Die Rechtsradikalen haben ihre eigenen Märsche, ihre eigene Rockmusik. Es gibt Lieder, die direkt zu Gewalt und Intoleranz auffordern. Besitzt Musik denn keinerlei Gewissen? Kennen Klänge keine Ethik?
Schon die altgriechischen Philosophen verbanden die Musik mit ethischen Fragestellungen. Platon zum Beispiel meinte, „das Wichtigste in der Erziehung“ beruhe auf der Musik. Denn ihr Zeitmaß und ihr Wohlklang seien dazu geeignet, junge Menschen zu guten, anständigen Bürgern zu machen. Die Musik müsse darum im Zentrum aller Erziehung stehen.
Platon beschrieb Musik als ein „Geschenk der Götter“, das in den unharmonischen Zustand der menschlichen Seele die Harmonie zurückbringt. Die häufigen, regelmäßigen Ritualfeste der alten Griechen sah er als notwendige Ruhepausen, um die Balance der Seele und die Ordnung der Dinge wiederherzustellen. Daher müsse bei diesen Festlichkeiten die Musik eine zentrale Rolle spielen. Ähnlich sahen es die alten Chinesen. Musik, sagten sie, habe den Zweck, die Welt im Gleis zu halten.
Ist also Musik schon der Garant eines ethisch wertvollen Lebens? Nicht unbedingt! Platon wusste da zu differenzieren. Die Musik, so meinte er, könne durchaus auch einen üblen Einfluss ausüben. Wenn sich Musik nicht an die Regeln halte, könne sie auch schlechte Charaktereigenschaften im Menschen fördern. Zu diesen Regeln gehörte für Platon, dass bestimmte Tonarten (zum Beispiel C-Dur!) und bestimmte Instrumente (zum Beispiel Bläser!) ausgeschlossen wurden. Sein Verdacht, dass Musik auch eine „schädliche“ Wirkung haben könne, zieht sich übrigens durch viele Jahrhunderte der Geistesgeschichte.
Thomas Manns „Misstrauen“ gegen die Musik
Der Schriftsteller Thomas Mann zum Beispiel legte das „Misstrauen“ gegen die Musik einst seiner Romanfigur Lodovico Settembrini in den Mund. Der sagt im Roman „Der Zauberberg“: „Die Musik ist unschätzbar als letztes Begeisterungsmittel, als aufwärts und vorwärts reißende Macht, wenn sie den Geist für ihre Wirkungen vorgebildet findet. Aber Musik allein bringt die Welt nicht vorwärts. Musik allein ist gefährlich. Sie ist das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente. Ich hege eine politische Abneigung gegen die Musik.“
So viel steht fest: Musik wird auf vielerlei Weise funktionalisiert und kann daher auch missbraucht werden. Dieser Missbrauch geschieht meistens durch die Worte, die zur Musik gesungen werden, etwa diskriminierende Songtexte. Er geschieht auch durch den Kontext, in den Musik gestellt wird, etwa eine nationalistische Veranstaltung. Er geschieht dagegen kaum durch die Struktur und Qualität von Musik, auch wenn viele Kulturkritiker das gerne so sehen möchten.
Linke oder demokratische Protestsongs sind nicht unbedingt musikalisch anspruchsvoller als rechtsradikale Lieder. Insofern ist die Musik an sich tatsächlich indifferent – man könnte aber auch sagen: grenzenlos tolerant. Der Schweizer Jazzpianist Yves Theiler hat es so formuliert: „Musik selbst ist zu 100 Prozent friedlich. Sie kennt nicht Ausgrenzung, Rasse, Bevorzugung oder Hunger. Wer Musik hört, hat die Freiheit, das zu denken oder zu fühlen, was er möchte. Musik ist ein Geschenk, das uns verdeutlicht, dass das Leben kostbar ist.“
Ethos der Verständigung
Aus der Evolutionsforschung lernen wir, dass Musik schon immer zu Toleranz und Versöhnung angeregt hat – sie stiftet Frieden, stärkt die Kooperation, fördert geteilte Freude. Das gemeinsame Machen und Erleben von Musik war vielleicht entscheidend dafür, dass sich die Frühmenschen in immer größeren Gruppen solidarisierten und koordiniert zu handeln lernten. „Musik unterstützt vom ersten Wiegenlied an soziale Bindungen“, schreibt der Neuropsychologe Eckart Altenmüller, „sie fördert Gruppensynchronisierung.“ Es ist das Vorhandensein von Musik, das den Menschen von allen anderen Spezies unterscheidet.
