Mozart liebt man für seine anmutigen Melodien, Bach für seinen kunstvollen harmonischen Kontrapunkt. Beethovens Stärke dagegen ist der Sog, der Drive, die rhythmische Wucht.
Seine Musik „donnert auf die Zuhörer ein“, wie Karl-Heinz Ott schreibt, sie überfällt einen „sturmartig“. Unbekümmert um Harmonielehren springen und rennen Beethovens Sinfonien durch die Tonarten – abrupt, stakkatierend, mit dynamischen Kontrasten, mit synkopischem Stolpern, stockend und neu anhebend und die Einfälle aneinanderreihend wie in einer Collage. Als Startschuss genügt ihnen dabei oft ein winziges Motiv, ein Rhythmus, ein Intervall – so wie im Kopfsatz der Fünften, der sich ganz aus dem schicksalhaften „da-da-da-damm“ entwickelt. Beethovens Themen, so schrieb der Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar, seien „einfach bis zur Trivialität“ – manchmal sind es nur Akkordbrechungen. In seinen Skizzenbüchern sammelte dieser Komponist nicht etwa berückende melodische Einfälle. Er notierte kleinste rhythmische Motive.
Beethovens pochende, stampfende Motorik schien wie aus der Fremde zu kommen. Weil der Komponist auf manchen Porträtbildern sehr dunkel aussieht, hat man ihm später andalusische und afrikanische Vorfahren angedichtet. Strawinsky glaubte in Beethovens letzter Klaviersonate einen „Boogie“ zu hören. Auch der Pianist Friedrich Gulda spürte in seiner Musik eine große Nähe zum Jazz, zu Puls und Riff. Jedenfalls blies da ein ganz neuer Wind durch den Konzertsaal. Die Menuette gerieten Beethoven zu grellen Satyrtänzen, die Finalsätze zu garstigen Rausschmeißern. Unbekümmert um die Beschränkungen der Musiker und Instrumente, wurde er zum ersten echten Tondichter – absolut und rücksichtslos. Dionysos und Prometheus waren seine mythischen Leitfiguren. Die Instrumentalmusik, bis dahin nur eine nette, unverbindliche Untermalung für Gespräche, Tafel und Spiel, verlangte mit einem Mal die ganze Aufmerksamkeit der Hörer. Beethovens Musik war die Klang und Rhythmus gewordene Revolution.
Die wilden Bläser kommen!
Einen wichtigen Teil dieser Revolution bestritten die Blasinstrumente. Denn Beethovens Sinfonien führten fort, was mit der Mannheimer Schule begonnen hatte: die Emanzipation der Bläserfarben. Blasinstrumente dienten nicht länger nur der Verstärkung der Streicherklänge, sondern gingen ihre eigenen Wege in der Sinfonie. Sie bildeten Gegenstimmen zu den Geigen oder wechselten sich in Klanggruppen ab. Sie machten sich bemerkbar, sie symbolisierten Rebellion und Wildheit. Das aristokratische Publikum mochte sie nicht, denn Bläser stören bei der gepflegten Konversation, sie bringen das Gespräch zum Verstummen. Bläser machen außerdem die Orchester groß und zwingen sie weg von den Fürstenhöfen hinaus in die neuen, geräumigen Konzertsäle der Städte. Schon bei Beethovens ersten Sinfonien um 1800 klagten die Kritiker über „zu viele Bläser“. Alle Blasinstrumente im Orchester (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete) waren doppelt besetzt – so wie in Joseph Haydns allerletzten Sinfonien (1793 bis 1795).
Ein Verständnis für Blasinstrumente hatte Beethoven von klein auf erworben. Tobias Pfeiffer, der auch Oboe spielte, war einer seiner ersten Lehrer (ab 1779). Nikolaus Simrock, der spätere Musikverleger, und Anton Reicha, der in Paris das Bläserquintett-Format durchsetzen sollte, gehörten zu Beethovens Jugendfreunden – sie waren Kollegen in der Bonner Hofkapelle. Simrock spielte Horn, Reicha die Flöte. Reichas Onkel leitete die ganze Kapelle und hatte viel Erfahrung mit Harmoniemusik, dem populären Bläserformat. Reichas Vater war schon Stadtpfeifer in Prag gewesen.
