Brass | Von Peter Mußler

Bobby Shew im Gespräch: Weisheiten einer Legende

Bobby Shew
Bobby Shew (Foto: Yamaha Music Europe GmbH)

Elder Statesman, Pate, Großmeister oder in Adaption eines aktuellen Modebegriffs vielleicht sogar „Influencer von Weltformat“? Wie soll man einen wie Bobby Shew nennen, der als Intellektueller, Forscher, Philosoph, Theoretiker und praktischer Lehrer direkten Einfluss auf die Spielweise so vieler Trompeter wie wahrscheinlich kein anderer zuvor nahm? Wir trafen den legendären wie bescheidenen Mann, der es bevorzugt, einfach „Bobby“ genannt zu werden, in Wien.

Nächstes Jahr wird Bobby Shew 80 Jahre alt. Lange schon hat er die 60 Jahre ­Berufsleben überschritten, denn bereits als Teenager begann er, professionell Musik zu machen. Seine Selbsteinschätzung: „Mein Karriere war anständig.“ Bescheidenheit ist offensichtlich Teil seines Charakters. Aber auch Demut.

So scheint selbst die Hüftfraktur vor zwei Jahren die Dankbarkeit für das gelebte Leben nicht ernsthaft trüben zu können, genauso wenig die künstlichen Kniegelenke, die momentan die Rehabilitation erschweren. Bobby Shew akzeptiert die Eckpfeiler der menschlichen Existenz, die für alle gleich sind: „Die USA werde ich wahrscheinlich nicht mehr verlassen können.“ Umso dankbarer ist der Autor dieses Artikels, dass er den Großmeister noch einmal persönlich treffen, mit ihm essen und ausgiebig plaudern konnte.

Lead Player, Solist, Studiomusiker und Lehrer ersten Ranges

Bobby Shews Vita braucht hier nicht noch einmal en détail wiedergekäut zu werden. Über ihn gibt es viel zu lesen, zu sehen und zu hören. Auf ­jeden Fall ist er einer der ganz wenigen, die auf eine Karriere als Lead-Trompeter von Weltrang zurückblicken können (unter anderem bei Woody Herman und Buddy Rich), aber ebenso auf eine Karriere als Jazz-Solist ersten Ranges und die sich obendrein auch als Studiomusiker auf unzähligen Aufnahmen verewigt haben. 

Plus: Der Mann mit weißem Bart ist der Inbegriff des magister magistrorum, des Lehrers aller Lehrer. Unter seinen Schülern finden sich viele klingende Namen: Roger Ingram, Andy Haderer, Till Brönner oder Ingolf Burkhardt sind nur einige davon. Und viele von ihnen haben selbst wieder unzählige Studenten ausgebildet. Man darf sich sicher sein: Hätte es das Internet früher ge­geben – Bobby Shew wäre noch bekannter und viele Ideen, die heute als Gemeingut gelten, noch deutlich klarer mit seinem Label versehen. Möglicherweise wäre YouTube sein Medium geworden und das globale Leistungsniveau unter Trompetern heute noch einmal deutlich höher.

Was Bobby Shew zu einem der größten Lehrer der Trompetengeschichte machte? Wohl auch, dass er sich selbst noch immer als Schüler bezeichnet – und das nach mittlerweile deutlich mehr als einem halben Jahrhundert. Dem Trugschluss, zu glauben, er wisse alles, erlag er – so wirkt es im Gespräch – bis heute nicht. Das ist vorbildlich, nicht nur für alle Trompeter, sondern für alle Lehrenden und Forschenden.

Bobby Shew – ein Naturtalent

Wenn die Demut gegenüber dem Nichtwissen eine wichtige Eigenschaft des Entdeckers ist, so ist es für einen herausragenden Lehrer fast schon das Nichtkönnen: Shew selbst musste aber gar keine großen Hürden nehmen. „Ich ­hatte schon immer ein gutes Ohr und konnte einfach alle Songs nachspielen, die ich hörte.“ Der perfekte Ausgangspunkt für jeden Musiker – und für einen Jazzer sowieso. 

