Brass | Von Klaus Härtel

Christian Scott hat das letzte Wort

Die clarino-Serie »Sie haben das letzte Wort« ist zwar in Interview-Form gehalten, sie soll aber einmal ­andere Fragen beinhalten, als man sie aus »normalen« Interviews kennt. Durch ungewöhnliche und nicht alltägliche Fragen will die Redaktion Neues vom Künstler erfahren. Die Fragen beginnen immer gleich. Wir sind gespannt auf nicht immer gleiche Antworten.

Wann war das letzte Mal, dass Sie wünschten, einen »ordentlichen« Beruf gewählt zu haben?

Nun, ich glaube ich hatte noch nie einen »ordentlichen« Job! Ich mache das, was ich mache.

Wann war das letzte Mal, dass Sie über die Mentalitätsunterschiede von Amerikanern und Europäern nachgedacht haben?

Das ist ehrlich gesagt nichts, worüber ich mir viele Gedanken mache. Auch nicht, was kulturelle Unterschiede angeht. Denn vielen Leuten, die darüber nachdenken, geht es nur darum, wer besser ist als der andere. Darüber nachzudenken führt oft dazu, dass einer dem anderen höhergestellt wird. Und das mache ich nicht. 

Wann war das letzte Mal, dass Sie geweint haben?

Wann ich geweint habe? Oh Mann, das weiß ich wirklich nicht genau. Vielleicht ist es drei Jahre her. Oder fünf?

Wann war das letzte Mal, dass Sie in Atunde oder Adjuah in Ghana waren?

Ich war noch niemals dort. Als ich ein kleiner Junge war, erzählte uns mein Groß­vater Fabeln über Könige. Und die hatten ihre Reiche an diesen Orten.

Wann war das letzte Mal, dass Sie sich wünschten, statt der Trompete das ­Saxofon gewählt zu haben?

Das muss gestern gewesen sein (lacht), als ich mal wieder die Trompete spielte…

Wann war das letzte Mal, dass Sie etwas Verbotenes getan haben? 

Ich denke, ich habe bereits vor meinem 21. Geburtstag Alkohol getrunken. Ich bin auch schon einmal unangeschnallt Auto gefahren. Das aber ist das verbotenste. Ich bin nicht der Typ, der Gesetze bricht. 

Wann war das letzte Mal, dass Sie einen Kollegen beneidet haben?

Meine Großeltern haben früher immer sehr darauf geachtet, dass ich niemanden beneide. Sie brachten mir bei, ich selbst zu sein und mein Bestes zu geben. Und wenn man das beherzigt, muss man sich über Dinge, die andere Leute haben oder tun, keine Gedanken machen. 

Wann war das letzte Mal, dass Sie Rassismus erlebt haben?

Rassismus kommt leider – auf unterschiedlichem Niveau – häufig vor. Selbst erlebt habe ich es vor ein paar Wochen am Flughafen in ­Washington D.C. Eine Frau, die in einer Schlange hinter uns stand, regte sich da­rüber auf, dass wir so viele Taschen dabei hatten. Sie drehte geradezu durch und bezeichnete uns als »Nigger«. Sie regte sich dermaßen auf, wie ich es wohl nie tun ­würde – und sie begab sich auf das unterste Niveau, indem sie dieses Wort sagte.

Wann war das letzte Mal, dass Sie gedacht haben: Es wird besser?

Ich denke fast jeden Tag, dass es besser wird – oder schlechter (lacht). Das hängt letztendlich von der Sichtweise ab.

Wann war das letzte Mal, dass Sie über Ihren Lieblingssport diskutiert haben?

Das war erst gestern, als ich zurück nach New York geflogen bin. Wir sprachen über die New York Knicks, das Basketballteam.

Wann war das letzte Mal, dass Sie enttäuscht waren, noch keinen Grammy bekommen zu haben?

Darüber war ich noch nie enttäuscht. Ich mache Musik ja schließlich nicht, um irgendwelche Auszeichnungen zu gewinnen. Ich mache Musik für mich selbst be­ziehungsweise für Leute, die diese gerne ­hören. Vielleicht denken manche Musiker tatsächlich an Auszeichnungen, doch die Musiker, die ich kenne, machen sich eher Gedanken darüber, wie sie jeden Tag besser werden können. Ich habe mal ein Interview mit dem Saxofonisten Steve Coleman gelesen, in dem er gefragt wurde, ­warum er noch nie für den Grammy nominiert wurde – das wurde ich ja immerhin schon – und er antwortete: John Coltrane bekam, als er noch lebte, auch nie einen Grammy. Natürlich ist so ein Award eine tolle Sache – aber es ist nicht der Antrieb, Musik zu machen.

Wann war das letzte Mal, dass Sie sich gedacht haben: »Yesterday I said tomorrow«?

Oh, das denke ich jeden Tag. Und das ist es ja auch, das mich jeden Tag anspornt. Mein Großvater gab mir und meinem Bruder jede Woche noch Extralektüre vor. Wenn wir die Bücher nicht innerhalb einer Woche auslasen, pflegte Großvater mahnend zu sagen: »Gestern sagtest du morgen…« Auf diese Weise brachte er zum Ausdruck, wie wichtig es war, Arbeiten sofort zu erledigen und die Zeit bestmöglich zu nutzen. 

Wann war das letzte Mal, dass Sie Barack Obama getroffen haben?

Ich habe ihn tatsächlich einmal getroffen und das ist etwa ein Jahr her. Ich habe für ihn bei einer Veranstaltung zur Spenden­beschaffung der Demokraten gespielt.

Wann war das letzte Mal, dass Sie die Zukunft des Jazz diskutiert haben?

Das war gestern. Und das Ergebnis der ­Diskussion war, dass wir uns einig waren, uneinig zu sein.

Christian Scott

Seit er 2006 mit »Rewind That« sein erstes Album bei Concord Music vorlegte und gleich für einen Grammy nominiert wurde, ragt der Trompeter und Komponist Christian Scott weit aus der Handvoll talentierter junger Jazzkünstler hervor, die versuchen, ihre künstlerische Vision über die strikten Grenzen der Tradition ­ihres Genres hinausschweifen zu lassen. Und mit jedem weiteren Album setzte der mittlerweile 29-Jährige, der 2010 in den Niederlanden mit einem Edison Award geehrt wurde, neue musikalische Maßstäbe. Die weltweite Kritik überschlug sich vor Begeisterung, obwohl sie Scotts Musik nicht in die üblichen Schubladen ab­legen konnte. Jetzt offeriert ihnen der Trompeter eine eigene Stilbezeichnung: »stretch music«. Und

was man darunter genau zu verstehen hat, zeigt er in den 23 Tracks seines neuen Doppelalbums »Christian aTunde Adjuah«. Es bietet nachdenkliche Balladen und Exkurse durch schwerelos-träumerische Klanglandschaften, aber auch betont rockige, Funk-infizierte und absolut ekstatische Nummern. 

Infos:
www.universal-music.de/christian-scott
christianscott.tv