Ihre ausgleichende, gemeinschaftsbildende Wirkung stellt möglicherweise überhaupt den Schlüssel zur menschlichen Intelligenz dar. „Ohne Musik“, meint der Psychologe Stefan Kölsch, „hätte es der Mensch nicht durch die Evolution geschafft.“ Manche Ethnologen meinen, dass das Singen bei den Primaten das gegenseitige Fellpflegen („grooming“) ersetzt habe, als die Primatengruppen zu groß dafür wurden. Und bis heute ist das gemeinsame musikalische Erlebnis der beste Weg zur sozialen Annäherung und Verständigung – auch über viele kulturellen Grenzen hinweg.
Die Wirkung von Musik könnte man – mit Aristoteles – als „kathartisch“ beschreiben: eine Befreiung der Seele von belastenden Affekten. Diese Befreiung gelingt der Musik, weil sie unsere Emotionen zunächst wecken und dann erschöpfen kann. Beim Musikhören sind alle Teile unseres Gehirns beschäftigt. Unbewusst treffen wir Voraussagen zum Gang der Musik, die dann glücklich erfüllt oder wohlig enttäuscht werden. So sind wir ständig fühlend beteiligt, gespannt, gerührt – und am Ende haben wir eine Menge Emotionen abgearbeitet.
Vor allem junge Menschen in der Pubertät benutzen Musik verstärkt als Ventil für überschüssige Gefühle. Tests mit Heavy-Metal- und Punk-Fans zeigen: Aggressive Musik macht nicht aggressiv, sondern baut Aggressionen ab. Selbst für Rechtsradikale gilt: Solange sie Musik hören und mitgrölen, sind sie nicht gewalttätig, sondern können sich emotional austoben. Auf Rechtsrock-Festivals ist die Musik der heimliche Agent der Vernunft und Toleranz. Und in diesem Sinne eine humane, ethische Botschaft.
Vorbild für die Gesellschaft
Wird Musik nicht in den Dienst einer schlechten Sache gestellt, trägt sie ihre ethische Würde in sich selbst. Musikmachen ist eine friedliche und spielerische Tätigkeit – ein Vorbild für die Gesellschaft. Musik eröffnet Quellen von Lust und Wohlgefühl und wirkt gegen Frustration und Angst. Sie stärkt schon beim bloßen Hören unsere humanen Qualitäten: Fantasie, Kreativität, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Lernfähigkeit, Leistungsfähigkeit, Identität – sogar die Gesundheit. Auch Thomas Manns Romanfigur Settembrini war überzeugt, dass die Musik dem Erleben der Zeit „Wachheit, Geist und Kostbarkeit verleiht. Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinsten Genusse der Zeit, sie weckt… insofern ist sie sittlich.“
Das Erleben von Musik macht uns zu sozialen Wesen. Das Musizieren selbst ist bereits ein sozialer Akt, eine Kommunikation zwischen Musikern. Musik ist aber auch eine Kommunikation zwischen Musikern und Hörern und nicht zuletzt eine zwischen den Hörern selbst, die die Musik gemeinsam wahrnehmen, auf sie und aufeinander reagieren, sich austauschen. Das friedliche, spielerische Musikerlebnis stärkt unsere Solidarität, unsere Lust an der Gemeinschaft, unsere Fähigkeit zu koordiniertem Handeln.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt: Schon Kindergartenkinder gehen nach gemeinsamen Musikerlebnissen kooperativer, toleranter und geduldiger miteinander um. Auch der Philosoph Platon glaubte daran, dass Musik „gegenseitige Liebe und Eintracht“ in die Menschen einpflanzt.
Die ethische Bedeutung der Musik liegt also in der Musik selbst und ihren Prinzipien – dem friedlichen Ausgleich von Unterschieden, dem spielerischen Umgang mit Möglichkeiten, dem Freiraum des Denkens und Handelns. Niemand hat es schöner gesagt als Leonard Bernstein. 1963, nach der Ermordung von John F. Kennedy, schrieb er: „Dies wird unsere Antwort auf Gewalt sein: noch intensiver, noch schöner, noch hingebungsvoller zu musizieren als jemals zuvor.“