Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Boëthius und die Musiktheorie fürs Mittelalter

Boethius

Weil er am Niedergang der Kultur litt und das Wissen der Antike retten wollte, gilt Boëthius (ca. 480 bis ca. 525) als “der letzte Römer”. Weil sein Werk für die Gelehrsamkeit des gesamten Mittelalters prägend werden sollte, gilt er zugleich als “der erste Scholastiker”.

Ums Jahr 500: Das Römische Reich erlebt starke Umbrüche. Rund ein Jahrhundert vorher ist es geteilt worden – in ein West-Reich mit einem Westkaiser (in Ra­venna) und ein Ost-Reich mit einem Ostkaiser (in Byzanz). Schon diese Teilung gab einen Hinweis darauf, dass die zentrale Organisation der riesigen Gebiete schwierig geworden war. Im römischen Stammland Italien nehmen Germanen-Einfälle, Machtkämpfe und Bürgerkriege überhand. Das Heer ist schwach, die Verwaltung schlecht. Immer mehr Reichsteile – in Spanien, Frankreich, Nordafrika – brechen weg. Odoaker, ein Germane auf dem weströmischen Thron, unterstellt sich im Jahr 476 dem Ostkaiser und beendet damit praktisch das westliche Kaisertum. Sein Bezwinger und Nachfolger Theoderich, Herrscher über die Ostgoten, ist danach nur noch eine Art König von Italien – von Gnaden des Kaisers von Byzanz. Die Konflikte zwischen Weströmern, Byzantinern und Ostgoten wachsen ständig an, ebenso die religiösen Unstimmigkeiten zwischen Nikäern und Arianern.  

Boëthius wird zum größten Gelehrten seiner Zeit

In diese Konfliktzeit hinein wird Boëthius ge­boren. Er wird zum größten Gelehrten seiner Zeit, der das Wissen der Antike resümiert für die Zukunft. Er macht aber auch politische Karriere unter Theoderich, ist mit 30 Jahren ein “Konsul ohne Kollege” und wird 522 zum Magister Officiorum ernannt – so etwas wie ein Ministerpräsident. In dieser Funktion gerät er aber unweigerlich in die politischen Intrigen und Kämpfe hinein. Als er sich gegen die Verhaftung eines Senators wehrt, wird er selbst verhaftet. Unter der Anschuldigung, Teil einer oströmischen Verschwörung gegen Theoderich zu sein, wird Boëthius hingerichtet. Für die Nachwelt allerdings gilt der große Gelehrte als unschuldig. Er wird sogar geradewegs zur Kultfigur aufsteigen, als Märtyrer verehrt werden und eine Zeit lang heißer Kandidat für eine Heiligsprechung sein. Eine Legende erzählt, König Theoderich habe die Hinrichtung des Boëthius so sehr bereut, dass er am Gram darüber gestorben sei.

Werke für Jahrhunderte

Boëthius erkannte sehr deutlich den Niedergang des Römischen Reiches – nicht nur im Politischen, sondern auch im Bereich von Kultur und Wissen. Das Bildungsniveau der klassischen Zeit, das auf der Kenntnis der griechischen Philosophen und Gelehrten beruht hatte, war längst verloren. Selbst die griechische Sprache wurde in Italien kaum mehr verstanden. Sicherlich spielte dabei auch die Christianisierung eine Rolle. Boëthius jedenfalls fasste den Beschluss, das gelehrte Wissen der Jahrhunderte durch Niederschrift ins Lateinische zu bewahren. Er übersetzte und kommentierte zahlreiche Werke der Alten Griechen, vor allem des Philosophen Aristoteles. Er verfasste eigene Lehrwerke zu Fragen der Naturwissenschaften, Philosophie und christlichen Theologie. Sein berühmtestes Werk heißt “De consolatione philosophiae” – “Über den Trost der Philosophie2. Er schrieb es erst nach seiner Verhaftung – schon in Erwartung seiner Verurteilung und Hinrichtung. Das Buch gehörte im Mittelalter zur Standardliteratur und Schullektüre.

Etliche von Boëthius’ Werken gingen ganz oder teilweise verloren. Unvollständig überliefert sind auch die fünf Bücher seiner “Einführung in die Musik” – “De institutione musica”. Doch die Bedeutung dieser Schrift für die folgenden Jahrhunderte kann man kaum hoch genug einschätzen. Das Werk diente praktisch noch 1000 Jahre später als Grundlage des Musikverständnisses und der Musiklehre an Universitäten. Die Abschriften davon wurden im Mittelalter vielfach mit Kommentaren ausgestattet – berühmt ist etwa der “Oxforder Kommentar” aus dem 14. Jahrhundert. In Boëthius’ Schrift wird die Musik – im Sinne der Antike – als ein Teil des “Qua­dri­viums” behandelt. Damit meinte man “die vier Wege” (oder Disziplinen) der Zahlen-Wissenschaft: die Arithmetik, die Geometrie, die Astronomie und die Musik. Es geht in seinem Lehrwerk also vor allem um die mathematischen Grundlagen der Musik. Übrigens prägte Boë­thius selbst den Begriff “Quadrivium” (damals: “quadruvium”).

