Orchestra | Von Renold Quade

Das Concerto de Paris von Serge Lancen

Paris
Foto: Ruben Miranda/ Pixabay

Die französische Hauptstadt Paris ist eine der bedeutendsten Großstädte Europas und zählt zu den führenden Zentren für Kunst, Mode, Gastronomie und Kultur weltweit. Und sie ist immer wieder Inspirationsquelle für Künstlerinnen und Künstler jed­wedes Genres – auch für den Komponisten Serge Lancen.

Der Komponist

Serge Jean Mathieu Lancen wurde 1922 in Paris geboren und verstarb im Jahre 2005 ebenda, in seiner geschätzten Heimatstadt, wenige Mo­nate vor seinem 83. Geburtstag. Seit frühester Kindheit intensiv an Musik interessiert – er lauschte dem Vernehmen nach mit Freuden dem Klavierspiel seiner Mutter und er erlebte seinen Vater als Violinist in einem Amateurorchester – absolvierte er schließlich das Pariser Konservatorium in den Fächern Klavier, Harmonielehre, Kontrapunkt und Komposition mit Bravour.                                                        

Sein musikalisches Schaffen umfasst zahlreiche Kompositionen für sinfonisches Orchester, Messen und religiöse Werke, Instrumentalkonzerte, Filmmusik, zwei Ballette und auch ein Bühnenwerk. Erst mit knapp 40 Jahren lernte er das sinfonische Blasorchester kennen und lieben. Sein Freund aus Studientagen, der Klarinettist Désiré Dondeyne, in diesen Zeiten zum Dirigenten des Pariser Polizeiorchesters aufgestiegen, brachte ihn auf die Spur und unterstützte ihn zudem bei der Orchestrierung seiner frühen Werke.

Bereits sein erstes Werk, die 1962 entstandene „Manhattan Symphonie“, wurde ein internationaler Erfolg. Nicht zuletzt, weil es beim 5. Weltmusikwettbewerb 1966 in Kerkrade als Pflichtstück der ersten Division nominiert wurde. Von da an komponierte er regelmäßig, bis in die 1990er Jahre hinein, ein bis zwei Originalwerke für Blasorchester jährlich. Dabei war er nicht nur auf die große Sinfonik festgelegt.

Lancen war durch und durch ein französischer Geist

Man findet in seinem Schaffen zum Beispiel auch eine kleine Rhapsodie über Volkslieder oder auch pädagogisch inspirierte Werke wie „Versailles“ aus dem Jahre 1979, eine vom französischen Staat beauftragte Komposition, mit der Auflage, die begrenzten technischen Spielfähigkeiten mittlerer Laienorchester zu berücksichtigen. Im BeNeLux-­Raum wurde ab 1977 gern gespielt das großflächige Tongemälde „Le Mont St. Michel“. Und mir persönlich ist aus dem Jahre 1978, ich besuchte damals zum ersten Mal die Wettbewerbe in Kerkrade, sein Werk „Cape Kennedy“ in reger Erinnerung. Die „Symphonie de l’eau“ (1986) und seine „Missa Solemnis“ (1989) gehören ebenfalls zu seinem beachteten Originalrepertoire.

Serge Lancen war nicht nur einer der führenden französischen Komponisten für Blasorchester seiner Zeit, er war zudem immer durch und durch ein französischer Geist, der besonders seiner Heimatstadt Paris sein Leben lang treu verbunden war. Nicht zuletzt schon mit seiner „Symphonie de Paris“ aus dem Jahre 1973, die dem Publikum einen Besuch in seiner Heimat mit musikalischen Mitteln eröffnete.

Zum Jahrtausendwechsel wurde es ruhig um ihn, denn er erkrankte in seinen letzten Lebensjahren schwer an Alzheimer. Serge Lancen fand im Sommer 2005 auf dem Friedhof von Montparnasse seine letzte Ruhe.

Die Idee  

Dieses Ende 1982 bereits komponierte, und mit dem Komponisten als Solisten zum Jubiläumsjahr des Molenaar-Verlages uraufgeführte Concerto (wohl erst verlegt 1984), ist sein zweites großes Werk für Klavier und Harmonieorchester. Schon etliche Jahre zuvor, 1971, präsentierte er sein dreisätziges „Parade Concerto“ für diese Besetzung.

