Der Romantiker E.T.A. Hoffmann fragte 1814: „Sollte, wenn von der Musik als einer selbstständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein?“ Denn nur aus ihr, schrieb er, spreche das reine Wesen der Musik – absolut, ohne fremde Zutaten.
Unser Wort „Musik“ kommt aus dem Altgriechischen. In der Antike bezeichnete „musiké“ allerdings eine Art Multimedia-Performance, bestehend aus Sprache (Vers, Gesang), Rhythmus (Tanz) und Instrumenten (Musik). Das Klangliche allein, das Instrumentalspiel ohne Gesang, war noch keineswegs „musiké“. Der Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades hat darauf hingewiesen, dass »der Grieche kein Wort für das, was wir Musik nennen, besaß«. Auch in der mittelalterlichen Kirche war Musik stets Dienerin des Wortes. Wenn Augustinus über den Rhythmus schreibt, dann meint er Bibelverse. Selbst die „Erfindung“ der Polyphonie im 15. Jahrhundert erfolgte in reiner Vokalmusik und auf der Basis frommer Texte. Nur langsam fanden zum Beispiel Blasinstrumente überhaupt Eingang in die Kirchenmusik, zunächst nur als Verstärkung der Singstimmen. Reine Instrumentalmusik war den Kirchenoberen lange Zeit verdächtig, weil sie Raum lässt zum freien Denken und Träumen.
Auch an den Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts galt Instrumentalmusik noch nicht viel. Sie war nur „Muzak“ und „Divertissement“, reine Hintergrundbeschallung bei Mahlzeiten, Spielen, Konversationen. Der Theologe und Aufklärer Johann George Sulzer schrieb noch 1793, Konzertmusik werde „bloß zum Zeitvertreib und etwa zur Übung im Spielen angestellt“. Sie sei „ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwätz“. Auch Johann Wolfgang von Goethe hatte noch ein recht gleichgültiges Verhältnis zur Instrumentalmusik. Im Grunde interessierte ihn Musik nur als Dienerin des Dichterworts, vorzugsweise seines eigenen. Schon das „Durchkomponieren“ von Liedern, wobei jede Strophe einen eigenen Charakter bekommt, war ihm zu viel an musikalischer Eigenständigkeit.
Die unbedingte Musik
Alles ändert sich mit der bürgerlichen Revolution und der Gedankenwelt der Romantiker. Die von der Sprache „emanzipierte“ Instrumentalmusik wird zum Eigentlichen erklärt, das Sprachliche zu einem „Zusatz“ von außen. Stellvertretend fordert Wilhelm Heinrich Wackenroder eine „unabhängige und freie“ Musik, die sich von Wort und Funktion gelöst hat: „Sie schreibt sich nur selbst ihre Gesetze vor, sie fantasiert spielend und ohne Zweck, und doch erfüllt und erreicht sie den höchsten [Zweck], sie folgt ganz ihren dunklen Trieben und drückt das Tiefste, das Wunderbarste mit ihren Tändeleien aus.“
Für E.T.A. Hoffmann sind Beethovens Werke der Inbegriff einer eigenständigen, einer „absoluten“ Musik. Was auch immer später in den Begriff des „Absoluten“ hineingeheimnisst wurde: „Absolut“ heißt hier nichts anderes als „unbedingt“, nicht gebunden an äußere Absichten, Ziele, Texte, Handlungen, Vorstellungen oder Emotionen. Denn es sei eine „sonderbare Anmaßung“, schreibt Friedrich Nietzsche, wenn man Musik „in den Dienst einer Reihe von Bildern und Begriffen“ stelle, sie als „Mittel zum Zweck“ verwende.
„Die Tätigkeit des Komponisten ist eine in ihrer Art plastische und jener des bildenden Künstlers vergleichbar.“ Eduard Hanslick
Das 19. Jahrhundert – bis hin zu Hanslick, Nietzsche und Busoni – entwickelt die Idee, dass Instrumentalmusik ihre eigene Struktur verfolge, ihre eigene Logik besitze und keine außermusikalischen Bezüge benötige. Klänge folgen Klängen, so wie Gedanken Gedanken folgen. Friedrich Schlegel verglich die Instrumentalmusik mit der Philosophie. Eduard Hanslick betonte, dass die Töne der einzige Inhalt von Musik seien: „Die Tätigkeit des Komponisten ist eine in ihrer Art plastische und jener des bildenden Künstlers vergleichbar.
