Haben Sie mal gerade eine gute halbe Stunde Zeit? Das würde reichen, um Sie – nach José Serebriers Instrumentalfassung für Blasorchester – in die Welt der “Carmen” zu entführen. Sicher mutig, sich einem solchen Sujet zu stellen. Im Original dauert die komplette Oper gerne einmal knapp drei Stunden. Solostimmen und Chor haben tragende Rollen, im Orchestergraben sitzt ein romantisch besetztes Sinfonieorchester mit großem Streicherapparat, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Fagotten, zwei Klarinetten, vier Hörnern, zwei Pistons, drei Posaunen, Pauken, Schlagwerk (Becken, Triangel, große Trommel, kleine Trommel, Tamburin, Kastagnetten), zwei Harfen und auf der Bühne noch zwei Pistons und drei Posaunen.
Die Hauptfiguren sind die schillernde Carmen, ein dramatischer Mezzosopran oder Alt, der Sergeant Don José, ein meist jugendlicher (Helden-)Tenor, der Stierkämpfer Escamillo, ein Bariton und das Bauernmädchen Michaela, ein lyrischer Sopran. Zu ihnen gesellen sich die Soldaten Zuniga und Moralés, der Wirt Lillas Pastia und Carmens Freundinnen Fasquita und Mercedes. Im Chor finden wir Soldaten, Arbeiterinnen in der Zigarettenfabrik, Stierkämpfer und Schmuggler. Alles geschieht in Spanien, in und um Sevilla, um 1820.
Der Komponist
Registriert als Alexandre César Leopold, später getauft als Georges, wurde Bizet im Oktober 1838 in Paris geboren. Am dortigen Konservatorium studierte er Klavier, Musiktheorie und Tonsatz und gewann mit 19 Jahren den Prix de Rom, den von der Académie des Beaux-Arts ab 1803 auch für das Fach Musik ausgeschriebenen Wettbewerb. Dieser Preis war mit einem Aufenthalt in Rom verbunden.
Zurück in Paris arbeitet er als Musiklehrer, Korrepetitor und Bühnenkomponist. Mit seinen Arbeiten zeitlebens durchweg erfolgreich, gelang ihm aber erst mit “Carmen” ein absolut durchschlagender Erfolg.
Die Uraufführung im März 1875 in Paris war zunächst nur mäßig erfolgreich. Erst mit der Aufführung im Oktober 1875 in Wien schickte sich Bizets Meisterwerk an, zu einem der weltweit größten Opernerfolge zu werden. Bereits schwer erkrankt, schrieb er die Oper in seinem 36. Lebensjahr in nur drei Monaten. Es war zugleich sein Todesjahr. Er verstarb im Juni 1875 und konnte den alsbald schnell einsetzenden Erfolg leider nicht mehr miterleben.
Der Arrangeur
Am 3. Dezember 1938 wurde José Serebrier in Montevideo (Uruguay) als Sohn russischer und polnischer Eltern geboren. Er nahm früh Violinunterricht und leitete schon mit elf Jahren sein erstes Jugendorchester. Mit 15 schloss er bereits erste umfassenden Musikstudien in Montevideo ab und gewann ebenda mit der “Legend of Faust”-Ouvertüre seinen ersten Kompositionswettbewerb. Die Ouvertüre machte ihn bekannt, wenngleich er es sehr bedauerte, die Uraufführung nicht selbst habe dirigieren zu dürfen.
Ein Stipendium des US-Außenministeriums erlaubte ihm am Curtis Institute of Music in Philadelphia (Pennsylvania) bei Vittorio Giannini weiterzustudieren. Es folgten Studien bei Aaron Copland in Tanglewood (Massachusetts), Pierre Monteux und Antal Doráti sowie etliche Preise und weitere Förderungen. Seine erste Sinfonie, die er im Alter von 17 Jahren verfasste, wurde von Leopold Stokowski in Philadelphia uraufgeführt.