Doch auch Höhe und Ausdauer schienen dem jungen Bobby keine Probleme zu bereiten. Bereits mit 13 Jahren spielte er in verschiedenen Tanzorchestern seiner Heimat, gewissermaßen als Teil einer Jukebox aus Fleisch und Blut. Jeder, der Tanzmusik macht, weiß, das ist an­strengend. Talentiert also, aber in jungen Jahren natürlich auch unschuldig: „Man hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, in einer Tanzband zu spielen. Ich war erst skeptisch und ant­wor­tete: ‚Ich kann nicht tanzen.'“

Ein Beobachter, Denker und Forscher – aber kein Dogmatiker

Wenn man sich ansieht, was Shew sagt und in seinen zahlreichen Artikeln (sowohl als Gast­autor als auch auf seiner eigenen Webseite) veröffentlicht, wird deutlich, dass er ein Empiriker ist. Er dreht an allen Stellrädern und -rädchen und beobachtet stets die Auswirkungen auf sein Spiel. Das fängt bei der Trompete an (klar!) und hört bei der Marke des Wassers auf, das er im Supermarkt kauft (echt jetzt?). Ehrlich gesagt würde man jeden anderen für verrückt erklären, der solch marginale Komponenten für relevant erklärt. Bei Shew könnte man ins Grübeln kommen.

Trotz wenig Schlaf
hat sich Bobby Shew viel Zeit für die Beantwortung der vielen Fragen genommen.

Neben ihm saßen bereits ganze Generationen von Schülern, er hat ihre Probleme studiert, ihre Fehler analysiert und ihnen natürlich auch Hilfestellung gegeben, also Lösungswege aufgezeigt, Angebote gemacht und Ideen geliefert. Anordnungen oder gar Versprechen gibt er bis heute nicht.

Die vier Grundpfeiler des Trompetenspiels nach Bobby Shew

Für das erfolgreiche und in der Folge dann auch freudvolle Trompetenspiel braucht es laut Bobby Shew ein Fundament, das vier Bereiche umfasst:

1. Das Lippengefühl

Was sich sehr vage anhört, ist eigentlich jedem Trompeter beziehungsweise Blechbläser bekannt: Man spürt bereits vor dem ersten Ton, ob der Tag aus Trompetersicht ein guter wird. Wie fühlen sich die Lippen an? Sind sie taub, geschwollen oder frisch? Schwingungsbereit oder wenig flexibel? Wichtig ist, dass man einen schlechten Zustand nicht einfach hinnimmt, sondern seine Lippen in guten Zustand versetzt. Mehr dazu aber beim Thema Warm-up.

2. Die Luftversorgung

Bobby Shew spricht von „abdominal support“. Wenn man das exakt übersetzen möchte, kommt man um das Wort „Stütze“ nicht herum (genauer: „Rumpfstütze“), und dieses geistert schon lange durch Unterrichtszimmer und Probenlokale ohne den Ruf, nie verstanden worden zu sein. Shew ist der Vater der sogenannten „wedge breath“ (übersetzt: „Keilatmung“), die in ihrer Komplexität für sich bereits als Beweis für seinen analytischen Zugang zu sehen ist. Kurz: Es muss genügend „gute“ Luft bereit­stehen. Interessantes Faktum: Als Kind konnte Bobby Shew nicht richtig atmen. Die Trompete half ihm quasi bei der Genesung!

3. Kontrolle der Lippenöffnung

Nennen wir es „die Düse“: Die Lippenöffnung bestimmt den Klang zu großen Teilen und ist auch wichtiger Teil des Systems, das für die ­Tonhöhe verantwortlich ist. Minimalste Ver­änderungen machen den Unterschied. Der Trompeter muss die Lippenöffnung also unbewusst steuern können (Stichwort Kinästhesie), um dieses Steuerungsvermögen dann bewusst einzusetzen.

