Macht Musik intelligent? Macht Musik aufmerksam? Macht Musik empathisch? Eines steht fest: Musik macht etwas mit uns. Mit unserem Gehirn. Mit unserer Persönlichkeit.
Vor rund 30 Jahren sorgte der sogenannte „Mozart-Effekt“ für Aufsehen. In einer Studie von 1993 hieß es, schon nach zehn Minuten Mozart hören – im Test war es die Sonate K. 448 – sei der IQ der Probandinnen und Probanden signifikant nach oben geschnellt. So absurd das auch klingt: Millionen haben dieser Studie geglaubt. Vor allem in den USA schien sich für Eltern ein Traum zu erfüllen: Wenn ihre Kinder nur mit ein wenig klassischer Musik in Berührung kommen, ist die spätere Top-Karriere schon garantiert! In Georgia bekam jedes Neugeborene daraufhin eine Mozart-CD geschenkt. In Florida wurde für staatliche Kindergärten täglich eine Stunde Mozart-Beschallung verordnet. Der Umsatz mit Mozart-CDs stieg steil an. Der Begriff „Mozart-Effekt“ wurde patentiert. Eine Flut von Aufsätzen und ergänzenden Studien folgte.
Der Mozart-Effekt gilt heute als widerlegt. Aber auch in späteren Tests wurde festgestellt, dass klassische Musik positive Auswirkungen auf Gedächtnis, Vorstellungsvermögen, mathematische Leistung oder Sozialverhalten hat. Da war dann aber nicht mehr von zehn Minuten Musikhören die Rede, sondern von einem halben Jahr Klavierunterricht. Ein kleiner Unterschied.
Neuronale Plastizität
Konzentriertes Musikhören fokussiert und schult die Aufmerksamkeit. Unser Gehirn erkennt in der Musik nämlich wiederkehrende Muster, Ähnlichkeiten und Analogien. Es entschlüsselt zeitliche Abfolgen, entwickelt dafür ein Gedächtnis, verarbeitet Rhythmen und Klänge, übersetzt Schall-Ereignisse in sinnvolle Strukturen. Wenn wir regelmäßig bewusst Musik hören – und mehr noch: wenn wir selbst musizieren – stärken wir die Netzwerke der Nervenzellen, die für solche „Entschlüsselungen“ zuständig sind. Unser Gehirn verbessert also die Ausrüstung, die es benötigt – man spricht von der „Plastizität“ des Gehirns. Der Musikneurologe Eckart Altenmüller betont, „dass Musizieren die Gehirnstruktur dramatisch verändern kann und bei Gesunden nichts die Neuroplastizität so sehr anregt wie Musik“. Entwickeln wir eine „Fitness“ für Hör-Strukturen, erlaubt uns das auch ein besseres Erkennen von Abläufen und Ordnungen in anderen Bereichen – wie zum Beispiel in der Raumvorstellung und Mathematik, bei der Gedächtnisleistung oder Körperbewegung. Musik schult fürs ganze Leben.
Das Gehirn passt sich nicht nur den Anforderungen des Musikhörens an, es belohnt sich auch noch dafür. Dahinter steckt ein archaisches Programm der Evolution: Ständiges Lernen und Sich-Adaptieren erhöhen die Chancen aufs Überleben – also müssen sie besonders belohnt werden. Und wie belohnt sich das Gehirn? Natürlich mit Glücksgefühlen. Wenn wir Ordnungen und Strukturen erkennen (oder auch Brüche in den Ordnungen und Strukturen), werden Hormone ausgeschüttet: Dopamin, Adrenalin, Endorphine. Dann überkommen uns positive Emotionen. In dieser Hochstimmung können wir dann sogar noch unsere Aufmerksamkeit steigern, noch motivierter sein, noch lernfähiger. Das heißt: Leistung und Belohnung schaukeln einander gegenseitig hoch. Die hormonelle Euphorie lässt uns auch Sorgen und Schmerzen vergessen. Musik ist deshalb eine gute Medizin bei vielen psychosomatisch bedingten Krankheiten. Wenn uns Ängste und Schmerzen plagen, wenn uns also überhaupt nicht nach Musik zumute ist – genau dann sollten wir singen oder Musik hören! Musik ist das einfachste Hausmittel zur Selbstheilung.
Musik hat eine Grammatik
Auch wenn sie nicht gerade den IQ nach oben schnellen lässt – Musik stärkt unsere Kreativität und Kompetenz in vielen Dingen. Zum Beispiel fördert Musik die Sprachentwicklung, weshalb ihr Einsatz im Kindergarten (nicht nur in Florida) unbedingt zu befürworten ist. Auch in der Therapie krankhafter oder altersbedingter Artikulationsschwierigkeiten hat sich Musik bewährt. Musik kann Sprache triggern. Denn Strukturen, die wir in der Musik erkennen (oder erfühlen), sind nicht so sehr verschieden von Strukturen in der Sprache.