Serebrier war 22 Jahre alt, als Stokowski ihn zum Associate Conductor des neu gegründeten American Symphony Orchestra in New York ernannte, eine Position, die er fünf Jahre lang innehatte. Erwähnenswert ist sicher auch seine Zeit von 1968 bis 1970 als Assistent an der Seite von Georg Szell beim Cleveland Orchestra.
So wurde er schließlich zum Weltreisenden in Sachen Musik, als Gastdirigent namhafter internationaler Orchester, aber auch als Förderer zeitgenössischer Musik, wovon Festivals und mehr als 200 Einspielungen rege Zeugen sind.
Die Fachzeitschrift “stereoplay” urteilt noch im Erscheinungsjahr 2008 über die Einspielung der “Carmen Symphony (and other works)” mit “The President’s Own United States Marine Band” unter seiner Leitung: “Allein ihre Live-Performance eines zwölfteiligen Blas-Arrangements der schönsten Stücke aus Bizets Carmen ist ein so lupenrein und klangschön gespielter Dauer-Ohrwurm, dass man sich nur wundert über den runden Ton, die perfekte Klangbalance und die Musikalität dieser aus lauter echten Marines zusammengesetzten Militärtruppe. Auch das Restprogramm klingt angenehm unmilitärisch: Es unterstreicht vielmehr die atemberaubende Virtuosität und die hohe Spielkultur dieser Traditionsband.”
Die Idee
Was man so weiß über diese Oper von Georges Bizet, ist eigentlich schnell zusammengefasst: Es geht, wie sollte es anders sein, um Liebe, Freiheit und Tod. Nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée schrieben Henri Meilhac und Ludovic Halévy ein Libretto, welches grundsätzlich die Grundlage für eine “Opéra-comique” war. Die Uraufführung im März 1875 in Paris wurde, wie bereits erwähnt, eher kritisch aufgenommen. Es lag wohl daran, dass der für diese Zeit recht schockierend realistisch erzählte Stoff mit seinen ungeschönten Milieuschilderungen, mit seiner Dramatik und auch mit seiner Tragik einen schon recht revolutionären Umgang mit dieser Operngattung darstellte.
Eine ganz andere Öffentlichkeit, eher wenig aristokratisch, betrat plötzlich die “feine” Opernbühne. Die Protagonisten gehören zur Unterschicht. Es waren Arbeiterinnen, Soldaten, Schmuggler, gar gesellschaftliche Außenseiter. In deren Mittelpunkt stand eine skandalöse Frauenfigur, die attraktive Carmen. Umschwärmt und selbstbewusst fand sie in Sevilla im Soldaten Don José einen Mann, der ihr rettungslos verfiel, sie durch seine Liebe aber auch einengte. Im Konflikt zwischen Freiheit und dieser Liebe entschied sie sich für die Freiheit, aber damit verbunden leider auch für tödliche Konsequenzen.
Handlung im Telegrammstil
Die betörend schöne Carmen weiß um ihre Wirkung auf Männer, genießt aber auch gerne ihre Freiheit und will sich durch die Liebe nicht einengen lassen. Wie viele andere ist auch der einfache, junge und noch unerfahrene Sergeant Don José von Carmen hingerissen. In einer von Wein und Tanz aufgepeitschten Stimmung in der Schenke verdreht Carmen ihm dann endgültig den Kopf, wenngleich aber auch der selbstbewusste Torero Escamillo einen starken Eindruck auf sie macht. Schließlich desertiert Don José Carmen zuliebe und entscheidet sich für das freie, wilde Leben der Schmuggler. Er bindet sich ohne Wenn und Aber an Carmen. Als sich Don José und Escamillo als Rivalen um Carmens Gunst erkennen, zücken sie die Messer. Doch der Torero verschiebt die Auseinandersetzung auf den Tag seines nächsten Stierkampfs. Carmen erscheint dann ebendort an Escamillos Arm. Da Don José sie wohl nicht mehr zurückgewinnen kann, ersticht er sie in rasender Eifersucht.
