Im Verlag Breitkopf & Härtel ist kürzlich »Addizio!« erschienen, ein Werk für »Bläserunterricht in Klassen, Gruppen und Ensembles«. Autor Jörg Sommerfeld stand uns Rede und Antwort.
Herr Sommerfeld, mein erster, spontaner Gedanke bei »Addizio!« ließ mich an Summierung denken. Aber Musik ist doch keine Mathematik!
Ich arbeite seit fast zehn Jahren an dem Projekt. Ich habe es der Marketingabteilung von Breitkopf & Härtel überlassen, einen Namen zu finden. Ich wollte allerdings kein »Namensmonster« haben, die es ja durchaus gibt für solche Instrumentalwerke.
»Addizio!« bedeutet auf Esperanto »Zusammenführung«. Und darum geht es auch. Und so ein Kunstwort hat einen entscheidenden Vorteil: Man findet es ganz einfach im Internet. Tippen Sie es ein und Sie werden überwiegend unser Material finden, auch die Schüler. Denn wir wollen sehr viel im Netz machen und den Kindern anbieten, deshalb muss es leicht zu finden sein.
Etwas provokant gefragt: Schon wieder eine Schule – was haben Sie sich denn dabei gedacht? Erzählen Sie doch mal kurz die Entstehungsgeschichte?
Ich komme – wie ich nach und nach lerne – aus der bläserischen Diaspora. Ich musste mir die Bläserzusammenhänge erst einmal aneignen. Ich selbst bin Jazzmusiker und nicht wirklich in Blasorchestern groß geworden. In der Musikschule, in der ich gearbeitet habe, gab es zwei Flötenspielkreise, als ich anfing. Und es gab ein großes Grundschulprogramm, in dem ich dann ein Kinderorchester gegründet habe.
Ich habe da schnell festgestellt, dass ich Material brauche, das verschiedene Schwierigkeitsstufen enthält. Denn wir haben immer Kinder, die sehr weit sind und schnell lernen, und Kinder, die eben nicht so schnell sind. Der zweite Schritt war dann, dass ich mich gefragt habe, warum ich – wenn ich solches Material für mein Ensemble habe – das nicht auch für einen Gruppenunterricht anpasse. Ein paar Jahre später hat dann mein Chef gemeint: »Du bist doch Bläser. Mach doch mal mit der Gesamtschule zusammen das Bläserklassenprogramm.«
Eine Zeit lang habe ich dann mit amerikanischen Materialien gearbeitet. Ich habe mich, ehrlich gesagt, sehr bald gelangweilt, denn das ist ja zwei Jahre lang »Dauerunisono«, ab und zu kommt mal ein durcharrangiertes Stückchen dazwischen. Ich dachte, dass das, was ich für die Grundschule entwickelt habe, eigentlich auch in der Bläserklasse funktionieren müsste.
Und inzwischen haben wir in der Musikschule zwei Blasorchester, zwei Bläserklassen, in jeder Grundschule ein Orchester. Wir sind einen Riesenschritt weitergekommen. Das hat eben auch damit zu tun, dass wir viele Kinder im Programm halten können, weil wir binnendifferenziert arbeiten. Es wird nicht von vornherein ausgesiebt.
Also haben Sie »Addizio!« geschrieben, weil Sie Ihre eigenen Erfahrungen einbringen wollten?
Eher umgekehrt. Ich habe versucht, ein Konzept zu entwickeln, das man in den Unterrichtssettings des Grundschulprogramms »Monheimer Modell« und in Bläserklassen verwenden kann, um den Kindern und der Situation gerecht zu werden. Und wegen dieses Konzepts hat der Verlag irgendwann angefragt.
Können Sie nun den Leuten mal zeigen, wie es richtig funktioniert?
Ich würde mir nicht anmaßen, deutschlandweit sagen zu können, wie Bläserunterricht richtig funktioniert. Ich weiß ganz sicher, dass es bestimmte Ansätze, etwa ein Einzelunterrichtsansatz, in der Bläserklasse sehr schwer haben. Wenn man so denkt wie im Einzelunterricht, wird man im Gruppenunterricht oder in Bläserklassen Schwierigkeiten bekommen.
Und wenn man mit einem Konzept aus US-amerikanischen Middle-Schools auf eine Schule in Deutschland zugeht, bekommt man auch Probleme. Die entstehen etwa dadurch, dass in diesen Bläserklassen Kinder sitzen, die schon Vorkenntnisse haben. Mit denen muss man ja auch umgehen – und das geht nur mit einer Binnendifferenzierung.
