Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Bläser spielen Bachs „Kunst der Fuge“

Kunst der Fuge
Es gibt zahlreiche Einspielungen der "Kunst der Fuge".

Keine Musik wird so gerne bearbeitet, arrangiert, adaptiert und transkribiert wie die Werke von Johann Sebastian Bach. Raaf Hekkema, der Saxofonist des Calefax Reed Quintet, sagt: „Das Beste wäre, wenn die Hörer durch Arrangements ein Musikstück auf neue Weise erfahren, Aspekte wahrnehmen, die sie bis dahin nicht entdeckt hatten.“ Über die „Kunst der Fuge“.

J.S. Bachs unvollendeter Werkzyklus „Die Kunst der Fuge“ bleibt ein Mythos. Rund zehn Jahre lang hatte Bach daran gearbeitet. Doch mitten in einer Quadrupelfuge, beim Einsatz des dritten Themas – es beginnt auch noch mit den Tönen B-A-C-H –, bricht das Werk ab – Bach starb kurze Zeit später. Vollendet hat er 13 Fugen (drei- und vierstimmig), vier Kanons (zweistimmig) und ein paar Varianten. Viele Fragen jedoch blieben offen. Wie sollte die unvollendete Fuge (Contrapunctus XIV, früher: XVIII) fortgeführt werden? Hatte Bach noch eine weitere Fuge geplant? In welcher Reihenfolge sollten die Fugen erklingen? Führt man sie als Zyklus auf? In welchen Tempi und Dynamiken sollten sie gespielt werden? Und vor allem: Für welche Instrumente war die „Kunst der Fuge“ überhaupt komponiert?

Die „Kunst der Fuge“ ist alles andere als trocken und papieren.

Lange galt dieser Zyklus als ein schwieriges Spätwerk an der Grenze zur Ewigkeit, als reine Mathematik und unspielbar. Doch die „Kunst der Fuge“ ist alles andere als trocken und papieren, nämlich voller Ausdruck, Virtuosität und Musikantentum. Auch für sie gilt, was Bachs Biograf Forkel über die Bach’sche Fuge schrieb. Dass sie „Forderungen erfüllt, die man sonst nur an freyere Compositionsgattungen zu machen wagt.“

Ausgehend von einem einzigen Thema (D-A-F-D…) führt Bach hier eine breite Palette von Fugenarten und Fugentechniken vor, darunter die Gegenfuge (mit dem Comes als Umkehrung des Dux), die Doppelfuge (mit zwei Themen) und die Spiegelfuge (gespiegelter Satz). Jedes der Stücke sprüht vor Individualität und Esprit.

Erst 1924 restaurierte man den Notentext der „Kunst der Fuge“, 1927 kam es zur ersten öffentlichen Gesamtaufführung. Seitdem ist die Diskussion über die „richtige“ Instrumentierung nicht mehr abgerissen. Die einen sehen in der „Kunst der Fuge“ ein Klavierwerk – allerdings benötigt man dafür zeitweise zwei Manuale wie beim Cembalo oder der Orgel oder zwei Spieler an zwei Klavieren. Andere verstehen den Zyklus als Orchester- oder Streichermusik. Wieder andere begreifen ihn als ein Werk für verschiedene, wechselnde Besetzungen. Bach hat sich darüber ausgeschwiegen. Doch in Fragen der Instrumentierung hatte er immer Flexibilität bewiesen – er war Musikpraktiker. Der Bach-Kenner Hermann Keller gibt zu bedenken, dass die Barockzeit die Freiheit des Interpreten schätzte, „das jeweils geeignetste Instrument selbst zu bestimmen“. 

Mit vier Saxofonen

Was als Streichquartett funktioniert, lässt sich auch für vier Saxofone bearbeiten. Das niederländische Aurelia Saxophone Quartet hat den Zyklus „Kunst der Fuge“ im Jahr 2005 eingespielt. „1996 standen die Noten zum ersten Mal auf unseren Pulten – und seitdem sind sie nicht mehr weggeräumt worden.“ Willem van Merwijk, der Baritonspieler im Quartett, schrieb die Arrangements. Wo der Erstdruck (1752) von Bachs Manuskript abweicht, wählte er die „musikalisch interessantere“ Lösung.

Viele Gedanken machte sich das Quartett über eine sinnvolle dramaturgische Reihenfolge der einzelnen Stücke. Schließlich entschied man, mit den einfachen Fugen zu beginnen, dann die komplizierten zu spielen und dann die „frivolen“ (sprich: effektvollsten) Fugen. Das Quartett kultiviert einen sehr „klassischen“, körperarmen Saxofonklang. Für ein modernes Gegengewicht beauftragte man heutige Komponisten, als Hommage an Bach neue Fugen zu komponieren – sie erklingen auf der zweiten Scheibe der Doppel-CD „Fugue In C Of Dog“.

