Seit rund 20 Jahren gehört Daniel Erdmann zu den markantesten Solisten im europäischen Jazz. Sein kunstvoll gebrochener, gehauchter Saxofonton ist bereits auf etwa 50 Alben zu hören. 2019 erschienen neue CDs seiner beiden wichtigsten Bands, „Das Kapital“ und „Velvet Revolution“. Hans-Jürgen Schaal sprach mit dem Saxofonisten.
BRAWOO: Sie haben schon mit zehn Jahren begonnen, Saxofon zu spielen. Wie kommt man in diesem Alter zu diesem Instrument?
Daniel Erdmann: Ich hatte eine echte erste Begegnung mit dem Instrument. Mein Onkel hatte sich ein Meinl-Altsaxofon gekauft, ich kam zu Besuch und versuchte es zu spielen, und siehe da: Es kam ein passabler Sound heraus. Das war das Ende seiner und der Anfang meiner Saxofonkarriere. Ich fuhr an dem Tag mit seinem Altsaxofon nach Hause. Ich hatte dann bald Unterricht beim Braunschweiger Saxofonisten Peter Engel. In meiner ersten Stunde lernte ich „Summertime“ – ein guter Anfang! Ich war auch vorher schon über Freunde meiner Eltern mit Jazz in Kontakt.
Als Jugendlicher lebten Sie einige Jahre in den USA. Hatte das Auswirkungen auf Ihre Entwicklung?
Als ich dort ankam, sprach ich kaum Englisch. Aber auf die Frage, ob ich in der Schul-Bigband spielen wolle, wusste ich sofort die Antwort: „Certainly!“ In der Bigband war nur eine Tenorstelle frei, also wechselte ich vom Alt aufs Tenor. Natürlich hat die USA-Erfahrung einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich betrachte Jazz als die normalste Musik der Welt und kann mich hundertprozentig damit identifizieren.
Die Expressivität in Ihrem Spiel kommt – so höre ich das zumindest – aus dem Brüchigen, Verhuschten, Gehauchten. Gab es für diese Spielweise Vorbilder?
Als ich Anfang der 2000er Jahre nach Paris ging, habe ich viel geräuschorientierte Musik gemacht. Das waren lange Improvisationen ohne Melodielinien, nur mit Klängen, die nichts mit dem vorgegebenen, gelernten Klang des Instruments zu tun haben. Als ich später zurück zum Jazz wanderte, habe ich einiges davon mitgenommen. In meinem Spiel als Jazzmusiker benutze ich Klänge aus der frei improvisierten Musik. Da bin ich allerdings nicht der Erste und Einzige. Vorbilder in meinem Klangbild sind zum Beispiel Lester Young, Archie Shepp und Heinz Sauer.
Es ist eine
Daniel Erdmann
gute Zeit
für den Jazz.«
Was war wichtig in Ihrer Entwicklung als Saxofonist?
Als ich angefangen habe, mich ernsthaft mit Jazz zu beschäftigen, war ich ungefähr 15. Damals habe ich verstanden, dass Jazz zu spielen ein lebenslanger Lernprozess sein würde. Und ich wusste, dass ich mein Leben damit zubringen wollte. Ich fing also an, mich mit den großen Vorbildern zu beschäftigen, Soli zu transkribieren und so weiter. Ich hatte dabei großes Glück mit meinen Lehrern. In Berlin an der Eisler-Hochschule hatte ich Gebhard Ullmann als Lehrer, der mich sehr dazu angespornt hat, meinen eigenen Weg in dieser Musik zu finden, meinen Sound, meine melodischen Wendungen zu suchen. Überhaupt fühlte ich mich in Berlin wirklich an meinem Platz. Am ersten Abend nach meinem Umzug dorthin 1993 ging ich in einen Club, die Junction Bar. Dort spielte Felix Wahnschaffe mit seiner Band, das war ein herrlicher Moment des Ankommens. Während meines Studiums habe ich dann viel in Berlin gespielt, ich hatte mein eigenes Trio, habe meine Stücke geschrieben.
Die beiden Bands, mit denen Sie derzeit am häufigsten assoziiert werden, sind „Das Kapital“ und „Velvet Revolution“. Die Namen klingen ziemlich politisch.
Mit „Das Kapital“ hatten wir am Anfang tatsächlich den Wunsch, über das allein Abstrakte in der Musik hinauszugehen. Unsere Zusammenarbeit mit den Filmemachern Nicolas Humbert und Martin Otter hat das teilweise ermöglicht, und das Eisler-Repertoire hatte auch starke Botschaften. Aber eigentlich ist es doch so: Als Musiker setzen wir Eindrücke aus der Welt auf abstrakte und sehr persönliche Weise um. Da ich glaube, ein politisch denkender Mensch zu sein, fließt auch das Politische in meine Musik ein. Aber eben nicht nur das. Der Bandname „Velvet Revolution“ ist allerdings nicht politisch, sondern ganz persönlich gemeint. Es geht mir in dieser Band darum, alle Seiten meines Sounds hörbar zu machen, vor allem die samtene. In diesem Fall ist das Samtene gleichzeitig die Revolution – ein innerer, künstlerischer Befreiungsprozess.
Beide Bands sind Trios. Sind Sie ein Trio-Spezialist?
