Während der Pandemie wurde sie gelegentlich erwähnt: die „Helmholtz-Gemeinschaft“. Diese Organisation ist ein Verbund von 18 Forschungszentren im Spannungsfeld zwischen Technik, Naturwissenschaft, Biologie und Gesellschaft. Ihr Namenspatron Hermann von Helmholtz (1821 bis 1894) war der letzte große Universalgelehrte. Auch die Musik fiel in seine Kompetenz.
Unser Hörsinn ist in der Lage, in musikalischen Interpretationen feinste Nuancen zu unterscheiden. Doch das menschliche Gehör hat sich nicht anhand von Mozart-Sonaten und Bach-Variationen entwickelt, sondern in prähistorischer Zeit, als unsere Vorfahren noch Jäger und Sammler waren und eine potenzielle Beute für Raubtiere. Das Hören diente als Warnsinn – vor allem in der Nacht. Der Urmensch musste augenblicklich entscheiden, woher ein Geräusch kam, wie weit es entfernt war, wohin und wie schnell es sich bewegte, zu welchem Tier das Geräusch passte, wie groß und hungrig das Tier sein mochte, ob es eine Bedrohung darstellte usw.
Unser Gehör ist fähig, kleinste Luftbewegungen (Schallwellen) so zu analysieren, dass das Gehirn daraus praktisch ohne Zeitverzögerung ein „Hörbild“ der Umwelt schaffen kann – das konnte für den Urmenschen überlebenswichtig sein. Der Philosoph und Musikkenner Friedrich Nietzsche schreibt: „Das Ohr, das Organ der Furcht, hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so entwickeln können, wie es sich entwickelt hat.“
Das Hören meldet sich als erster Sinn
Noch beim heutigen Homo sapiens meldet sich das Hören als erster Sinn (schon im Mutterleib) und stirbt als letzter – als müsste es uns weiterhin ein Leben lang vor gefährlichen Raubtieren warnen. Noch heute kann sich unser Gehör auch gezielt auf die Richtung und Frequenz bestimmter Töne einstellen. Und noch heute haben viele Menschen eine tief sitzende Abneigung gegen unbekannte Geräusche – das betrifft übrigens auch Avantgarde-Musik. Alex Ross schreibt: „Während sich die verspritzten Abstraktionen von Jackson Pollock auf dem Kunstmarkt für 100 Millionen Dollar oder mehr verkaufen […], schickt das Äquivalent in der Musik noch immer Wellen des Unbehagens durchs Konzertpublikum.“
Die Empfindlichkeit unseres Gehörs übertrifft in vielerlei Hinsicht die der anderen Sinnesorgane. Hermann von Helmholtz gibt dafür dieses Beispiel: „Das Ohr ist in eminentem Grade das Organ für kleine Zeitunterschiede. Es ist bekannt, dass wenn zwei Pendel nebeneinander schlagen, durch das Ohr unterschieden werden kann bis auf etwa eine Hundertstelsekunde, ob ihre Schläge zusammentreffen oder nicht. Das Auge würde schon bei einer 24stel Sekunde scheitern, wenn es entscheiden sollte, ob zwei Lichtblitze zusammentreffen [gleichzeitig aufleuchten] oder nicht.“
Der Universalgelehrte
Hermann von Helmholtz studierte Medizin, promovierte in Anatomie (1842) und war als Chirurg tätig. Er wurde Professor für Physiologie (1848) und später für Physik (1870), arbeitete mit Hertz und Siemens zusammen und gehörte diversen Wissenschafts-Organisationen an, auch philosophischen und musikalischen Akademien. Seine Forschungen betrafen Fragen der Optik, Akustik, Hydrodynamik, Elektrodynamik, Thermodynamik, Elektrochemie, Meteorologie, Anatomie, Medizin usw. – aber auch der Psychologie, Erkenntnistheorie, Musik und allgemeinen Ästhetik. Wir verdanken ihm den Energieerhaltungssatz, die Dreifarbentheorie, die Wirbelsätze, die Helmholtz-Differentialgleichung, die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit u. v. a. Er erfand Apparate wie die Helmholtz-Spule, den Helmholtz-Resonator, das Ophthalometer (Augenspiegel), das Telestereoskop. In der Musik führte er die Bezeichnung der Oktavlagen ein („eingestrichen“, „zweigestrichen“ usw.).
Auch in seinem Buch „Die Lehre von den Tonempfindungen“ (1863), an dem er acht Jahre lang gearbeitet hat, schlägt Helmholtz viele Brücken zwischen den Disziplinen. Er behandelt darin die physiologischen Grundlagen des Hörens, die physikalische Beschaffenheit von Tönen und die ästhetische Begründung der Tonsysteme. Sehr Verschiedenes steckt also in diesem Buch: Anatomie, Mathematik, Musikgeschichte… Dieser interdisziplinäre Ansatz lebt heute in der „Systemischen Musikwissenschaft“ wieder auf.

