Orchestra | Von Klaus Härtel

Blended Learning. Manuel Epli über ein neues Konzept

Blended Learning

Gibt es in der Dirigentenausbildung Dinge, die man “online” effektiver hinbekommt als “in Präsenz”? Ganz sicher, findet Manuel Epli, der beim Musikbund von Ober- und Niederbayern einen neuen Weg des “Blended Learning” eingeschlagen hat. Dass und wie das funktioniert, erklärt er im Interview.

Als Sie 2019 den Dirigierkurs des Musik­bundes von Ober- und Niederbayern (MON) als Hauptdozent übernommen haben, begannen Sie mit dem Aufbau einer Online-Akademie. Was hat Sie dazu bewogen?

Bevor ich beim Dirigierkurs des MON einge­stiegen bin, haben mich einige inhaltliche, didaktische und methodische Fragen beschäftigt. Eine davon war die, wie es uns gelingen kann, dass wir die Inhaltstiefe des Kurses verbessern können. Das Niveau und die Anspruchshaltung der Musiker nehmen seit Jahren zu, was dazu führt, dass sich auch die Ausbildung der Dirigenten ändern muss. Eine große Herausforderung ist dabei das Thema Zeit. Die angehenden Dirigenten von Amateurorchestern sind meistens äußerst motiviert, können aber beruflich bedingt oftmals nicht mehrere Wochen pro Jahr für Praxis­phasen an einer Musikakademie freinehmen.

Andererseits ist eine Kursdauer von drei bis vier Wochen eine viel zu kurze Zeit für die Vermittlung des Wissens, das ein Dirigent heute braucht. Aus diesem Grund haben sich Franz Kellerer als Verbandsdirigent des MON, Andreas Horber, Geschäftsführer des MON, und ich für die Einführung eines Blended-Learning-Konzepts entschieden (siehe Tabelle 1). Dabei haben wir die Unterrichtsfächer des Dirigierkurses in die Bereiche “Online” und “Präsenz” aufgeteilt sowie zusätzliche Zeit für die Wissensvermittlung und Freiräume für die Teilnehmer in den Praxisphasen geschaffen. 

Blended Learning, heißt es im Lexikon, “zielt als Lernorganisation darauf ab, durch die geeignete Kombination verschiedener Medien und Methoden deren Vorteile zu verstärken und die Nachteile zu minimieren”. Wie sind Sie darauf gekommen, dass das für den Dirigierunterricht eine perfekte Organisationsstruktur ist? Denn “Dirigieren” ist ja doch in erster Linie analog und präsent, oder?

Die Vermittlung der Schlagtechnik ist sicherlich etwas, was in erster Linie in Präsenz und in einer Praxisphase stattfindet. Das Vermitteln der Schlagtechnik ist ohne Frage auch wichtig. Es handelt sich dabei aber nur um einen Baustein von vielen. “Dirigieren” – im Sinne von “Leitung eines Blasorchesters” – ist etwas sehr Vielschichtiges, was gerne vergessen wird. Die ganz­heit­liche Ausbildung eines Dirigenten beinhaltet ­dabei auch Themen wie Orchesterschulung, Probenmethodik, Orchesterführung, Gestaltungslehre, Instrumentation, Gehörbildung, Formenlehre, Musikgeschichte, Literaturkunde, Pro­gramm­gestaltung, Partiturstudium, Intonationsarbeit, Wertungsspielvorbereitung, Bühnenverhalten, mentales Training, das Probedirigat, die Höranalyse von Werken und vieles mehr. Und für diese Themen ist “analog und präsent” nicht ­immer das ideale Unterrichts-Medium.

Welche Bestandteile gehören also zuerst in den Online-Unterricht und was ist der Vorteil davon? 

Für mich gehören alle die Fächer in den Online-Unterricht, bei denen ein geringer Interaktionsgrad zwischen dem Teilnehmer und dem Dozenten nötig ist. Gleiches gilt für die Inhalte, bei denen zunächst ein Wissenstransfer stattfinden muss, bevor das Wissen dann in der Praxis angewendet werden kann (siehe Tabelle 2).

