Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Das Baritonsaxofon im Jazz: Lady mit Belcanto

Foto: www.blashaus.ch

In der Bigband ist die Rolle des Baritonsaxofons eindeutig. Es bildet die tiefste Stimme im vier- oder fünfstimmigen Saxofonsatz. Das Baritonsaxofon liefert den Saxofonen den harmonischen Grundton, den rhythmischen Halt, die weiche oder kantige Basis. Es ist unverzichtbar.

Schon das Ur-Saxofon war ein Tieftöner. Der Instrumentenbauer Adolphe Sax hat dieses Ding nämlich erfunden, um der Bläsermusik endlich ein ordentliches Bassfundament zu verpassen. Weil die Blasinstrumente seiner Zeit “im Allgemeinen entweder zu rau oder zu stumpf in ihrem Klang” waren, und zwar “besonders in der Tiefe”, wie er schrieb, wollte Sax ein Instrument mit einem kraftvollen, schönen, markigen Sound erschaffen. Sein Prototyp, 1841 gefertigt, war ein Basssaxofon – für dieses Modell entstand auch die erste Saxofonkomposition. Der Komponist Hector Berlioz, Sax’ wichtigster Verbün­deter, nahm sich dafür eine eigene Chorhymne vor und bearbeitete sie als Bläsersextett für verschiedene Sax-­Instrumente. Bei der Aufführung 1844 übernahm Adolphe Sax selbst den Basspart – auf dem neuartigen Instrument. Berlioz beschrieb den Ton des tiefen Saxofons als “voll, sanft, vibrierend, extrem kräftig und dabei in der Intensität leicht zu drosseln”.

Das Baritonsaxofon als Stütze des Saxofonsatzes

In der Jazz-Bigband stützt das Baritonsaxofon den Satz mit Walk-Figuren, Riff-Figuren und Markierungstönen. Der Baritonist Joe Temperley (1929 bis 2016) nannte sein Instrument einmal das “Arbeitspferd” der Bigband. Einer der berühmtesten Bigband-Baritonisten überhaupt war Harry Carney (1910 bis 1974), der 47 (!) Jahre lang bei Duke Ellington diesen Job verrichtete. Eigentlich hatte er Altsaxofon gelernt und jammte als Jugendlicher häufig mit Johnny Hodges. 1927 steigt Carney aber bei Ellington ein und lernt dafür aufs Bariton um, denn die anderen Positionen in der Band sind schon vergeben.

Seine Kollegen beschreiben ihn als den geborenen Baritonspieler – auch als Mensch zuverlässig, unaufdringlich, eine sichere Stütze. Benny Goodman nennt ihn “schüchtern und lieb”, Ellington macht ihn zu seinem Vertrauten und Chauffeur. Im tiefen Register, so sagt Carney, wolle er wie der Basssaxofonist Adrian Rollini klingen, im ­hohen wie der Tenorsaxofonist Coleman Hawkins. Carney ist einer der Ersten, die im Jazz die Zirkularatmung beherrschen. Seine Nebeninstrumente sind die Klarinette und die Bassklarinette.

Emanzipation der Saxofone 

Baritonsaxofone galten lange Zeit als schwer­fällig – doch die Jazz-Arrangeure nahmen darauf keine Rücksicht. Sie begannen den Saxofonsatz so zu behandeln, als wäre er ein einziges mehrstimmiges Instrument, eine Art Saxofonorgel. Benny Carter erklärte schon 1937 vier Saxofone plus Rhythmusgruppe zu einer eigenständigen Band. Saxofongruppen glänzten zunehmend losgelöst vom Orchester, so etwa – quer durch Stile und Zeiten – die Four Brothers (Bariton: Serge Chaloff), Supersax (Bariton: Jack Nimitz), The Microscopic Septet (Bariton: Dave Sewelson) oder SaxEmble (Bariton: Alex Harding).

Seit den 1970er Jahren ist auch die Besetzung des klassischen Saxofonquartetts im Jazz zu Hause – also: vier Saxofone pur. Den Anfang machte das World Saxophone Quartet (WSQ), das aus einer Aufnahme von Anthony Braxton (1974) hervorging. Im unbegleiteten Saxofonquartett wird der Baritonspieler erst recht zum harmonischen Herzen und rhythmischen Motor der Band. 1981 galt Hamiet Bluiett (1940 bis 2018), der Tieftöner im WSQ, als “der wahrscheinlich wichtigste Baritonvirtuose des letzten Jahrzehnts oder so” (Stanley Crouch). 

Vor allem in den 1980er Jahren war das unbegleitete Saxofonquartett (oder -quintett, -sextett usw.) eine der populärsten Erscheinungen auf den internationalen Jazzbühnen. Da wurde unüberhörbar: Diese Besetzung steigt und fällt mit ihrem Baritonspieler, mit seiner Verlässlichkeit, seinem rhythmischen Swing, seiner harmonischen Flexibilität. Der Baritonsaxofonist Jon Raskin (geb. 1954) war Mitbegründer des Quartetts ROVA – er ist das “R” im Bandnamen. Thomas Zoller (geb. 1954) war der Gründer und Leader der Munich Saxophone Family. Jim Hartog (geb. 1950) gab dem 29th Street Saxophone Quartet den federnden, tiefen Halt. Fred Ho (1957 bis 2014) tat dasselbe beim Julius Hemphill Sextet, Howard Turner (geb. 1957) bei den Itchy Fingers, Roger Lewis (geb. 1941) beim New Orleans Saxo­phone Ensemble – Lewis war auch der Tiefenanker in der gefeierten Dirty Dozen Brass Band. “Ich spiele das Bariton wie ein großes, fettes Tenor”, sagte er. “Das Tenor war mein erstes Instrument.” 