Bereits 15 Jahre früher entstand die Einspielung des Berlin Saxophon Quartett. Auch hier war der Bearbeiter der Baritonsaxofonist: Friedemann Graef. Er kann Saxofonquartetten die „Kunst der Fuge“ nur empfehlen: „Sie ist ein Schlüsselwerk in Hinsicht auf kommunikative Gestaltung der Artikulation, Balance der Dynamik und rhythmisches Zusammenspiel.“ Wegen des satten Obertonklangs der Saxofone hat sich Graef erlaubt, Oktavparallelen auszusparen.

Bachs letzte Fuge erklingt hier in ihrer unvollendeten Form und wird durch eine freie Improvisation ergänzt – die Berliner sind auch im Jazz zu Hause. Dementsprechend ist ihr Saxofonklang körperlicher und direkter. Dennoch wird im CD-Booklet zu Recht festgestellt, „dass sich der charakteristische Ton der Saxofone hervorragend zur Ausleuchtung des polyphonen Wunders der ‚Kunst der Fuge‘ eignet.“  

Calefax und der Bäcker

Klanglich vielfältiger als jedes Saxofonquartett tönt das Calefax Reed Quintet aus Amsterdam, das fünf verschiedene Holzbläserfarben verbindet: Oboe, Sopransaxofon, B-Klarinette, Bassklarinette und Fagott. „The Times“ schwärmte einmal vom „besten musikalischen Format auf diesem Planeten“. 

Bei seiner Einspielung der „Kunst der Fuge“ 1999 hat das Quintett außerdem Oboe d’amore, Englischhorn, Altsaxofon, Es-Klarinette und Bassetthorn eingesetzt. Das erlaubt eine kurzweilige Vielfalt von Klangkombinationen. In den zweistimmigen Kanons zum Beispiel hört man einmal Sopransax und Fagott, einmal Oboe d’amore und Fagott, dann Sopransax und Bassetthorn, schließlich Es-Klarinette und Bassklarinette.

Die fünf Niederländer verstehen Bachs Musik praxisnah. „Für Calefax hat eine vorgeschriebene Instrumentierung ohnehin keine prädeterminierende Bedeutung“, meint ihr Fagottist Alban Wesly. „Wir wollten Bach einfach spielen und, wenn nötig, seine Musik an die vorhandenen Instrumente anpassen, so wie er das auch gemacht hat. Der beste Bäcker der Stadt wünscht sich vor allem eines: dass sein Brot gegessen wird.“ [Bachs Vorfahren waren Bäcker, daher der Name Bach.] Wo es den Calefax-Musikern sinnvoll schien, haben sie sogar fünf Stimmen gesetzt. Wesly zieht das Fazit: „Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass sich die Bearbeitung polyphoner Musik durchaus lohnen kann, weil so jede Stimme zu einer ganz eigenen Klangfarbe gelangt.“

Calefax Reed Quintet (Foto: Rob Marinissen)

Bläser, unter anderem

Das Neue Bachische Collegium Musicum Leipzig machte seine Einspielung der „Kunst der Fuge“ bereits zu DDR-Zeiten (1983/84). Interessanterweise versuchte man damals, durch wechselnde Besetzungen dem Charakter jeder Fuge gerecht zu werden. Die Instrumentierungen reichen vom Orgelsolo und Cembalo-Duett über diverse Kammerformationen bis hin zum Streichorchester. Für den Einstieg (Contrapunctus I) wählte man noch eine Besetzung aus Bachs Zeit, ein Gambenquartett mit Violone. Dann jedoch folgen moderne Instrumente, darunter auch Holzbläser. Zu den interessantesten Instrumentierungen gehört ein Bläserquartett aus Oboe, Englischhorn und zwei Fagotten mit einem Kontrabass oder mit Streichorchester. In einer der Spiegelfugen und in der unvollendeten letzten Fuge werden auch verschiedene Instrumentengruppen gegeneinander gesetzt. Max Pommer, der Dirigent des Ensembles, schreibt: „Jede Stimme einer Fuge wurde, wie auf der Orgel, einmal ‚registriert‘ und so bis zum Schluss durchgeführt; es gibt also keine Änderungen innerhalb eines Stückes.“

Quasi eine Umkehrung des Bläserquartetts mit Kontrabass verfolgt das Ensemble L’Arte della Fuga. Nämlich ein Streicherquartett (Violine, Viola, Cello, Kontrabass) mit Fagott. Der Autor dieser Fassung, der Cellist Hans-Eberhard Dentler, meint, diese Instrumentierung gewähre „nicht nur absolute Partiturtreue, sondern auch künstlerische Kohärenz“. Sie habe nichts mit historischer Aufführungspraxis zu tun, verzichte aber auf jede Art von Bearbeitung. Nach einer komplexen philosophischen Analyse von Bachs Spätwerk hat Dentler den geforderten Instrumententypus aus der jeweiligen Stimmführung geschlossen. Das Fagott spielt der Italiener Francesco Bossone. Dentlers Buch über „Die Kunst der Fuge“ (Untertitel: „Ein pythagoreisches Werk und seine Verwirklichung„) erschien 2004 im Schott-Verlag.