Was die Idee von José Serebrier betrifft, so war es der Reiz, die Musik und die Geschichte – rein instrumental – gleichsam subsumierend wie spannend und schlüssig, in einen sinfonischen Blasorchesterwerk zu präsentieren. Die Musik in der Oper dauert etwas weniger als drei Stunden und gliedert sich in die Vorspiele zu den Akten, ein Zwischenspiel und 27 Musiknummern, die durch gesprochene Dialoge oder nachkomponierte Rezitative verbunden werden. In der Mitte gibt es meist eine Pause. Die “Carmen Symphony” dauert ohne Pause gut 30 Minuten und gliedert sich in zwölf Abschnitte.
Der Aufbau
I. Prelude
Das Vorspiel und später auch die Zwischenspiele sind stets nah an Original und Handlung. Der Mittelteil und die Hinführung zum ersten Opernteil sind geprägt von den drei wohl wichtigsten Themen der Oper. Zunächst erklingt in ABA-Form die marschartige Melodik (Weg zur Stierkampfarena) und das Couplet des Escamillio (aus Akt 2). Die Coda basiert auf dem Leitmotiv, das in der ganzen Oper in zentralen Momenten auftaucht. In nur wenigen Minuten ist ein eingängiges Stimmungsbild zum Opernkontext aufgebaut, aber mit dem offenen Ende eines Spannungsfragezeichens.
II. The Cavalry
Ein Trompetensignal kündigt einen Wachwechsel an. Leutnant Zuniga und Corporal José sind mit von der Partie. Piccolo und Querflöte brillieren, weitere kleinere Soli ziehen nach. Die Musik suggeriert ein freudig entspanntes Soldatenleben. Da liegt keine Kampfeslust in der Luft, eher Verspieltheit.
III. Habanera
Carmen betritt die Bühne. Eine Habanera (entwickelt aus der volkstümlichen Basis von “El Arreglito”) auf den Lippen, erweckt sie die Aufmerksamkeit von José und wirft ihm eine rote Rose zu. Serebier verwendet für Carmen bewusst das Altsaxofon. Zum einen, weil es der geforderten Stimmlage gut entspricht, zum anderen, weil Bizet als einer der ersten Komponisten im Genre dieses »neue« Instrument bewusst (wenn auch nicht bei Carmen, aber zum Beispiel in der Suite “L’Arlésienne”) mit in den Orchesterklang aufgenommen hat.
IV. Seguidilla
Carmen wird von ihren Kolleginnen in der Zigarettenfabrik beschuldigt, einen heftigen Streit angezettelt zu haben. Zuniga befiehlt José, Carmen auch der Form halber gefesselt festzunehmen. Da Carmen zum Vorfall keine Fragen beantworten will, wird sie von José weiter bewacht. Da sie immer weiter “nervt”, fordert er sie auf zu schweigen. Doch sie singt eine provokante “Seguidilla” (ein spanisches Tanzlied mäßigen Tempos im ¾-Takt) mit der Bitte, oder eher der Forderung, freizukommen. Schließlich erliegt José ihrem Drängen und sie verabreden sich in einer Schmugglerspelunke, nicht ohne ein Liebesversprechen ausgetauscht zu haben. Querflöte und Oboe bekommen hier besonderes Gewicht.
V. Fugato
Das “Fugato” verarbeitet die Substanz des endenden 1. Aktes. Es nutzt zunächst die “Streitmotivik” der Zigarettenarbeiterinnen und der Festnahme, unterbricht dies durch das Habanera-Motiv, natürlich wieder dem Altsaxofon zugeordnet, und verspielt sich dann in verträumte kleine Akkordfolgen. Nach eher zögerlich wirkender Musik beschreibt ein entschlossener ¾-Takt den von Carmen schon raffiniert eingefädelten Plan zur Flucht und ihre drängende Annäherung an José.
VI. Interlude 1
Mit diesem Zwischenspiel, “Entr’acte”, eröffnet Bizet den 2. Akt: einfaches motivisch-melodisches Material für Fagott, weitere Holzsolisten und “Pizzicato”-Begleitung. Anders als im Original (da folgt sofort das mitreißende “Chanson bohème”) belässt es Serebrier hier bei der für ihn stimmungsvollen poetischen Wendung und setzt das eigentliche Lied erst ans Ende seines Orchesterzyklus.