Beim „Concerto de Paris“ schwebte ihm dann aber eine ganz andere Form vor. Er wählte die Rhapsodie. Er setzt seine Musik zusammen aus verschiedenen Episoden, die eher nahtlos ineinanderfließen und dabei eine Atmosphäre tradi­tioneller „Pariser Stimmungsbilder“ aufrufen. Da folgt einer leichtfüßig anmutenden Eingangspromenade ein eher lyrisch, schwermütiges zweites Hauptthema. Dem schließt sich ein kecker Pariser Musette-Walzer mit wohl bewusst frühlingshaftem Charakter an und weiter geht’s mit der Anlehnung an einen Java, einer Volkstanzform, seiner Zeit sehr beliebt in den Vorstädten und weniger prominenten Vierteln der Stadt. Abgerundet wird das Ganze von einem Cancan, der die Wiederkehr von bereits verwendeten Themen zum Schluss miteinschließt. 

Der Aufbau 

1. Thema: 

Die ersten Töne des Werks gehören einer begleitend perlenden Triolenumspielung durch das Klavier, bevor zum zweiten Takt zügig eine Solotrompete mit dem a-Teil des ersten Themas die Bühne betritt. In Takt 9 greift das Klavier dieses Thema voll-akkordisch auf, derweil Klarinetten rhythmisch, quasi ostinat, begleiten. Ab Takt 18 agiert das Klavier alleine und stellt cantabile den b-Teil des ersten Themas vor. Ab Takt 29 folgt das erste große Tutti. Das Orchester gibt den Ton an (a), während das Klavier mit frechen Akkorden dazwischenschlägt. Taktwechsel brechen die Energie und leiten in ein „Meno Alle­gro“ über, das sich ab Takt 41, zunächst angeführt vom Klavier, dann ablösend geführt vom Orchester (Flöte, Sax-Satz), mit der Motivik des b-Teils beschäftigt. Bis Takt 63 umspielen und verweben sich solistische Bläser (Bariton, Altsaxofon, Oboe (Klarinette) und Klavier. 

Ab Takt 64, nach vorausgegangenem kurzen accelerando, geprägt von torkelnden Dreier- und Zweier-Achtelgruppen im solistischen Klavier, wird das erste Tempo wieder erreicht. Die Achtelgruppen, abgeleitet aus den Achtelkonstellationen des a-Teils, formieren sich zu begleitenden 3+3+2-Ostinati, derweil solistische Bläser mit dem synkopischen Motiv des a-Teils aufblitzen. Ein kurzer Taktwechsel führt die burleske rhythmische Situation in ein stabiles Orchestertutti, das mit dem Wiederaufgriff des a-Teils die Schlusskadenzierung, ab Takt 76 wieder angeführt vom Klavier, einleitet und diesen ersten großen Sinnabschnitt bis Takt 84 zu einem Ende führt.

Das erste Thema hat absolut gesehen die Formgestalt aaba und steht zunächst in F-dur. Der Gebrauch von „as“ und „es“ gegen Ende des a-Teils würzt ein wenig „blue“. Der b-Teil, durchweg kontrastierend zum a-Teil, steht gar in As-Dur.

Ich möchte diese Ausführlichkeit zu Beginn nutzen, um hier exemplarisch die verwoben-dialogisierende Kompositionsweise im Zusammenspiel vom Klaviersolisten, von Orchestersolisten, von kleinen Orchestergruppen bis hin zum großen Tutti zu verdeutlichen. Hier spürt man sofort die rhapsodische Anlage des Werkes. 

2. Thema:

Von Takt 85 bis Takt 124 erstreckt sich im ruhigen „Moderato2 der erste Wirkungsbereich des 2. Themas. Sanfte Akkorde tenuto, im Klavier eher unruhig arpeggiert, die zwischen Dur und Moll schwanken, beruhigen, bzw. bauen eine fragende Spannung auf, die in Takt 98 das 2. Thema, „lirico“, in Dur, im Klavier freigibt. Nach acht Takten verspielt es sich aus sich selber heraus und lädt das Orchester ab Takt 111 zum zweiten Anlauf ein, der nach wenigen Takten erneut zum Dialog wird.

Walzer:

Ab Takt 124, es verklingt im Klavier gerade der letzte Akkord des 2. Themas, macht sich im Orchester ein beschwingter Musette-Walzer in B-Dur auf den Weg. Ab Takt 154 übernimmt das Klavier in F-Dur. Dialogisierend, verspielt und ab Takt 170 folgt im Orchester der zweite Anlauf, nun in Des-Dur. Die Übernahme durch das Klavier lässt nicht lange auf sich warten und in Takt 198 beginnt wieder das Orchester, ausgeschmückt von Arpeggio-Kaskaden des Klaviers, nun im As-Dur, einen neuen Walzergedanken, der auch ab Takt 214, nun in F-Dur, alle Musikerinnen und Musiker weiter beschäftigt.