Sie haben also Ihr Konzept aufgrund einer bestimmten Situation erarbeitet?
Ich habe Situationen vorgefunden, die heutzutage eigentlich üblich sind. JeKi, Bläserklassen, Ensembleunterricht. Die aber fanden in den Unterrichtsmaterialien keine ausreichende Berücksichtigung.
Wie ist denn dann die Schule »Addizio!« aufgebaut? Ist der Name programmatisch zu sehen? Stets wird etwas hinzugefügt, zusammengeführt?
Das kann man so sagen, ja. Allerdings ist »Addizio!« keine Schule im herkömmlichen Sinne. Das erkennt man schon daran, dass das Schülerheft – im Gegensatz zum Lehrerhandbuch – fast keinen Text enthält. Denn ich gehe davon aus, dass gerade im Bläserbereich unheimlich viele Leute unterwegs sind, die wissen, wie man unterrichtet, wie man Kinder motiviert und wie man mit ihnen umgeht. Diese Lehrer brauchen keine Textblasen, die sie den Kindern vorlesen. Ich denke, ein kompetenter Lehrer erkennt sofort, was man mit einem solchen Material anfangen kann.
Der Aufbau von »Addizio!« ist dem von Ensemblematerial recht ähnlich. Und in diese Spielstücke haben wir mit viel Liebe zum Detail versucht, das Lernen des Instruments so einzubauen, dass im Musizierprozess der nächste Ton, der nächste Rhythmus, die nächste Artikulationsweise, der nächste Anteil an theoretischem Wissen mitgelernt werden kann.
In welchem Verhältnis stehen Theorie und Praxis zueinander?
Da ist die Methodik gar nicht explizit vorgegeben. Der Lehrer kann etwas erläutern, er kann es aber auch während des Musizierens einfließen lassen. Man könnte »Addizio!« ganz klassisch unterrichten, also die drei Einzelstimmen des Spielsatzes lernen und am Ende in der Probe zusammenführen. Das ist aber nicht die Idee.
Man kann tatsächlich vielfach zum Beispiel die leichteste Stimme direkt mit allen Kindern vom Blatt spielen. Darauf aufbauend kann man die nächstschwierigeren Stimmen dazunehmen. Im »Addizio!«-Prinzip kann man dann nach und nach im Musizierprozess die Schwierigkeiten differenzieren.
Das heißt, man bietet den Kindern, die etwas schneller lernen, die nächste Herausforderung an, während sich die Kinder, die noch ein bisschen Zeit brauchen, erst einmal mit den Anfängerstimmen beschäftigen.
Der Lehrer kann bzw. muss auf den jeweiligen Lernfortschritt reagieren. Das ist mit »Addizio!« möglich?
Gehen wir vom Leitbild Ensemble aus. Ein Ensemble hat ein Repertoire. Ein Ensemble arbeitet in der Regel auf den nächsten Auftritt hin. Und dann arbeitet man ja nicht linear, wie das etwa im Bläserklassenmaterial üblich ist, sondern man arbeitet zyklisch. Man hat mehrere Stücke, an denen man arbeitet. Dann wird es nach und nach ausdifferenziert. Man versucht, einen besseren Klang zu erreichen, eine sauberere Intonation, einen präziseren Rhythmus…
Und in dieser Denkweise kann man mit den Stücken von »Addizio!« nach und nach die Kinder auch zu besserem Musizieren und zu besserem Verständnis ihres Instruments führen. Man arbeitet vom Ungefähren zum Konkreten. Man beginnt etwas unscharf und lässt die Kinder sich nach und nach zyklisch ihrem Vermögen entsprechend weiterentwickeln.
Wir sind zwar schon mitten im Thema, aber noch einmal nachgefragt: Was bedeutet Binnendifferenzierung in Bezug auf die Musik? Ist nicht ein Ensemble nur so gut wie sein »schlechtester« Musiker?
