Mit Kreativität haben wohl alle Künstler zu tun. Zumindest dürfte Kreativität von Vorteil sein. Aber auch die Disziplin kennt jeder. Sei es die Disziplin des Übens, die Disziplin beim Auftritt oder auch die Selbst-Disziplin beim Essen etwa. Über all das haben wir uns mit Stefan Temmingh unterhalten.
Wir treffen den südafrikanischen Blockflötisten Stefan Temmingh in einem Münchner Café. Er wohnt ganz in der Nähe, ist etwas erkältet. Stefan Temminghs Repertoire umfasst nahezu die komplette Originalliteratur der Barockzeit für Blockflöte. Seine jüngste Einspielung sind die kompletten Blockflötenkonzerte von Antonio Vivaldi.
Repertoire von Alter bis hin zu Neuer Musik
Temminghs Engagement aber reicht weiter, von Alter bis hin zu Neuer Musik. Regelmäßig spielt er auf der einen Seite barocke Concerti und auf der anderen Uraufführungen zeitgenössischer Blockflötenkonzerte. Gerade diese Tatsache verleitete zur Vermutung, dass da einer zum Thema »Disziplin vs. Kreativität« viel zu sagen hat.
Das Bild vom chaotischen Künstler, der emotional sprunghaft ist, spielerisch und bedürfnisorientiert, sei veraltet, findet Temmingh. »Der Künstler von heute kann sich das schlicht nicht leisten. Kreativität erfordert Disziplin.« Der kreative Prozess brauche Regeln und Disziplin. So lang die Idee nicht niedergeschrieben, einstudiert und umgesetzt wird, bleibt es eben eine Idee.
Kreativität als Folge von Langeweile?
Stefan Temmingh verweist auf Studien, nach denen Kreativität vor allem als Folge von Langeweile entsteht. Er führt das klassische Lego-Beispiel an: »Das Kind baut nach Anleitung etwas aus Legosteinen.« Eltern wird das bekannt vorkommen: Wenn das Objekt dann fertiggestellt ist, ist dem Kind schnell langweilig.
Die Frage »Mama, was kann ich machen?« kennt jeder. Stefan Temmingh: »Und hoffentlich kauft die Mama dann nicht gleich die nächste Packung, denn es ist ja genug Lego da. Dann nämlich fängt das Kind an, aus der Langeweile heraus darüber nachzudenken: ›Was kann ich jetzt machen?‹« Das Kind setzt sich hin und baut etwas Neues. Dem Musiker geht es da nicht viel anders. »Wenn ich eine Idee habe, resultiert die oft daraus, dass mich irgendetwas langweilt.«
Kreativität und Barockmusik
Das aktuelle Vivaldi-Projekt sei vermutlich das Projekt, an dem er am längsten gearbeitet habe, erzählt der Musiker. Das Repertoire, vielfach gehört, hat ihn immer wieder beschäftigt. »Mich fasziniert Vivaldi als Komponist, aber auch, wie er mit der Blockflöte umgegangen ist, was seine Werke bedeuten. Dieser Prozess dauert an, seit ich ein Teenager bin.«
In dem Fall entsprang die Aufnahme weniger einer Idee, sondern vielmehr dem Wunsch, dies endlich zu tun. »Es ist das Kernrepertoire und das schwierigste, was es überhaupt gibt«, weiß Temmingh. »Es war der Wunsch, meine Interpretation zum Klingen zu bringen.«
Wie viel Kreativität aber lässt Barockmusik zu? Kreative Freiheit hat dabei durchaus eine Rolle gespielt. »Je weiter man in der Musikgeschichte zurückgeht, desto mehr Freiheiten hat man. Bei einer modernen Partitur von Boulez zum Beispiel ist es viel deutlicher, was man machen muss. Bei Vivaldi gibt es vielleicht ein paar dynamische Hinweise – das war’s.
Wenn man sich aber intensiv mit der Musik auseinandersetze, werden die Interpretationsmöglichkeiten immer enger und enger und enger.« Da gehe es gar nicht zwingend um Disziplin, sondern vielmehr um Respekt. Wenn beim »c-Moll-Konzert« allegro non molto stehe, dann könne man das nicht zu schnell spielen. »Das ist sonst eine Shownummer, das ist Klamauk.« Und das erfordere keine Disziplin. An erster Stelle stehe die Musik und nicht der Drang zur Selbstdarstellung.
Kreativität und Bearbeitungen
Kreativ ist Stefan Temmingh auch bei Bearbeitungen von Werken für sein Instrument. Doch natürlich gebe es hier Grenzen. Oberste Prämisse ist für den Künstler: »Wird das Werk darunter leiden, wenn man es bearbeitet?« Er lacht.