2. und 1. Thema:

Ab Takt 245 bis Takt 273 meldet sich dann der Themakomplex des 2. Themas noch einmal zu Wort, ab Takt 274 bis Takt 311 steht die Substanz des 1. Themas wieder im Vordergrund. Ein solistisches Horn mit Fermaten-Ton beschließt diesen Sinnabschnitt und führt in eine gefühlte Generalpause.

Java:

Den Java beschreibt die einschlägige Literatur als einen Gesellschaftstanz im ¾-Takt, entstanden aus der Musette-Kultur, mit Wurzeln in der Auvergne. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebt und gepflegt nicht nur in den Randbezirken von Paris, sondern auch auf Bällen in der Stadt.

Von Takt 312 bis Takt 528 erstreckt sich dieser, in wieder neuer Charakteristik angelegte Abschnitt. Wir bleiben im Dreiertakt, sind aber nicht mehr so unbekümmert wie beim Musette-Walzer unterwegs. Der Java kommt zunächst eher schwermütig daher. Es bleibt nicht dabei, dass eine Hemiole lediglich zum spannungssteigernden Einstieg benutzt wird. Die Hemiole ist fester Bestandteil eines Konzepts, das, natürlich fußend auf einem tänzerischen Java-Gedanken, immer wieder für Momente sorgt, die den Fluss eines reinen Volkstanzes definitiv stören. Auch harmonisch sind wir hier weit von Volksgut entfernt. Da kommen Gedanken von Nachdenklichkeit und Unsicherheit auf. Ab den Takten 346 und 390 »läufts« dann auch mal für acht Takte ein wenig und ab Takt 421, quasi in einem neuen Mittelteil, auch einmal wieder etwas länger. Ab Takt 475 beginnt eine Art Überleitung, die ab Takt 490 in Reprisen-Manier den ersten Gedanken dieses Abschnitts bis Takt 528 erneut aufnimmt.

Das Dialogisieren von Klavier und Orchester, teils phrasenüberlappend, ist auch hier kompositionstechnisch das Maß der Dinge. Jeder bekommt im ausgewogenen Wechsel den Scheinwerfer auf sich gerichtet und kann mit seiner klanglichen Individualität, und somit abwechslungsreich, seinen Teil zum Stimmungsbild beitragen. 

Cancan:

Der Cancan ist ein schneller Tanz im 2/4-Takt, der um 1830 in Paris entstand. Er war Tanz und ein Tabubruch zugleich. Der Damenpart mit Spagat und „Beineschwenken“ bei hochgehaltenem Rock war gleichsam frisch wie frech. Damals war er als eher exzentrischer Gesellschaftstanz in den Cafés gepflegt, heute mehr als Showact auf lokalen und internationalen Varietébühnen. Zur Herleitung des Namens stehen zwei Versionen Pate. Da ist zum einen die gegebenenfalls kindliche Aussprache des französischen Wortes „canard“ (Ente), in Anspielung auf den ausgeprägten Hüftschwung der Tänzerinnen und zum anderen die Herleitung aus dem französischen Wort für Tumult, „caquehan“. 

Die Takte 542 bis 772 präsentieren nun die Substanz eines flotten Cancans. Ab Takt 529 zunächst, aus dem ritardierenden Fluss des Java heraus, ein Takt und Tempowechsel, der im Klavier den neuen Charakter in der Musik vorbereitet. Das Orchester stellt zunächst über zwei Mal 16 Takte den ersten Teil des Cancan-Themas vor. Es entspricht in seiner einfachen rhythmischen Anlage der landläufigen Vorstellung dieses ausgelassenen Tanzes, überrascht aber sicher mit seiner komplexen chromatischen Harmonisierung und hebt das Geschehen (nicht nur damit) auf eine sinfonisch-konzertante Ebene.

Klavier und Orchester werfen sich die Bälle z

Ab Takt 574 erklingt ein weiterer Gedanke, zwei Mal über neun Takte und nun in Moll, der vom Klavier mit Begleitarpeggien gewürzt wird. Das Klavier übernimmt ab Takt 592 wieder solistisch die Initiative und spielt munter mit den Motiven. Ab Takt 615 werfen sich dann Klavier und Orchester in Dur im munteren Dialogisieren wieder die Bälle zu und treiben den Cancan weiter.

Ein kleiner Orgelpunkt, durchaus genreüblich an solcher Stelle, baut ab Takt 643 ein wenig Spannung auf und gibt ab Takt 663 ein Orchestertutti frei, das den ersten Teil des Cancans wieder frisch zitiert. Das Klavier nimmt ab Takt 679 erneut den Gedanken des zweiten Teiles auf. Ab Takt 697 beginnt ein weiteres intensives Dialogisieren und man gewinnt den Eindruck, als ob der Cancan in eine Coda geführt würde. Doch ab Takt 720 wird man zunächst eines Besseren belehrt. Der Tanz flammt noch einmal auf und schließlich, ab Takt 752, nimmt eine reale Coda erst Fahrt auf. 

