Brass, Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Das Musikalbum als Kunstform

Album
Foto: Egle P. auf Pixabay

Abgesänge auf das Album sind nichts Neues (Vgl. Ist die CD am Ende?) Die Spotify-Generation zuckt da nur gleichgültig mit den Schultern. Doch das Album ist eben mehr weit als nur ein „Bundle“ von Musikstücken. 

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte noch ganz der alten Schellackplatte (78 rpm). Ihren Namen hatte sie nach der Ausscheidung von Pflanzenläusen – das harzige Sekret wurde tatsächlich im Material der Schallplatten verarbeitet. Die Laufzeit pro Schellack-Plattenseite betrug kaum mehr als vier Minuten. Diesem Längenformat – das später von der Vinyl-Single übernommen wurde – »verdanken« wir die noch heute übliche Dauer eines Popsongs oder Schlagers. 

Für ausgedehntere Musikstücke – eine klassische Sinfonie oder ein Jazzstück mit längeren Improvisationen – war die Schellackplatte schlecht geeignet. Solche Aufnahmen mussten auf mehrere Plattenseiten verteilt werden, verlangten also mitten im Stück das Umdrehen oder Wechseln der Platte. Eine Einspielung von Beethovens 32 Klaviersonaten – das sind 100 Sonatensätze – umfasste 1932 mehr als 200 Schellackseiten.

Der klassische Komponist Aaron Copland beklagte sich zu Recht über diese »durch den Plattenwechsel bedingten, etwa alle 4 ½ Minuten erfolgenden Unterbrechungen. Musik ist eine Kunst, die an zeitlichen Ablauf gebunden ist, den zu unterbrechen eine ernstliche Verfälschung bedeutet.« Der Jazztrompeter Miles Davis sprach vom »Drei-Minuten-Krampf bei den 78er-Platten«: »Für wirklich freie Improvisationen war da nie Raum. Man musste möglichst schnell in sein Solo reinkommen, und dann war’s auch schon vorbei.« 

Die LP und die Sinfonie

1948 winkte endlich die Erlösung, als die neuartige Langspielplatte aus Vinyl (PVC) vorgestellt wurde. (Die Stereotechnik kam aber erst weitere zehn Jahre später.) Nach einigen Streitereien zwischen den Plattenfirmen einigte sich die Industrie beim Longplayer auf das 12-Inch-Format (ca. 30 cm Durchmesser) und die Abspielgeschwindigkeit von 33 1/3 rpm. Auf der allerersten käuflichen LP war damals das Violinkonzert von Mendelssohn zu hören – mit dem Solisten Nathan Milstein. Dieses Werk war mit Bedacht gewählt, denn der erste Satz dauert rund 15 Minuten (die A-Seite) – und der zweite und dritte zusammen etwa ebenso lange (die B-Seite). 

Es war, als hätte Mendelssohn sein Konzert direkt fürs LP-Format komponiert. In Schellack-Zeiten hätte man die einzelnen Sätze in mehrere Teile zerstückeln müssen und auf mindestens vier Platten (acht Seiten) verteilt. Diese Platten wären dann in einer buchdeckelartigen Hülle zusammengebunden worden – man nannte das damals ein »Plattenalbum«, ähnlich einem Foto- oder Briefmarkenalbum. (Thomas Mann sprach von »stumm-gehaltvollen Zauberbüchern«.) Weil die LP ein ganzes Schellack-Plattenalbum ersetzen konnte, sprechen wir heute noch von einem »Album«, wenn wir eine LP-Veröffentlichung meinen.

Das LP-Format eignete sich gut für viele klassische Sinfonien, zumal man später die Spieldauer pro Seite auf bis zu 35 Minuten ausgereizt hat. Mit Mozarts »Jupiter«-Sinfonie zum Beispiel konnte man gut eine ganze LP füllen, aber zur Not passte sie auch komplett auf eine Plattenseite. (In diesem Fall bot sich die 40. Sinfonie für die Rückseite an.). Beethovens »Pastorale« verteilte man in der Regel auf zwei Seiten, Mahlers Sechste auf eine Doppel-LP (vier Seiten). Strawinskys »Feuervogel«-Suite bildete häufig eine willkommene B-Seite zu seiner »Petruschka«-Suite (oder umgekehrt).