Das Kapital hatte seinen Ursprung in einer Session beim Schlagzeuger Edward Perraud in Paris, wir waren dabei eben zu dritt, und es wurde sofort eine Band daraus. Das ist bald 20 Jahre her und wir arbeiten immer noch eng zusammen. Bei „Velvet Revolution“ ist es anders, da hatte ich den Klang der Besetzung im Ohr, bevor ich mich überhaupt nach Musikern umgeschaut habe. Diesen Sound umzusetzen war sozusagen ein innerer Zwang. Als ich die beiden unglaublichen Musiker (Theo Céccaldi und Jim Hart) für die Band gewinnen konnte und wir die erste Probe hatten, war es für mich wie ein Wunder! Deshalb bin ich gerade mit dieser Band und Besetzung extrem glücklich.
Was macht den besonderen Reiz der Dreierbesetzung aus?
Sicherlich bietet die Triobesetzung viel Freiraum, wenn man viel improvisiert. Und es „fehlt“ oft ein Element im Gegensatz zu traditionellen Besetzungen. Bei »Das Kapital« wird der Bass mal von mir, mal von Hasse Poulsen ersetzt, es müssen also neue Rollen für die Instrumente gefunden werden. Bei „Velvet Revolution“ ging es mir auch darum, mit Feinheiten zu arbeiten. Und bei der Besetzung ohne Schlagzeug bleiben zum Glück viele Frequenzen frei. Auf der anderen Seite ist unsere Musik ziemlich rhythmisch, sodass wir zusammen das Schlagzeug ersetzen. Beim Komponieren habe ich das bei manchen Stücken sehr stark ausgenutzt. Ich spiele auch seit fast zehn Jahren im Trio von Vincent Courtois. Das ist mit zwei Tenorsaxofonen und Cello besetzt, eine wunderbare Band, bei der sich alle Klänge in der Mitte vereinen.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass Sie mit diesen Trios aus Jazz-Konventionen ausbrechen?
Es geht mir darum, das Traditionelle, Erlernte mit eigenem Inhalt zu verbinden und so eine Klangwelt zu schaffen, die sich bekannt anfühlt, aber meine eigene ist. Ein möglicher Weg dahin ist eine ungewöhnliche Instrumentierung, um vom erlernten Klangbild wegzukommen. Was das Repertoire angeht, ist mir wichtig, eigene Stücke zu schreiben, aber es sind natürlich viele Referenzen darin. Ich habe oft Standards gespielt und mache das auch weiterhin, aber eher zu Hause. Ich spiele oft zu Schallplatten mit, so bleibe ich mit den großen Vorbildern in Kontakt.
Beide Bands sind auch tri-national besetzt. Ist Ihnen das Paneuropäische wichtig?
Das ist am Anfang überhaupt kein Faktor, über den man nachdenkt. Es geht ja nur darum, wie ein Musiker spielt. Aber es hat sicherlich einen musikalischen Sinn, denn es kommen ja doch unterschiedliche Erfahrungen und Hintergründe zusammen, die dann eine neue Mischung ergeben. Mit Musikern aus anderen Ländern zu spielen ist wahnsinnig bereichernd, da man sich auf Tour viel austauscht, über Filme, Bücher, Musik, Kunst. So wird der Horizont erweitert, man lernt Neues kennen. Ich mag auch Sprachen und Akzente sowie ihre verschiedenen Klänge. Wenn wir mit unseren Besetzungen aus verschiedenen Ländern zu einer europäischen Jazzidentität beitragen, ist es mir recht.
Sie leben seit Jahren in Reims in Frankreich und gelten als gut vernetzt…
Ja, wir wohnen inzwischen nicht mehr in Paris. Wobei die meisten Künstler in den Westen Richtung Bretagne oder in den Süden gehen. Dadurch entstehen auch viele lokale Initiativen. In Reims arbeite ich mit diversen Organisatoren zusammen und habe mit Freunden eine Firma gegründet, „Das Atelier“. Da kann ich mit staatlichen Mitteln meine Projekte kofinanzieren. Das ist eine Besonderheit in Frankreich, dass viele Musiker so strukturiert sind, was auch am besonderen Status liegt, den man als Musiker in Frankreich hat. Auf jeden Fall fühle ich mich als Teil der französischen Jazzszene. Ich spiele momentan in den Bands von Vincent Courtois und Claude Tchamitchian, arbeite mit Christophe Marguet und Bruno Angelini.
Wie unterscheidet sich die Jazzszene in Frankreich und Deutschland?
Ich finde, es gibt in beiden Ländern momentan eine tolle Dynamik. Es ist eine gute Zeit für den Jazz. Die Unterschiede verschwimmen, es gibt auch immer mehr Initiativen, deutsche und französische Musiker zusammenzubringen. Die wichtigste ist dabei meiner Meinung nach das Jazzdor-Festival von Philippe Ochem. Ich spüre in beiden Ländern ein großes Interesse an dieser Art Live-Musik, bei der etwas im Jetzt passiert. Was die Veranstalterszene angeht, sehe ich allerdings einen großen Unterschied. In Frankreich arbeiten sehr viele Leute im Kulturbetrieb und werden für eine Arbeit bezahlt, die in Deutschland oft ehrenamtlich gemacht wird. Außerdem sind die Veranstalter in Frankreich stark vernetzt und tragen anfangs viele Projekte gemeinsam. Dafür ist in Deutschland die Clubszene viel größer, es gibt sehr viele engagierte Veranstalter.