Coda:

Die kleine Cancan-Coda leitet schließlich ab Takt 773 die große Schluss-Coda des Concertos ein. Der fröhliche Musette-Walzer, das intensive zweite Thema und der Cancan wirbeln noch einmal vor unseren Ohren, bevor das Werk mit großer Schlussgeste ausklingt. 

Die Instrumentation 

Die Besetzungsvorgabe des Orchesters entspricht der für die Zeit des Entstehens typischen Instrumentationsweise und, zumindest im Holz-Satz, den französischen (und BeNeLux-) Gepflogenheiten. Sie gibt einem vollen Holz-Satz seine Aufgaben, forciert aber nicht den Bedarf an gegebenenfalls Mangelinstrumenten, nicht zuletzt gesichert durch Alternativangebote. Zudem weist sie einige Stimmen als nicht zwingend erforderlich aus. Das Klarinettenregister ist aus konventioneller Sicht ein wenig speziell. Von zwei Solo-Klarinetten ist eine notwendig, die 1. Klarinette gib es in zwei Stimmen A und B. (Stimmen, nicht Stimmungen). Auch die Es-Klarinette ist besetzt. Der Bassklarinette kommt keine besondere Bedeutung zu.

Das Blech ist in hohen und mittigen Lagen durchweg dreistimmig besetzt, die Baritonlage mit zwei Stimmen abgebildet. Das Schlagwerk wird eher sparsam eingesetzt, wenngleich sehr differenziert mit Effekten. Allgemein ist das technische Anforderungsprofil an die Orchestermusikerinnen und -musiker sicherlich anspruchsvoll, aber absolut gesehen definitiv nicht zu hochgeschraubt. Der Schwerpunkt der Herausforderung liegt in der Notwendigkeit solistischen Einfühlungsvermögens. Dies bedarf selbstverständlich großer Solidität und verlangt präzises Musizieren. Sehr umfangreiche Eintragungen zur Artikulation helfen dabei ungemein und sorgen stets für Klarheit.

Die Partitur ist eher ein zweireihiges Particell, kombiniert mit der Klavierstimme. Das ist kompakt für die Aufführung, zum Erarbeiten auf der Probe eher suboptimal. Die Gesprächskultur Dirigent-Orchester wird bei Proben sicher das ein oder andere Mal rückfragend angeregt.

Fazit

Prof. Hans Walter Berg schrieb zum Thema unter anderem, dass „…Lancen in der Nachfolge Impressionistischer Musik nicht zur heutigen französischen Avantgarde zählt. Bei aller Raffinesse in seiner Erfindung ist er doch nie dem Einfachen fremd geworden. Quelle seiner Inspiration bilden Lied und Tanz. Das gilt besonders für das ‚Concerto de Paris‘ mit seinen typischen französischen Tänzen Musette-Walzer, Java und Cancan. Diese Tänze werden bruchlos miteinander verbunden und heben sich vom Gebrauchsvolkstanz durch symphonische Verarbeitung ab. Große symphonische Tradition prägt das spritzige und witzige erste Thema und das lyrische Kon­trast-Thema. Die besondere Kunst der Komposition liegt in der nahtlosen Verbindung von 8 Episoden mit einer Dauer von 20 Minuten.“

Das Concerto ist wahrlich ein Solistenkonzert, das dem Pianisten technisch und musikalisch so Einiges abverlangt. Das begleitende Orchester findet sich dazu, aus meiner Sicht sehr erfreulich, in sehr vielfältigen Rollen wieder. Es ist nur an wenigen, dann aber doch sehr aussagekräftigen Stellen kompakt im Tutti eingesetzt. Ansonsten überwiegt eher der Gedanke, die musikalischen Ideen in kleineren Instrumentengruppen zu stützen, zu kontrastieren und zu pointieren. Das bedeutet stete, teils solistische Aufmerksamkeit aller Register, deren Farben sich klug und abwechslungsreich bedarfsorientiert mit dem Klavier verweben. Das Klavier steht schon grundsätzlich im Vordergrund, erfüllt dabei aber auch gerne begleitende Aufgaben und stützt klug thematisch wichtige Bläserparts. Beide Protagonisten, Klavier und Orchester, laufen zudem erfreulicher Weise nie Gefahr, sich in rein zur Schau gestellter Virtuosität zu verlieren. Dialogisieren und einander zuspielen ist Trumpf.