Bei kürzeren Werken allerdings stellte sich dann die Frage: Was packt man eigentlich zusammen auf eine LP? Ist es zum Beispiel sinnvoll, frühe Werke eines Komponisten mit solchen aus seiner Spätzeit zu kombinieren? Passen Klavierstücke von Debussy auch zu Klavierstücken von Bizet? Die zwei Teile von Strawinskys »Sacre du Printemps« ergäben eine schöne LP – sie würden notfalls sogar auf eine einzige Seite passen (ca. 33 Minuten). Die Deutsche Grammophon allerdings packte zum »Sacre« 1972 noch eine Strawinsky-Kantate dazu. Warum, blieb unklar. Die späten Beethoven-Klaviersonaten haben eine Länge von ca. 20 bis 30 Minuten. Zwei von ihnen passen gut zusammen auf die A- und B-Seite einer LP. Die Firma Teldec allerdings hat 1984 gleich drei von ihnen (Nr. 30, 31, 32) mitei­nander kombiniert, so dass man die Platte zwischen dem 2. und dem 3. Satz der 30. Sonate umdrehen musste. Auch hier: Warum?  

Mit einer Laufzeit von bis zu 70 Minuten ähnelte die Klassik-LP bereits einem kleinen Konzertprogramm – sogar mit einer Konzertpause (beim Umdrehen der Platte). Wie ein Sinfoniekonzert konnte eine LP durch die Kopplung bestimmter Werke die künstlerischen Verbindungen zwischen verschiedenen Komponisten oder Epochen aufzeigen oder die stilistische Breite eines Solisten demonstrieren. Bis heute ist ein gut konzipiertes Klassik-Album (auf LP oder CD) deshalb auch ein künstlerisches, musikhistorisches oder musikpädagogisches Statement. 

Jazz und das Albumkonzept

Die Jazzwelt stürzte sich um 1950 ebenfalls auf das neue LP-Format. Endlich waren im Studio Improvisationen in einer Länge möglich, wie man sie aus dem Jazzclub kannte. Dabei hatten die Jazzmusiker (gegenüber den Klassik-Interpreten) den entscheidenden Vorteil, dass sie ihre Stücke länger oder kürzer halten konnten. Ihr Plattenprogramm konnte also direkt bei der Aufnahme aufs LP-Format ausgerichtet werden. Beim Label Blue Note zum Beispiel gab es honorierte Probe-Sessions. Vor dem Aufnahmetag standen daher bereits die Stückauswahl und die ungefähren Stücklängen fest – man konnte die LP als »Einheit« planen. Beim Label Prestige dagegen bevorzugte man (auch aus Kostengründen) lockere Jamsessions im Studio. Dabei achtete der Produzent darauf, dass so eine Session immer rund 20 Minuten lang wurde und genau eine LP-Seite füllte.

Viele heute legendäre Jazz-LPs sind mit einem klaren Albumkonzept entstanden. Sonny Rollins’ Stück »Freedom Suite« (1958) war mit 19 Minuten Länge ganz auf die Spieldauer einer LP-Seite hin kalkuliert. John Coltranes Suite »A Love Supreme« bestand aus vier Sätzen von jeweils 7 bis 11 Minuten Länge und sollte ein komplettes »Album« bilden. Auch Duke Ellingtons späte »Suiten« – die »New Orleans Suite«, die »Far East Suite«, die »Latin American Suite« – waren auf die LP-Länge zugeschnitten. Weil die ursprünglichen acht Stücke der »Far East Suite« nicht ganz ausreichten, hat Ellington sogar noch ein neuntes, längeres Stück nachgeliefert (»Ad Lib On Nippon«). Ohne das Albumkonzept wäre manches dieser Werke sicherlich anders geraten.