Die Sache mit den Hämmern

Boëthius referiert Legenden, wonach man mit der richtigen Tonart den Zorn besänftigen, ­Ischias heilen oder den Schlaf herbeiführen kann. Wie schafft es Musik, die menschliche Seele so sehr zu berühren, dass sie von Krankheiten und Affekten gereinigt wird? Das fragten sich die Philosophen schon 1000 Jahre vor Boë­thius. Die Antwort des Pythagoras (um 550 v. d. Z.) lautete: Das ganze Universum beruht auf Mathematik. Mathematik steckt in den Bewegungen der Gestirne, im Körper und Geist der Menschen und auch in den Tönen der Musik. Daher, so meinte Pythagoras, korrespondieren sie alle miteinander. Da sämtliche wichtigen an­tiken Denker (Platon, Aristoteles, Cicero usw.) dem Pythagoras vertrauten, vertraut ihm auch Boëthius, der Bilanzbuchhalter des antiken Denkens. Er unterscheidet zwischen drei Arten der Musik: der Musik der Sphären (“musica mun­dana”), der Musik der Seele (“musica humana”) und der hörbaren Musik (“musica instrumentalis”). 

Die berühmte Geschichte, wie Pythagoras die Mathematik in den Klängen entdeckt hat, erzählt Boëthius in seinem Lehrwerk ausführlich. Die Hammerschläge aus einer Schmiede waren angeblich der Auslöser gewesen. Pythagoras hörte, so heißt es, wie die Töne mehrerer Hämmer zu einem gemeinsamen Klang zusammenfanden. Er fand heraus, dass die Tonhöhe jedes ­geschlagenen Hammers von seinem Gewicht abhing. Einer der Hämmer war zufällig genau doppelt so schwer wie ein anderer, und diese beiden klangen besonders gut zusammen – so entdeckte der Philosoph das Geheimnis der Oktave.

Die Schallübertragung beschreibt er als einen kreisförmigen “Wall” aus Luft

Zwei der Hämmer standen dagegen im Gewichts­verhältnis 2:3 – so entdeckte er die Quinte. Die Töne, so fasst Boëthius zusammen, verbinden sich (harmonieren) desto besser, je einfacher das Verhältnis ihrer Schwingungen ist (1:2, 1:3, 1:4, 2:3, 3:4 usw.). Weicht das Verhältnis davon ab, fehlen dem Zusammenklang die Süße und Verschmelzung. Tatsächlich scheint Boëthius bereits eine Vorstellung von “Schwingungen” gehabt zu haben. Er meint, der Ton brauche einen Anstoß und bewege sich dann träger, wenn er tiefer sei, und schneller, wenn er höher sei. Die Schallübertragung selbst beschreibt er sehr treffend als einen kreisförmigen “Wall” aus Luft. 

Was die ethische Seite der Musik betrifft, hält es Boëthius mit Platon. Menschen mit einem harten Charakter, so schreibt er, bevorzugen hart klingende Musik, Menschen mit weicherem Charakter eher weichere Klänge. Deshalb helfe eine schöne, harmonische Musik, die Ruhe im Staat zu erhalten. Übrigens scheint Boëthius tatsächlich zu glauben, dass die griechischen Modi (“lydisch”, “phrygisch” usw.) nach den wirk­lichen musikalischen Vorlieben der jeweiligen Stämme benannt wurden und deren “Charakter” entsprechen. Mit detaillierteren Fragen musikalischer Ästhetik oder auch mit Fragen von Gesang und Instrumentalspiel hält er sich dagegen nicht auf. Auch darin folgt er seinem Leitstern Pythagoras, der der ewigen Mathematik mehr ver­traute als dem Sinneseindruck, welcher von wechselnden Bedingungen und zufälligen Musikinstrumenten abhängig sei. Guido von Arezzo fand daher (ums Jahr 1000), dass es in Boëthius’ Lehre entschieden an Praxisbezug fehle.

Obwohl sein entsprechendes Lehrwerk zur Astronomie nicht erhalten ist, wurde Boëthius von den Astronomen besonders gewürdigt. Sowohl ein Asteroid als auch ein Mondkrater und sogar ein Merkurkrater sind nach ihm benannt.