Nehmen wir zum Beispiel einmal das Transpositionstraining. Schnell und sicher transponieren zu können ist das “kleine Einmaleins” der Blasorchesterdirigenten. Das ist aber nichts, was in jeder ersten Praxisphase des Dirigierkurses in Präsenz unterrichtet werden muss. Aus diesem Grund habe ich dazu fünf Erklärvideos aufgenommen, in denen die fünf Transpositionsklassen im Detail erklärt werden. Außerdem können sich die Teilnehmer eine übersichtliche Grafik mit den unterschiedlichen Transpositionsebenen herunterladen. Damit ist die Wissensvermittlung abgeschlossen. Jetzt ist es nicht so, dass jeder Teilnehmer nach der reinen Wissensvermittlung sofort jede Transpositionsaufgabe innerhalb von einer Sekunde lösen kann. Aus diesem Grund gibt es zu allen Transpositionsklassen in der Online-Akademie über 1000 Übungsaufgaben, die auch direkt online ausgewertet werden. Damit kann jeder Teilnehmer das Transponieren so ­lange üben, bis er es sicher beherrscht. Und zwar in seinem Tempo und zu dem Zeitpunkt, der für ihn persönlich passt.

Das war jetzt ein Beispiel zum Thema “geringer Interaktionsgrad”. Haben Sie auch ein Beispiel, bei dem zuerst Wissen vermittelt werden muss?

Ein Thema, bei dem zuerst ein Wissenstransfer stattfinden muss, bevor man in der Praxis damit arbeiten kann, ist zum Beispiel die Orchesterschulung. Dirigieren wird oftmals auf die Art “mach mal und dann korrigiere ich dich” unterrichtet. Das heißt, der Lernende wird “ins kalte Wasser” geworfen und bekommt dann hinterher Input vom Dozenten. Als Studienrat finde ich das sehr fragwürdig. Ich denke, dass es wichtig ist, dass Teilnehmer zuerst Input bekommen und die vermittelten Inhalte dann lernen, verinnerlichen und wiederholen. Nach der Wissensvermittlung (= Kennen) und dem Lernen des Wissens (= Können) folgt dann die Anwendung des Wissens in der Praxis (= Tun).

Also “Information first, Action second”, wenn man so will?

Ja, genauso ist es. Man braucht bei einem Dirigierkurs keinen Teilnehmer vor ein Orchester zu stellen, solange er zum Beispiel die Standard­situatio­nen der Orchesterschulung noch nicht beherrscht. Das ist ungefähr so, als wenn man versuchen würde eine Sprache zu sprechen, ohne die Vokabeln zu können. Das wird auch nicht wirklich funktionieren. Darum gibt in der Online-Akademie für die Teilnehmer zum Beispiel einen Onlinekurs mit 47 Videos, in denen alle Standardsituationen der Orchesterschulung im Detail erklärt werden. Die Teilnehmer können diesen selbstständig durcharbeiten, sich ihre Lernmomente in ihrem Workbook notieren, über ein Formular ihre persönlichen Fragen an uns stellen und mit den “Ich-kann-Fragen” die Standardsituationen dann wiederholen und lernen. Danach folgt in der Probenarbeit in den Präsenz-Phasen an den Musikakademien in Marktoberdorf oder Alteglofsheim die Übertragung des Wissens in die Praxis.

Also müssen Präsenz- und Online-Phasen funktional aufeinander abgestimmt sein? Wie gehen Sie hier vor?

Eine wichtige Frage ist hier: Was müssen die Teilnehmer vor der jeweiligen Praxisphase lernen, damit einerseits das Dozententeam mit ­ihnen dort gut arbeiten kann und andererseits die Teilnehmer für sich das Maximum »mitnehmen« können? Für die Praxisphase 1 heißt das zum Beispiel, dass die Teilnehmer zunächst einmal transponieren können müssen. Dann spielen noch die Standardsituationen der Orchesterschulung (Technik, Rhythmik, Zusammenspiele und Dynamik) sowie die Grundprinzipien der Probenmethodik und Orchesterführung eine Rolle.

Wenn die Teilnehmer dieses Wissen verinnerlicht haben, sind sie gut auf die erste Praxisphase vorbereitet. Hier gehen wir dann gemeinsam die ersten Schritte im Bereich der Schlagtechnik. Die Teilnehmer dürfen dann das erste Mal ein kleines Ensemble leiten und die vermittelten Inhalte in der Praxis anwenden, zusammenfügen und üben. Der Vorteil dabei ist, dass die Teil­nehmer so schneller rund stressfreier voran­kommen, da die Wissensvermittlung vor dem Orchester entfällt und es in dieser Situation “nur” noch um das Anwenden der vermittelten Inhalte geht.

Wie schwer ist es, angehende Dirigenten von dieser Idee zu überzeugen? Denn auch wenn das Internet nun wirklich kein “Neuland” mehr ist, gibt es da doch sicherlich hin und wieder Vorbehalte, oder?