Mit dem Fortschritt der Studiotechnik wurde es dann auch möglich, Aufnahmen nachträglich aufs LP-Format zuzuschneiden. Ein Pionier dieser Vorgehensweise war der Produzent Teo Macero. Er ließ um 1970 »jeden Ton« festhalten, den der Trompeter Miles Davis im Studio spielte, und bastelte hinterher aus Auszügen ein »Album« zusammen. Die Platte »Jack Johnson« zum Beispiel besteht aus zwei Stücken in LP-Seiten-Länge, die beide aus verschiedenen Improvisationen »montiert« wurden. Ähnlich war Macero schon auf Miles’ Platten »In A Silent Way« und »Bitches Brew« vorgegangen. Das formgebende Albumkonzept ist hier zum wesentlichen Teil des Kunstwerks.

Rock und das Konzeptalbum

In der Popmusik hatte man zunächst gar keine Verwendung für die Langspielplatte. Populäre Songs hielten sich ans Drei-Minuten-Format und mussten als Singles funktionieren. Bis weit in die 1960er Jahre hinein waren Pop- und Rock-Alben einfach nur Kopplungen von Einzelsongs – anfangs meist sechs Songs pro LP-Seite. Selbst das Album »Revolver«, mit dem die Beatles 1966 ihren »psychedelischen« Durchbruch planten, bestand trotz aller Psychedelik einfach nur aus 14 kurzen Songs im Single-Format. Doch schon ein Jahr später veröffentlichte diese Band ihre Platte »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band«, die als das erste Konzeptalbum der Rockmusik gilt. Die Stücke scheinen hier einer gemeinsamen Thematik zu folgen, es gibt Soundcollagen und Reprisen. Bezeichnenderweise wurde keiner der Songs als Single ausgekoppelt. Das Album sollte ein Ganzes sein und nicht mehr nur eine Ansammlung beliebiger Stücke. 

Dieses Konzept machte schnell Schule. (Übrigens haben es die Beatles gar nicht erfunden, eher Frank Sinatra oder Frank Zappa.) Berühmte »Konzeptalben« mit einer Art von durchgängiger Story waren zum Beispiel »Tommy« (The Who, 1969), »Thick As A Brick« (Jethro Tull, 1972), »Dark Side Of The Moon« (Pink Floyd, 1973) oder »The Lamb Lies Down On Broadway« (Genesis, 1974). Rockbands konnten damals Weltstars werden, ohne jemals eine Single in den Top 20 zu landen. Für ihr Renommee zählte nur das Album. Auch solche LPs, die gar keine ausgesprochenen Konzeptalben waren, wurden »konzeptionell« stilisiert – nämlich durch Verpackung, Titel, grafische Gestaltung, Soundstrategie oder musikalische Selbstbezüge.

Mit der Rockmusik der frühen 1970er Jahre ist das Album – auch in Jazz und Klassik – vollends zum eigentlichen »Musikwerk« geworden. Die Optik und Haptik einer Langspielplatte und ihrer Hülle (mit den begleitenden Fotos, Texten, Grafiken) erhoben manches Album in den Status eines Kultobjekts. Albumcovers wurden zur Ikonografie ihrer Zeit. Das Erlebnis, ein neues Album zu hören, war oft vergleichbar mit dem ersten Hören einer Sinfonie, mit dem Betreten einer Kunstausstellung, mit der Lektüre eines Bandes Erzählungen. Die Identifizierung des Hörers mit der Musik fand durch das Album viele Jahre lang einen vitalen, multisensorischen Gipfelpunkt. Davon profitiert heute nicht zuletzt die vielfach gefeierte Vinyl-Renaissance (Marktanteil 2023: 6 Prozent).

Album
Grafik: Prawny auf Pixabay