Heiße und kühle Solisten

Viele Baritonsaxofonisten begannen ihre Jazz­karriere am Alt oder Tenor. Leo Parker (1925 bis 1962) zum Beispiel wechselte erst das Instrument, als ihm der Baritonposten in Billy Eck­stines Bigband angeboten wurde (1944). Ähnlich ging es Sahib Shihab (1925 bis 1989), der 1951 bei Dizzy Gillespie als Baritonist einstieg. Shihab hatte vorher schon Lead-Alto in diversen Bigbands gespielt und auch als Altist des legen­dären Pianisten Thelonious Monk gearbeitet. In den 1960er Jahren übernahm er den Baritonpart in einem der damals besten Jazzorchester überhaupt, der Kenny Clarke-Francy Boland Big Band (CBBB).

Boland war bekannt für die anspruchsvollen Chorusse, die er für seinen Saxofonsatz schrieb. Benny Bailey, der den Trompetensatz führte, meinte über Shihab: “Man musste ein Meister sein, um diese unglaublichen Saxofonsätze im unteren Register zu spielen.” Für den Jazzproduzenten Joachim Ernst Berendt war Shihab “der führende Baritonist im modernen Jazz” (1967). Das Altsaxofon behielt er übrigens als Nebeninstrument, ebenso Sopransaxofon und Flöte.

Anspruchsvolle Chorusse

Weil in der Nachkriegszeit einige hervorragende Saxofonisten Bigband-Jobs am Bariton inne­hatten, gab es plötzlich am großen Horn auch echte Jazzsolisten. Bei der Flut an guten Alt- und Tenorspielern, die um 1950 unterwegs waren, bekam man mit diesem Instrument die Chance, in seiner eigenen Liga zu starten – denn wer wollte sich schon ernsthaft an Charlie Parker messen? Das laute, tiefe Baritonsaxofon sorgte für einiges Aufsehen. Sahib Shihab, Leo Parker und Cecil Payne (1922 bis 2007) waren die führenden Baritonsaxofonisten des Bebop.

Bereits 1949 machte auch Gerry Mulligan (1927 bis 1996) auf sich aufmerksam. Er blies das Bariton allerdings auf seine eigene Weise, dynamisch zurückgenommen, elegant, leichtfüßig und relaxt. Und er zelebrierte den lyrischen Ton der mittleren Lage. Mit seinem gedämpften Spiel und seiner Vorliebe für Bläser-Kontrapunktik prägte Mulligan den Cool Jazz in New York und ab 1952 auch den West Coast Jazz in Los Angeles. Ebenfalls der Cool-Jazz-Ästhetik verbunden waren Serge Chaloff (1923 bis 1957), Bob Gordon (1928 bis 1955), der Schwede Lars Gullin (1928 bis 1976) oder der Deutsche Helmut Brandt (1931 bis 2001).

Mit Messers Schärfe

Ein vielbewunderter Baritonsaxofonist war Pepper Adams (1930 bis 1986), der seinen Ehren­namen “Pepper” nicht umsonst trug. Er kam aus der “Motor City” Detroit und spielte das Bariton mit berstender, eruptiver Hardbop-Energie. Viele Radiohörer hielten ihn daher für einen großen, kräftigen Afroamerikaner. Doch Pepper Adams war so ziemlich das Gegenteil: ein bleicher, schmaler Kerl mit Hornbrille und hoher Stirn, Typ: Literaturprofessor. Über die Jamsessions in Detroit sagte er einmal: “In den meisten Fällen war ich der einzige weiße Musiker in der Band.” Die Energie von Coleman Hawkins (Tenor) und der Sound von Harry Carney (Bariton) waren ihm Vorbilder. Wegen seines leidenschaftlichen und aggressiven Spiels nannte man Adams später auch “The Knife”. “Pepper stach und schlug zu, und bevor er fertig war, hatte er alles in Stücke geschnitten” – so beschrieb der Schlagzeuger Mel Lewis den Solisten Adams. In Lewis’ Bigband hatte Adams rund 20 Jahre lang den Bariton-Posten inne.   

Dem kraftvollen Spiel von Pepper Adams verpflichtet sind Baritonspieler wie Ronnie Cuber (geb. 1941), Nick Brignola (1936 bis 2002) und Gary Smulyan (geb. 1956), die eine Zeit lang sogar ein gemeinsames Ensemble hatten – die Three Baritone Saxophone Band. Wichtig für die Geschichte des Baritonsaxofons sind aber auch Musiker, die das tiefe Horn “nur” als Neben­instrument spielen. Dazu gehören der West­coast-Tenorist Jimmy Giuffre (1921 bis 2008), der Deutsche Bernd Konrad (geb. 1948) oder der englische Saxofonist und Bassklarinettist John Surman (geb. 1944).

Zu den beliebtesten Baritonspielern heute zählt James Carter (geb. 1969), der aber fast alle Saxofongrößen und außerdem Bassklarinette und Flöte bläst. “Jedes Horn hat seine eigene Persönlichkeit – eine komplexe Persönlichkeit”, sagt der Multi-Instrumentalist Carter. “Das Sopran besitzt diese zarte Lyrik und auf der anderen Seite diesen dominanten Bechet-Ton. Das Tenor ist wie die mensch­liche Stimme. Und das Bariton ist eine Lady mit Belcanto, aber es kann auch rau und roh sein.”