Die Erfahrung aus dem letzten Kurs, in dem wir unser Blended-Learning-Konzept zum ersten Mal umgesetzt haben, zeigt, dass die Teilnehmer sehr offen sind. Die meisten sind äußerst motiviert und wollen im Dirigierkurs für sich selbst maximal viel lernen. Von daher ist es in der Regel nicht schwer, die Teilnehmer von unserem neuen Konzept zu überzeugen, da sie damit einfach eine ganz andere Wissenstiefe erreichen. Durch Corona hat sich das Internet als Plattform der Wissensvermittlung auch noch stärker etabliert. Als ich 2020 mein erstes großes Zoom-Meeting veranstaltet habe, musste ich noch eine Anleitung für Zoom verschicken. 2021 ist das nicht mehr nötig…

Mit welchen Schwierigkeiten haben Sie zu kämpfen?

Eine Herausforderung ist, dass der Dirigierkurs zweimal pro Jahr beginnt und damit immer mehrere Kurse parallel laufen. Das führt dazu, dass in den Praxisphasen in Marktoberdorf bzw. Alt­eglofs­heim ein Teil der Teilnehmer in Phase 1, ein anderer Teil in Phase 2 und ein weiterer Teil in Phase 3 oder 4 sein kann. Das führte schon vor der Einführung des Blended-Learning-Konzepts zu einer gewissen organisatorischen Herausforderung, zum Beispiel bei der Erstellung des Stundenplans. Gleichzeitig sind wir uns im Dozententeam aber auch darüber einig, dass die Vorteile des Konzepts überwiegen, weil die Teilnehmer so auch viel voneinander lernen können. Darum wollten wir das auch im Blended-Learning-Konzept unbedingt beibehalten.

Mit der Einführung des Blended-Learning-Konzepts hat sich die angesprochene Problematik nur noch weiter verschärft, da es hier jetzt zahlreiche ­Aufgaben gibt, die regelmäßig wöchentlich an­fallen: Module in der Online-Akademie frei­schalten, Aufgaben per Mail an die Teilnehmer verschicken, Musterlösungen in der Dropbox hochladen, Einladungen zu Zoom-Sessions verschicken, Workbooks mit der Post verschicken etc. Da hier schnell die Gefahr droht, den Überblick zu verlieren, haben wir eine IT-Lösung ­umgesetzt, mit der das Ganze jetzt komplett automatisiert abläuft (siehe Abbildung unten). Damit können wir uns im Dozententeam auf die Weiterentwicklung und Verbesserung der In­halte und auf die Betreuung der Teilnehmer fokussieren und sind nicht mit dem Verschicken von Mails, Workbooks, Arbeitsblättern, Musterlösungen, Übungsaufgaben etc. beschäftigt.

Blended Learning
Welche positiven Ergebnisse können Sie nach der Einführung verzeichnen?

Bereits bei der ersten Praxisphase mit unserem neuen Konzept haben wir festgestellt, dass die Vorbereitung der Teilnehmer auf den Dirigierkurs wesentlich besser war. Es war einfach ein anderes Wissensniveau. Viele Teilnehmer sind vom Umfang des Materials (Online-Kurse, Zoom-­Sessions, Workbooks, Übungsaufgaben, Checklisten, Skripte, Taschenkarte etc.) und von der Möglichkeit, selbst den Zeitpunkt und den Ort des Lernens zu bestimmen, begeistert. Da das Vorwissen und das Alter der Teilnehmer unterschiedlich sein können, loben viele auch die Möglichkeit, die Online-Kurse und das Begleitmaterial im eigenen Lerntempo durcharbeiten zu können. Mich persönlich freut am meisten, dass wir uns in den Praxisphasen vor Ort jetzt voll auf das Kerngeschäft “Dirigieren und Proben” fokussieren können und für Fächer wie Orchesterschulung, Probenmethodik, Formenlehre oder Musikgeschichte keine wertvolle Präsenz-Zeit mehr “verschwenden” müssen. Die Ziele, die wir uns bei der Einführung des Blended-Learning-Konzepts gesetzt haben, sind damit mehr als erreicht.

Manuel Epli

Manuel Epli 

studierte Dirigieren am Vorarlberger Landeskonservatorium sowie
an der Kunst-­ und Musikhochschule von Arn­heim, Enschede und Zwolle (Nieder­lande). Er beendete dieses Studium mit dem Bachelor of Music. An der Musikuniversität Mozarteum Salzburg schloss er sein Dirigierstudium mit dem Master of Arts ab. Epli studierte zudem Mathematik, Informatik, Pädagogik und Psychologie und unter­richtet heute als Studienrat an der Friedrich-­List-­Schule Ulm.

manuelepli.de