Angeregt vom Anti-Idealismus des Musikkritikers Eduard Hanslick (der schrieb, Musik sei nichts anderes als „tönend bewegte Formen“), versuchte sich Helmholtz an einer naturwissenschaftlich gesicherten Grundlagentheorie der Musik. Vieles, was er anführte, war zu seiner Zeit nicht neu – aber er hat als Erster diese Zusammenhänge systematisch dargestellt und mit eigenen Experimenten belegt. Dafür verwendete er diverse Apparaturen und Vorrichtungen, darunter den Scottschen Phonautografen, ein Vibrationsmikroskop, phasentreu schwingende Stimmgabeln, eine Lochsirene, den Helmholtz-Resonator, die Chladni-Klangfiguren, die Lissajous-Messungen, ein Harmonium in reiner Stimmung und weitere Musikinstrumente (Flügel, Klarinette u. a.).
Der Ton und das Ohr
Auch beim Musikhören „interpretiert“ das Gehirn die Schallwellen, die im Ohr ankommen, und erzeugt daraus ein „Hörbild“. Helmholtz, der Nervenleitungs-Forscher, unterscheidet klar zwischen der „Tonempfindung“ und der „Tonwahrnehmung“. Die eine betrifft den Empfang des Schallsignals im Ohr, die Perzeption; die andere betrifft die Deutung des Gehörten im Gehirn, die Apperzeption. Der Ton, den zum Beispiel ein Blasinstrument erzeugt, besteht aus Grundton und bestimmten Obertönen, ist also eigentlich ein „Klang“. Die einzelnen Schwingungen (Sinuskurven) von Grundton und Obertönen addieren sich zu einer komplexen Schallwelle, die im Ohr ankommt. Dort aber wird sie „gemessen“ und in ihre Einzelschwingungen zerlegt!
Während es im Auge nur drei Sorten von Zapfenzellen gibt (für Blau, Grün und Rot), existieren im Ohr Nervenzellen für jede einzelne Frequenz (Schwingung) – so wie das Klavier für jeden Ton eigene Saiten hat. Das Ohr vollzieht also an verschiedenen „Orten“ die Einzelschwingungen des komplexen Tons nach. Das Gehirn nun interpretiert diese Einzelschwingungen und verwandelt sie in einen Gesamtton von einer bestimmten Klangfarbe (je nach Obertonstruktur). In Helmholtz’ Worten: „Die Zusammenfassung von Partialtönen zu einem Klange ist ein Vorgang, welcher in das Gebiet nicht der Empfindungen, sondern der Wahrnehmungen fällt.“ Die Vermessung des Klangs, wie sie in unserem Innenohr stattfindet, entspricht im Grunde der sogenannten Fourier-Analyse. Die Leistung des Gehirns wiederum, das aus den einzelnen Sinuskurven einen Gesamtklang generiert, ist das Modell für die Klangerzeugung bei den meisten elektronischen Instrumenten.
Konflikt der Nervenfasern
Aus dem Obertonspektrum der Töne erklärt Helmholtz auch, was wir in der Musik als Konsonanz oder Dissonanz wahrnehmen. Konsonant sind jene Töne, deren Obertöne weitgehend übereinstimmen (Oktave, Quinte, Quarte). Als dissonant nehmen wir Töne wahr, deren Grundton, Obertöne oder Kombinationstöne einander in die Quere kommen, weil einzelne von ihnen zu nahe beieinander liegen und deshalb bei den entsprechenden Rezeptoren im Ohr Verwirrung stiften – in Helmholtz’ Worten: „dieselben Nervenfasern affizieren“. Das Gehirn übersetzt solche „Konflikte“ in Interferenzen oder Schwebungen – wir hören sie als klangliche „Rauigkeit“. Schon ein Moll-Akkord besitzt wegen seiner Kombinationstöne eine größere „Rauigkeit“ als ein Dur-Akkord, was den als „traurig“ oder „gequält“ empfundenen Moll-Charakter erklärt. Bei hohen Tönen (hoher Schwingung) ist die Rauigkeit stärker, weil die Schwebungs-Kollisionen einander schneller folgen.
Unterschiedliche Instrumente haben bekanntlich unterschiedliche Klangfarben (Obertonspektren). Wird eine Partitur anders instrumentiert, ändern sich auch die Obertonkonflikte. Helmholtz gibt ein Beispiel: „Wenn man eine Klarinette mit einer Oboe zusammen gebraucht, werden die meisten Konsonanzen merklich verschieden klingen, je nachdem, ob die Klarinette die obere oder untere Note des Zusammenklangs übernimmt. So wird zum Beispiel eine große Terz d’-fis’ besser klingen, wenn die Klarinette das d’ und die Oboe das fis’ übernimmt, [wogegen] die Quarte und kleine Terz besser klingen, wenn die Klarinette die obere Note übernimmt.“