Die neuronalen Netzwerke für Sprache und Musik überlappen einander in unserem Gehirn vielfach. Auch Musik hat eine Grammatik, „spricht“ zu uns in Ausrufen, Phrasen, Halbsätzen, Sätzen, Abschnitten. Konsonanten und Rhythmen sind einander eng verwandt, ebenso Vokale und Melodien. Selbst vom Broca-Areal (in der linken Großhirnrinde), das lange als ein Sprachzentrum galt, weiß man heute, dass es nicht für Sprache allein reserviert ist, sondern dass dort grundsätzlich komplexe, regelhafte Kommunikationssysteme verarbeitet werden – eben auch Musik, Zeichensprache oder Gestik.
„Musikhören und Musizieren sind in der Regel sozial orientierte, im zwischenmenschlichen Bereich stattfindende Tätigkeiten“
Musikhören und Musizieren sind in der Regel sozial orientierte, im zwischenmenschlichen Bereich stattfindende Tätigkeiten. Musikhörerinnen und -hörer treffen sich im Konzert, im Club, auf Partys oder vor der heimischen Hifi-Anlage. Musizierende proben und konzertieren gemeinsam. Die einen tauschen sich aus über das Gehörte, die anderen verständigen sich musizierend. Unser Umgang mit Musik ist grundsätzlich geprägt von Gemeinsamkeit, Respekt und Austausch – ein Modell für kooperatives gesellschaftliches Handeln. Musik konfrontiert uns mit Menschen, Schicksalen, Konflikten, eigenen und fremden Gefühlen, Kommunikationsfragen, kreativen Problemstellungen, Strukturfindungen, Komplexität und Widersprüchen.
Wir schulen auf dem Übungsfeld Musik all das, was wir für ein ethisch verantwortliches, empathisches Leben benötigen. Dass Musik von früher Kindheit an eine wichtige Rolle für unsere sozialen Bindungen und die Gruppendynamik spielt, bestätigen auch Psychologen. In der Evolutionsgeschichte der Menschheit war Musik zentral für die Entwicklung sozialer Verbände. Daher setzen Musikhören und Musizieren im Gehirn auch Hormone frei, die für zwischenmenschliche Emotionen wichtig sind. Musik erzieht uns zu friedlichem, kooperativem Handeln, zu sozialer Intelligenz.
Unerklärbares annehmen
Die moderne Welt scheint täglich komplexer zu werden, unübersichtlicher und widersprüchlicher. Viele technische, gesellschaftliche, kulturelle Entwicklungen laufen simultan und unvereinbar miteinander ab. Unser traditionelles Denken kommt da schnell an Grenzen. Einfache Lösungen und simple Erklärungen gibt es nicht mehr. Wir müssen lernen, die Vielfalt und Vieldeutigkeit zu akzeptieren, Toleranz und Geduld zu üben, Widersprüchliches gelten zu lassen. Das ist eine Form von zeitgemäßer Klugheit, die wir aus der Beschäftigung mit Musik gewinnen können. Denn Musik stärkt unser Verständnis für Komplexität, unsere Lust daran. Der Musikjournalist Holger Noltze schreibt: »Ästhetische Erfahrungen können uns in der Fähigkeit trainieren, Schwieriges auszuhalten, Unerklärbares anzunehmen.« Wenn wir Komplexität in der Musik positiv erleben, entwickeln wir auch im Alltag leichter eine tolerante und multivalente Einstellung. Insofern wäre musikalische Erfahrung eine gute Übung für Pluralismus und Sozialkompetenz. Hierin kann uns Musik tatsächlich schlau machen.
Zur Faszination von Musik gehört, dass wir ihre Geheimnisse oft nicht auf Anhieb entschlüsseln. Eckart Altenmüller schreibt, die Begegnung mit einem komplexen Musikstück ähnele „dem ersten Besuch einer unbekannten Großstadt ohne Stadtplan“. Da bleibt ein Rest an Verwirrung, Unklarheit und Mysterium, mit dem wir leben müssen. Musik verlangt von uns, dass wir Offenheit für neue, ungewisse Erfahrungen mitbringen, Lust an der geistigen Anstrengung entwickeln, Geduld für den kreativen Prozess des eigenen Hörens zeigen. Auch dass wir akzeptieren, dass manches schwer zu erklären oder zu vermitteln ist. Insofern kann das Hören und Ausüben von Musik von großem Nutzen für die Begegnung mit komplexer Realität sein. Der Musikunterricht in der Schule bereitet womöglich besser auf zukünftige Lebenskonstellationen vor als das Lösen einer Mathematikaufgabe.