VII. Toreador
Diesmal lässt Serebrier zunächst die Posaune singen und überschreibt ihr das Lied des Escamillo. Dazu gesellen sich solistisch auch kurz die Waldhörner, die im populären Mittelteil ihre Akzente setzen.
VIII. Interlude 2
Hier nur der zweite »Entr’acte«, der nun den 3. Akt eröffnet. Ein eher poetischer, weihevoller Moment, der besonders Querflöte, Klarinette und Harfe ins Bild setzt. Ruhige Klänge im Schwerpunkt in den Holzbläsern bereiten (am Original orientiert) die Stimmung für das in der Handlung folgende Sextett und den Chor.
IX. Andante cantabile
Ein Fragment aus der Substanz des Trios des 3. Aktes. Carmen (natürlich wieder im Altsaxofon) beschreibt ihre tragische Vorahnung. Eng am Original, aber wiederholt zum Zwecke von verdeutlichender Eindringlichkeit. Die neutrale Satzbezeichnung ist ein weiterer Hinweis darauf, dass dieser Teil kurz aus der Handlung heraus ein wenig instrumental differenzieren möchte.
X. Interlude 3
Der »Entr’acte« zum 4. Akt verweist kurz auf die Begegnung in der Stierkampfarena von Carmen und Don José. Einerseits eine volksfestartige Stimmung, andererseits aufwühlend und fragend. Erst danach lässt er die Hochzeitsszene, die eigentliche Eröffnung des 4. Aktes, folgen.
XI. The Wedding
Diese Szene hat für Serebrier eine hohe musikalische Attraktivität, auch wenn sie eher kurz ist. Den Chorpart hofft er mit den Instrumenten besetzt zu haben, die sich auch neben dem “clamoring orchestra”, dem eher “lärmenden” Orchester, gut abheben können. Für ihn ein fabelhafter Moment, der aus seiner Sicht in der Oper eher zu wenig wahrgenommen wird.
XII. Gypsy Dance
Der Tanz ist für Serebrier ein kleines Wunder der Schreibkultur Bizets für Orchester. Eigentlich in der Oper im 2. Akt beheimatet, beendet und krönt er damit aber ganz bewusst seinen instrumentalen Querschnitt und zieht über knapp fünf Minuten noch einmal alle Register.
Instrumentation
Mit 38 Stimmen ausgestattet erwartet die Partitur ein voll ausgebautes Blasorchester. Der volle Holzsatz trägt sicher Gewicht, aber zum Beispiel mit zwei Kornettstimmen und zwei Trompetenstimmen differenziert Serebrier auch wohl überlegt im Blechsatz. Neben “spanischem Schlagwerk” weiß auch die Harfe gelegentlich zu glänzen.
Insgesamt kann man aber feststellen, dass hier im Grundsatz anspruchsvolle, aber keine ausgewöhnlich schweren Parts gefordert sind. Der Charme liegt, wie so oft, im Detail. Besonders den Solisten im Holz, und auch der Soloposaune, sind dankbare Aufgaben aufs Pult gelegt. Dabei mischen sich wohl ausgewogene kammermusikalische Abschnitte abwechslungsreich mit dem ebenso benötigten vollen Tutti.
Fazit
Das Ohrwurmpotenzial der Oper ist hier nachvollziehbar gut getroffen und der Spannungsbogen der Geschichte interessant gespannt. Die Atmosphäre, die Stimmung der Oper, also das, was das Original auszeichnet und so beliebt gemacht hat, findet sich wieder. Eine Sprecherrolle, die gegebenenfalls zwischendurch den Handlungsstrang (für weniger Opernaffine) vermitteln könnte, ist nicht vorgesehen. Das wird die Puristen freuen. Es ist aber sicher auch keine Sünde, wenn man sich darüber Gedanken macht. Die schillernde und brüchige Figur der Carmen lässt das von Haus aus sicherlich zu.