Komponieren für Bläser
Früh konnte sich Beethoven daher im Komponieren für Bläser üben. An der Romanze in e-Moll (für Klavier, Flöte, Fagott, zwei Oboen und Streicher) und dem Trio in G-Dur (für Klavier, Flöte und Fagott) schrieb er schon mit 15 Jahren. Ebenfalls noch in Bonn (1792) folgten das Duo in G-Dur für zwei Flöten sowie das Rondo (Rondino) und das Oktett, beide in Es-Dur und für die übliche Harmonie-Besetzung geschrieben – zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Hörner, zwei Fagotte. Im Rondo führen die Hörner, im Oktett die Oboe, in seinem letzten Satz die Klarinette. Beide Oktettwerke entstanden für die Harmoniemusik der kurfürstlichen Hofkapelle in Bonn.

In Beethovens ersten Jahren in Wien folgten die Mozart-Variationen für zwei Oboen und Englischhorn, angeregt vom Talent der Brüder Teimer. Ebenso die Hornsonate, die Beethoven mehrfach mit Giovanni Punto aufführte, bis sie sich zerstritten. Für die „kleine“ Harmoniemusik (ein Sextett ohne Oboen) entstanden diverse Bläsermärsche und das Sextett in Es-Dur (1796), das Beethoven angeblich in einer einzigen Nacht komponiert hat. Die viersätzige Form des Sextetts und sein wilder Menuettsatz nehmen schon die Sprache von Beethovens Sinfonien vorweg. Dasselbe gilt beim Septett in Es-Dur für drei Bläser und vier Streicher (1800), das zusammen mit der 1. Sinfonie aufgeführt wurde. Beim Wiener Publikum war das Septett besonders beliebt – Franz Schubert ließ sich davon zur Komposition seines Oktetts anregen.
Sinfonien mit Bläsergeschrei
In seiner Kammermusik für Bläser erprobt Beethoven, was mit Blasinstrumenten überhaupt möglich ist, zumal sie zu seiner Zeit noch unter manchen technischen Mängeln leiden. Was er fürs doppelt besetzte Instrument schrieb, war die beste Vorübung für seine bläserstarken Sinfonien – und es bildete auch eine starke Motivation für die Instrumentenbauer, ständig Klappen, Bohrungen, Grifflöcher usw. zu verbessern.
Schon in Beethovens 2. Sinfonie (1802) hatte das Publikum den Eindruck, die zwölf Bläser wollten den Geigern den Vorrang streitig machen. Und diese wilde Power der Blasinstrumente wuchs immer weiter an. In der 3. Sinfonie kam ein drittes Waldhorn hinzu und sorgte für viel Effekt. In der 5. Sinfonie war die Bläsergruppe bereits 17-köpfig – dank zusätzlicher Pikkoloflöte, Kontrafagott und gleich drei Posaunen. Er wolle im Schlusssatz „mehr Lärm machen als sechs Pauken“, sagte Beethoven. In der 9. Sinfonie waren es schließlich sogar 19 Bläser – mehr als doppelt so viele wie in Mozarts letzten Sinfonien (1788).
Der Wucht des Bläserklangs verdanken Beethovens Sinfonien einen Großteil ihrer emotionalen Wirkung und inneren Spannung. Der orchestrale Furor und die „delirierende Raserei“ (so Berlioz über den ersten Satz der Fünften) wären ohne die Kraft, die Farben und die Lautstärke der Blasinstrumente kaum vorstellbar. Schon die 2. Sinfonie empfand man seinerzeit als „bizarr“ und „wild“, die 3. als „grell“ und „regellos“. Kritiker forderten einst sogar eine Umarbeitung und Kürzung der „Eroica“. In seinem Buch „Rausch und Stille“ beschreibt Karl-Heinz Ott das „Bläsergeschrei“ in ihrem dritten Satz – der Trauermarsch im zweiten Satz hingegen, so schreibt er, erinnere ihn an Brassbands aus New Orleans. Lautstärke und Ekstase sind das eine – Farbigkeit und starker Klangeffekt das andere. Beethovens Naturgemälde in der „Pastorale“ zum Beispiel wären ohne die Bläserstimmen nur blasse Schwarzweißbilder.

Beethoven-Spezialitäten 2020
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- Piano Pieces and Fragments. Sergio Gallo: Piano (Naxos)
- Beethoven Unknown. Matthias Kirschnereit: Piano (Berlin Classics)
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- Kaleidoscope – Beethoven Transcriptions (von Saint-Saëns, Mussorgsky u. a.). Mari Kodama: Piano (Pentatone)
- Grand Symphonies I – Quartettbearbeitung von J. N. Hummel. Uwe Grodd (Flöte), Gould Piano Trio (Naxos)