icebreaker spielen meist mit zwölf Musikern und mit elektrischer Verstärkung. Nach den Maßstäben klassischer Musik spielen sie extrem laut, ihre Auftritte werden regelmäßig mit Rockkonzerten verglichen. Zum Repertoire von Icebreaker gehören Werke von Steve Reich, Philip Glass, Michael Nyman oder Michael Gordon, aber auch Musik von Elektronik- und Experimental-Rockern wie Brian Eno und Kraftwerk. Ein Wahrzeichen der Band sind die zwei Saxofone und zwei Panflöten – sie wurden bereits von Louis Andriessen bei Hoketus eingeführt.
Zu den Kammer-Ensembles, die souverän zwischen den Genres manövrieren, gehört auch das (meist 18-köpfige) Ensemble Modern, das in Frankfurt zu Hause ist. Es entstand schon 1980 aus einer Initiative von Musikstudenten, die sich bei der Jungen Deutschen Philharmonie zusammenfanden. Das Besondere am Ensemble Modern ist, dass es ohne künstlerischen Leiter operiert – ein basisdemokratisches Modell, das sich noch dem Geist der 70er Jahre verdankt.

Alle wichtigen Orchester-Blasinstrumente sind im Ensemble vertreten: Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete und Posaune. Das Ensemble Modern stemmt jährlich rund 20 Uraufführungen und hat bereits über 150 Alben aufgenommen. Zu seinen Initiativen gehören auch die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA), das Ensemble Modern Orchestra (EMO) sowie verschiedene Konzertreihen wie „Happy New Ears“. Unter den zahlreichen interdisziplinären und genreübergreifenden Projekten waren auch Projekte mit Musik von Fred Frith, Heiner Goebbels, Ryuichi Sakamoto und Frank Zappa.