In den konkreten Tonbildungen liegt der geistige Gehalt der Komposition. Die Form (das Tongebilde) ist der wahre Inhalt der Musik, ist die Musik selbst.“ Diese Idee der absoluten Musik wirkte weit hinein ins 20. Jahrhundert. In der freien Atonalität wird die Musik überhaupt nur durch ihre eigene Gestik und Dynamik zusammengehalten: „ein energetisches Ineinander und Durcheinander von Steigerung, Milderung, Aufbruch, Abbruch, Auflösung, Kontrast, Schock“ (so Mathias Spahlinger über Arnold Schönberg). In der seriellen Musik unterwerfen sich die Komponisten sogar ganz den Gesetzen der innermusikalischen Struktur.
Die bedingte Musik
Die Idee der absoluten Musik stieß immer auch auf Widerspruch. Johannes Brahms, der Beethoven-Verehrer, wurde seinerzeit häufig als „formalistisch“ beschimpft. Er hatte es schwer gegen die Fraktion der „Neudeutschen“ (Wagner, Liszt, Strauss u. a.), die die Musik nur zu gerne in den Dienst von Geschichten, Worten und Bildern stellten. Die Oper und die Programmmusik sind ein eklatanter Widerspruch zur „Unbedingtheit“ des Musikalischen. Richard Wagner denunzierte die „absolute“ Instrumentalmusik sogar als eine Art von Zwischenzustand, der auf seine Erlösung durch das „Gesamtkunstwerk“ warte. Richtig: Gottesdienste und Hofgesellschaften nutzen Musik für ihre Zwecke. Aber auch durch Opernhandlungen und „sinfonische Dichtungen“ wird Musik funktionalisiert und soll einem Inhalt, Ablauf und „Konzept“ folgen, die ihr äußerlich sind.
Die Vertreter der „absoluten Musik“ im 19. Jahrhundert sahen in der Oper nur eine zur Musik „abgespielte Gaukelei“ (Nietzsche) oder ein „zusammenhangloses Machwerk“ (Hostinsky). Doch heute genießen Opern ein höheres gesellschaftliches Prestige denn je. In der Berliner Staatsoper wurde 2014 jeder zahlende Besucher mit 257 Euro subventioniert. Der Bayerischen Staatsoper in München wurde 2016 ein Budget von rund 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Opernwelt feiert sich als gesellschaftsrelevant – die Sängerinnen und Sänger sind Stars, die Regisseurinnen und Regisseure deuten unsere Gegenwart.
Schon in den 1920er Jahren waren sogenannte „Zeitopern“ modern, die Themen des Tages aufgriffen. Heute brüstet sich jede Opern-Neuinszenierung mit brisanten Gegenwartsbezügen. Auch die Avantgarde-Musikszene will sich immer mehr „einmischen“, politisch Stellung beziehen: „Wir sind gefordert zu verstehen, was hier und heute geschieht“ (Beat Furrer). Dieses „Verstehen“ soll auf der Musikbühne stattfinden, aber mit nichtmusikalischen Mitteln wie Sprache, Film, Tanz, Digitaltechnik und Dramaturgie. Der Anschlag vom 11. September 2001 zum Beispiel hat unzählige Hybrid-Musikwerke inspiriert. Solche Musik will gesellschaftsrelevant, wirkmächtig und bedeutungsvoll werden, indem sie sich musikfremde Zutaten holt.
„Musik hilft uns, offen zu bleiben für die Probleme der Welt“ Alessio Allegrini
Hier gilt es, einen Augenblick innezuhalten. Ist Musik denn nicht schon gesellschaftsrelevant, wirkmächtig und bedeutungsvoll, indem sie einfach nur Musik ist? Schostakowitsch war überzeugt davon, dass seine Sinfonien vom Heute handeln – und das ganz ohne programmatischen Titel oder ergänzenden Gesang. Der Hornist Alessio Allegrini meint, Musik sei immer politisch: „Sie hilft uns, offen zu bleiben für die Probleme der Welt.“ Leonard Bernstein sagte, die beste Antwort auf Gewalt sei, noch intensiver zu musizieren. Denn Musik ist ja wie ein soziales Modell für Friedfertigkeit, Kooperation, Konfliktregulierung und Gemeinschaftsbildung.
Musik bietet nicht nur Trost, sondern auch eine Zuflucht für freie Geister. Musik gibt uns die Gelegenheit, in Klängen zu denken, strukturelle Logik zu erleben und immaterielle Abenteuer zu erfahren. Sie erinnert uns daran, dass unser Leben wertvoll und glücklich sein kann. Musik ist eine Oase in der Wüste der Zweckrationalität. Musik ist, unbedingt und absolut, allein kraft ihres Erklingens bereits fähig, ethisch und praktisch zu wirken. Sie braucht keine Hilfsmedien, keine Video-Installationen und keine Holzhammer-Botschaften. Music is the message.