4. Das Mundstück

Shew hat einen ganzheitlichen Blick auf das Trompetenspiel und behauptet deshalb nicht, dass nur Psyche und Physis das Spiel bestimmen. Das Mundstück als wichtigste Hardware-Komponente trägt ebenfalls einen großen Teil zum Gelingen oder Scheitern bei und muss daher zum Spieler und den Anforderungen der ­Musik passen.

How to feel good: Warm-up-Tipps von Bobby Shew

Einen Tipp, den Bobby Shew an diesem Nachmittag noch gibt, hat der Autor vor Jahren von Bryan Davis gehört, einem Shew’schen Schüler-Schüler: „Speichere ein gutes Gefühl!“ Das meint den gesamten Kontext des Musizierens von der Bühnen- oder Studiosituation (also Freude statt Angst) bis hin zum frischen Lippen­gefühl (ausgeruht statt abgespielt).

Apropos Lippen: Die Tonerzeuger sind sehr wichtig und erhalten bei Bobby Shew bereits vor dem Spielen viel Aufmerksamkeit. Dabei beginnt er mit echter Lippen- und Gesichtsakrobatik, sprich: er zieht Grimassen. Danach folgt das sogenannte Fluttering oder Free Buzzing, also das „Brummen“ ohne Ansatzmaske. Damit beide Wangen und Mundwinkel richtig aktiviert und beweglich werden, hält er eine Seite mit der Hand fest, um die andere isoliert zu bearbeiten.

Buzzing à la Bobby. Seine Oberlippe ist fein säuberlich da rasiert, wo das Mundstück aufliegt.

Daraufhin folgt das Buzzing – jedoch nicht ganz frei, da dies mit der echten Spielsituation nichts zu tun hat. Shew benutzt zwei Finger, um den Mundstückrand zu simulieren. Es schwingt dann nur der innere Teil. Wer es ausprobiert, wird sofort merken, wie sich die Tonhöhe dank der Finger verändert. Länger als 15 Sekunden sollte man das aber nicht machen, rät der Mann mit der großen Erfahrung.

Zu guter Letzt geht es natürlich an die Trompete. Das G1 ist der Ausgangspunkt für Ausflüge nach oben und unten, bis die übliche Range abgesteckt ist.

Bobby Shew und das Shew-Horn

Bobby Shew arbeitet seit Anfang der 90er Jahre mit Yamaha zusammen. Sein Nachname – der übrigens von seinem Stiefvater stammt, aber sehr passend erscheint, da er laut eigener Aussage die altenglische Bezeichnung für fahrende Spielleute war – wurde zu einem Synonym für die Trompeten, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden: Wer eine 6310Z oder 8310Z (von welcher unlängst eine neue Generation vorgestellt wurde) bläst, der spielt auf einer „Shew“.

Beide Modelle dürften Dauerbrenner sein und sind allerorten anzutreffen. Die Trompeten sind sehr vielseitig und leichtgängig. Dazu kommt ein eigenes Flügelhorn (YFH-8310Z) und Mund­stücke – sowohl von Marcinkiewicz als auch von Yamaha. Bobby Shew zufolge zählen diese zu den meistverkauften der Welt.

An alle Musiker – Tipps für nachhaltigen Fortschritt

Zum Schluss des Gesprächs wurde der Herr mit sowohl italienischen wie auch indianischen Wurzeln noch gefragt, was er, ganz komprimiert, ­allen Trompetern als Rat mit auf ihren Lernweg geben würde. Das sind seine Antworten:

  1. Werde ein Musiker! (Nicht nur Trompeter…)
  2. Spiel mit Gefühl!
  3. Höre so viel Musik wie möglich!
  4. Wisse: Dein Ego ist dein größter Gegner!
  5. Lerne zu üben! Üben besteht aus Instand­haltung, Problemerkennung und -lösung und dem Kümmern um neue Aufgaben.

Auch wenn der mittlerweile 79-Jährige wie eingangs erwähnt wahrscheinlich keine Workshop-Touren durch die Welt mehr wird machen können, so gibt er immer noch Unterricht per Videoverbindung. Diese Gelegenheit sollte man nutzen. Wo bekommt man ansonsten Unterricht von einer Legende?