Wenn wir unter Instrumentalpädagogen das Wort »Binnendifferenzierung« verwenden, geht es meistens gedanklich darum, wie ich meine schlechten Schüler noch irgendwie mit eingebunden bekomme. Da gibt es Material auf dem Markt, das sich »binnendifferenziert« nennt. Und dann finden sich unter dem Spielsatz vier Kreuze und daneben steht: »Klatsche diesen Rhythmus.«
Meine Vorstellung von Binnendifferenzierung dagegen ist, dass wir es einerseits möglich machen müssen, langsamere Lerner zu berücksichtigen. Und wir brauchen hier nicht so zu tun, als ob diese Kinder dumm wären: Wenn ein Kind eine Zahnspange trägt, wird es mit der Querflöte Probleme haben.
Und andererseits haben wir Kinder, die sich schnell oder extrem schnell entwickeln. Auch für diese Kinder müssen wir etwas anbieten. Wenn wir die Herausforderung annehmen, dann haben wir das ganze Spektrum und die Entwicklung des Ensembles im Blick. Ich würde mich immer an den besten Kindern orientieren und versuchen, es möglich zu machen, dass auch die schwachen Kinder mit den besten – die ja häufig ihre Freunde sind – gemeinsam musizieren. So ist »Addizio!« ausgelegt.
Ist das auf diese Weise auch motivierend? Denn wenn der langsamer Lernende merkt, dass er trotzdem eine wichtige Rolle spielt, dürfte das mehr bringen, als nur den Rhythmus klatschen zu dürfen.
Das mit dem Klatschen ist natürlich ein Extrembeispiel. Aber es ist schon so, dass Kinder merken, wenn sie die nächste Stufe erreichen. In »Addizio!« ist das manchmal ganz simpel zu sehen. »Wenn ich die Stimme 3 kann, versuche ich mal die Stimme 2. Da sind zwar höhere Töne drin oder ein Vorzeichen – aber das probiere ich mal.«
Die Kinder merken, dass sie über das hinaus, was sie jetzt schon beherrschen, den nächsten Schritt machen können. Auf diese Weise kann man mit den Kindern arbeiten, bis dahin, dass es einige gibt, die sich direkt an den wirklich schwierigen Zusatzstimmen orientieren.
Der Neuseeländer John Hattie hat mal gesagt: »Wenn man Kinder erfolgreich unterrichten will, muss man wissen, was die Stufe der nächsten Entwicklung ist.« Man muss nicht wissen, was die Kinder jetzt können, sondern wohin sie sich als nächstes entwickeln sollten. Und so etwas wird mit einem typischen Unisono-Material nicht klar, weder für die Kinder noch für den Lehrer.
Bei »Addizio!« ist das immer transparent, alle sehen immer auch die Stimmen, die sie noch nicht spielen können. »Addizio!« gibt Kindern so die Möglichkeit, sich selbst in ihrer eigenen Schwierigkeitseinstufung im Ensemble einzuordnen – und signalisiert gleichzeitig: Hey, du könntest weiter!
Dieser Motivationsaspekt liegt »Addizio!« zugrunde, ohne dass er offen herausgestellt wird, richtig?
Man will mehr, weil man sieht, dass mehr geht. Das ist die Idee. Das hat man ja in jedem Ensemble, wenn beispielsweise die 3. Klarinette auch vorne ans Pult zur 1. Klarinette will. Das klappt aber nur, wenn die Materialien das auch hergeben.
Viele Schüler neigen dazu, nicht üben zu wollen. Ist da der Motivationsaspekt Gold wert?
Ich habe diese Frage erwartet. Ein Unterrichtsmaterial aber kann nicht das Üben vermitteln. Selbst wenn ich dazu ganz viel schreiben würde: Das Kind würde es nicht lesen, die Eltern würden es nicht verstehen, weil sie unter Umständen keine Musiker sind. Was ein Unterrichtsmaterial dazu beitragen kann? Motivation. Es müssen Stücke sein, die den Kindern gefallen. Die soziale Eingebundenheit ist wichtig. Man ist ja befreundet, wenn man in der Schule gemeinsam ins Orchester geht. Das motiviert, mitzumachen.
Aber wir sprechen hier natürlich auch über das zielgerichtete Üben: Wie bekomme ich es mit viel Arbeit hin, mich so zu entwickeln, dass ich vielleicht später auch mal bei »Jugend musiziert« mitmachen kann? Wie man das als Instrumentallehrer vielleicht auch ohne Elternunterstützung erreichen kann, ist überhaupt noch nicht bearbeitet. Das Üben im Unterricht, ähnlich dem Training im Fußballverein, wird sicher ein wichtiger Aspekt. Ich glaube aber nicht, dass ein Unterrichtsmaterial die Übepädagogik ersetzen kann, die ein Lehrer leisten muss.