Und wenn die Antwort auf diese Frage auch nur ein »Jein« sei, lasse er es gleich bleiben. »Das Werk muss in seiner Aussage immer noch sehr deutlich zu sehen sein.« Das Werk unter einer Bearbeitung leiden zu lassen, sei schlicht eine Sünde.
Kreativität und Blockflöte
Wir kommen auf das Instrument zu sprechen. Während die Blockflöte bereits im 14. Jahrhundert zu den wichtigsten Holzblasinstrumenten zählte und im Barock neben einer höheren Anforderung an die Virtuosität und ein anderes Klangspektrum erforderlich wurde, wurde sie im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts von der klanglich stärkeren und im Zusammenspiel mit den erweiterten Orchestern durchsetzungsfähigeren Querflöte verdrängt.
Erst heute kehrt die Blockflöte wieder vermehrt ins Bewusstsein zurück. In ein Bewusstsein wohlgemerkt, das über das »typische Anfängerinstrument« hinausgeht. Wie viel Kreativität aber lässt die Blockflöte zu? »Ich glaube, die Blockflöte lässt nicht weniger oder mehr Kreativität zu als andere Instrumente auch«, denkt Stefan Temmingh.
»Was problematischer ist: Wie viel Kreativität lässt das Konzertwesen zu?« Interessante Programme seien leider Mangelware. Es erfordere eben auch Mut der Veranstalter. Ein ECHO Klassik sei natürlich ein guter Ansporn für Veranstalter, mal genauer hinzuschauen. Andererseits sei das gar nicht mal auf die Blockflöte beschränkt: »Wie viele Klarinettenkonzerte kann man pro Jahr in München hören? Vielleicht ein paar mehr als für Blockflöte – aber riesig ist die Auswahl auch nicht.«
Disziplin und Bühnenpräsenz
Über Stefan Temmingh heißt es: »Seine Expressivität, sein kraftvoller Klang und seine lebendige Bühnenpersönlichkeit bescheren ihm allerorts Standing Ovations und haben ihn an die Weltspitze der Blockflötisten getragen.« Über seine Bühnenpräsenz aber, gibt er zu, mache er sich eigentlich keine Gedanken.
»Ich bin da nicht irgendwie in einem Tunnel. Ich bin voll und ganz da.« Und im Grunde wisse er schon vorher, ob es auf der Bühne klappt – oder eben nicht. »Denn Vorbereitung ist alles!« Hier spiele dann die Disziplin eine nicht unerhebliche Rolle.
»Wenn ich nicht vorbereitet bin, ist das der größte Horror für mich.« Wichtig sei, die Musik im Blick zu haben – ob in der Probe oder im Konzert. »Meine Studenten denken ja immer, dass auf der Bühne etwas völlig anderes passiert. Dem ist nicht so!«
Kreativität und Kochen – Disziplin und Essen
Wenn Stefan Temmingh abschalten will, dann kocht er. Das tut er leidenschaftlich gern und dabei lässt er seiner Kreativität freien Lauf. Da geht es dann um mehr als Grillen – wenngleich das in Südafrika einem Volkssport gleichkommt. Kochbücher sind seine Sache nicht.
»Natürlich kann ich dort hineinschauen und exakt so nachkochen«, zuckt er mit den Schultern. Spannender – und kreativer – sei es aber doch, zu schauen, was da ist und was man daraus machen kann. Disziplin spielt dabei auch eine Rolle: »Diszipliniert muss ich sein, damit ich nicht zu viel esse!« Stefan Temmingh lacht und verabschiedet sich. Er muss noch üben.
Stefan Temmingh

Bereits mit seinem hochgelobten Debüt »Corelli à la mode« gelang es ihm, die Grenzen von Repertoire und Klang zu sprengen. Seine CDs mit der Sopranistin Dorothee Mields »Inspired by Song« und »BIRDS« (beide SONY/dhm) wurden von der Presse bejubelt, vielfach ausgezeichnet und führten 2016 zur Verleihung des renommierten ECHO Klassik.
Seine neue Vivaldi-CD wurde 2018 mit einem International Classical Music Award, der Editor’s Choice von Gramophone und dem Diapason d’or als »die neue Referenz für dieses Repertoire« ausgezeichnet.
Als Spezialist für Alte Musik tritt Stefan Temmingh international bei renommierten Festivals und Konzertreihen mit seinem Barockensemble »The Gentleman’s Band« auf. Als Solist gastiert er mit verschiedenen Barock-, Kammer- und Sinfonieorchestern in Europa, Asien und Afrika, die er teilweise auch selbst leitet.
Er initiiert und beteiligt sich auch an diversen Projekten und Uraufführungen von Neuer Musik. Immer wieder wird er mit dem legendären Frans Brüggen verglichen. Seit 2010 hat er einen Lehrauftrag an der Münchner Musikhochschule.