Bläserklassen müssen sich oft die Kritik gefallen lassen, dass es nach der jeweiligen Klasse nicht weitergeht bzw. dass die Nachhaltigkeit fehlt und die Kinder dann aufhören. Was ist Ihre Antwort?
»Bläserklasse« ist ein Riesenthema. Wir Bläser sind hier auf der praktischen Ebene da einen großen Schritt weiter als alle anderen Instrumentalfächer. Wir haben diese Bläserklassen, und die sind nur ein Beispiel. Es gibt auch noch die Anfängerblasorchester in Musikvereinen, es gibt JeKi-Programme mit Bläserschwerpunkten. Und das Verrückte ist ja, dass das alles funktioniert, obwohl es eigentlich nicht zu Ende gedacht ist.
Wir arbeiten mit US-amerikanischem Material, das eigentlich gar nicht so gut in unsere Landschaft passt – trotzdem funktioniert es. Bläser als Lehrer haben häufig einen Background, der in Richtung Ensemble gedacht ist. Wir unterrichten fast alle mit Leidenschaft auf dieses Ziel hin. Bläser haben als Lehrer fast immer einen gewissen handwerklichen Pragmatismus. Man nimmt eben irgendein Unterrichtsmaterial, arbeitet mit den Kindern, ohne sich allzu viele Gedanken um Didaktik zu machen und es kommt etwas Klingendes dabei heraus.
Bläserklassen sind manchmal problematisch, denn es gibt diese »Inselbläserklassen«. Ich kenne ein Beispiel aus einer deutschen Großstadt. Da macht ein motivierter Lehrer zwei Jahre lang Bläserklasse und danach heißt es: Sucht euch mal einen Privatlehrer. Warum geht das? Weil nebenan die Musikhochschule ist, an der man Studenten findet, die das übernehmen. Aber das ist eben eine Insellösung.
Ich denke nicht so. So wie »Addizio!« die verschiedenen Bläser zusammenführt, muss man auch die Ausbildungssysteme miteinander vernetzen. Und diese Herausforderung besteht vor Ort. Das müssen die Musikschulen machen, die allgemeinbildenden Schulen, die Musikvereine. Da allerdings kann ein Unterrichtsmaterial auch nur die Vorarbeit leisten. Vernetzen müssen sich letztendlich die Handelnden vor Ort.
Für wen ist »Addizio!« konzipiert? Für welche Institution? Zuerst einmal die Schule?
Da kommt es her. Aber »Addizio!« ist offen. Es ist keine Geheimwissenschaft. Man kann im Lehrerhandbuch nachlesen, wann welches Instrument welchen Ton und welchen Rhythmus lernt. Wenn man in die Details einsteigt, könnte man das mit den Leistungsabzeichen der bayerischen Blasmusikverbände vergleichen.
»Addizio!« funktioniert im Gruppenunterricht und gut in Bläserklassen. Ich benutze es auch in Anfängerensembles und denke, dass es auch im Ausbildungsbereich eines Musikvereins sehr gut einsetzbar ist. Denn das Material kann man sowohl beispielsweise in der Trompetengruppe verwenden als auch mit ihm verschiedene Instrumente im Ensemble zusammenführen. Ein erstes gemeinsames Musizieren kann so leicht organisiert werden. Es ist ein Baukasten, aus dem man sich das Passende zusammenstellt.
Ist »Addizio!« nun abgeschlossen?
Nein! »Addizio!« wird weitergehen. Allerdings nicht in dem Sinne, dass es einen zweiten oder dritten Band geben wird. Da besteht eigentlich auch keine Notwendigkeit. Wenn man »Addizio!« durchlaufen hat, kann man mit Blasorchesterarrangements der Stufe 1 bis 2 einsteigen. Bedarf gibt es sicherlich noch bei weiteren Instrumenten.
Wir werden auch Oboe und Fagott anbieten. Und wir entwickeln die BeNeLux- und die Schweizer Stimmen. Da erörtern wir gerade, was genau gebraucht wird. Und wir wollen noch mehr Stücke herausbringen. Seit kurzem sind leere Dateien von den Stücken im Internet online verfügbar, damit der Lehrer für seine Bedürfnisse schnell Zusatzstimmen schreiben kann.