Im sechsten Schwerpunkt über die Aufgaben eines Dirigenten soll vor allem den Fragen nach der Außenwirkung eines Orchesterleiters nachgegangen werden. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah das Publikum einen Dirigenten im Konzertsaal nur von hinten, und die Beurteilung seiner Kunst oder gar Genialität erfolgte nahezu ausschließlich über das Gehörte.
Dirigenten wie Victor de Sabata, Fritz Busch oder Wilhelm Furtwängler zählen in Fachkreisen noch heute zu den ganz Großen ihrer Zunft, obwohl kaum ein Verehrer mehr eine Vorstellung ihres Könnens hat. Es gibt noch einige Rundfunkmitschnitte aus ihrer Zeit, aber wie sie ihren Klang führten und ihn zum Leben erweckten, wissen wir kaum mehr.
Der Dirigent Ernst von Schuch: Tradition ist nicht nur Schlamperei
Einer der berühmtesten Dirigenten bis zur heutigen Zeit ist der österreichisch-sächsische Ernst von Schuch (1846 bis 1914). Ebenso wie Karl Böhm war auch er zunächst Jurist. Er machte die Dresdner Hofkapelle in den 40 Jahren seines Wirkens zur »Zauberharfe« und hob als »Leibdirigent« von Richard Strauss dessen Werke in Dresden aus der Taufe.
Schuchs Weltruhm verbreitete sich ausschließlich aus dem Dunkel des Dresdner Orchestergrabens heraus bis nach Amerika, wohin man ihn gern verpflichtet hätte. Er blieb jedoch in Dresden. Von Ernst von Schuchs »Rosenkavalier« und dem ergreifenden Schlussterzett schwärmen die Dresdner noch heute.
Die Tradition seiner Interpretationen wird heiliggehalten, und als junger Orchestermusiker wird man als erstes in spezielle Klanganlagen, das atemberaubende Pianissimo und Artikulationsnuancen eingeführt. Sie sind in Dresden sakrosankt und für jeden Eleven verbindlich!
Die Kunst des Hörens bei Fernsehübertragungen
Nun soll man aber nicht glauben, Musiker und Hörer seien früher weniger kritisch gewesen als heute. Ich möchte eigentlich sogar das Gegenteil behaupten, denn Hörer und Spieler waren viel intensiver mit der individuellen Verlebendigung live gespielter Musik durch die Künstler vertraut, denn man war viel geübter im »hörenden« Hören.
Heutzutage sind viele Musikliebhaber mehr »sehende« Hörer; sie lassen sich durch die Medien viel leichter ablenken. Speziell im Fernsehen, dessen Macher auch bei Kunstübertragungen vorrangig auf die Wirkung ihrer Bilder bedacht sind, wird der Hörer selbst bei reinen Konzertübertragungen permanent durch die Bildregie abgelenkt.
Hinzu kommt, dass der »bloße« Hörer zu kollektiven Sichtweisen gezwungen wird, die seinen eigenen Hörintentionen sehr oft zuwiderlaufen. Individuelles geistiges Mitinterpretieren wird durch ruckartige Bildwechsel, oft entgegen der eigenen Blickrichtung, erschwert oder gar unmöglich gemacht.
So ist der Hörer durch Übertragungstechnik in Bild und Ton gezwungen, zum im Sessel sitzenden Passivhörer zu werden, auf den aus dem Bildschirm alles einprasselt. Als Musikliebhaber muss man im Fernsehen völlig andere, neue Hörleistungen adaptieren.
Brauchen Dirigenten eine telegene Dirigiertechnik?
Aber auch Dirigenten stehen vor der Frage, ob sie sich eine besondere, »telegene« Dirigiertechnik aneignen sollen oder ob das klassische Dirigierhandwerk noch tauglich fürs Fernsehen ist. Bei dieser Frage trennt sich bereits die Spreu vom Weizen.
Große Dirigenten wie Andris Nelsons, Alan Gilbert, Gustavo Dudamel oder Daniel Barenboim finden per se eine dirigentische Symbiose zwischen musikalischer Effektivität und Ästhetik. Für sie gilt die uralte Dirigentenregel, dass ihre Bewegungen für Musiker und Publikum gleichermaßen ästhetisch anzuschauen sein müssen. Diese Dirigenten unterscheiden sich wohltuend von den Fernsehlächlern und »genialen« Augenverdrehern.
Typisches Negativbeispiel der letzten Monate war die Übertragung des Eröffnungskonzertes aus der Elbphilharmonie. In dieser Übertragung blieben so ziemlich alle musikalischen Möglichkeiten unbeachtet! Mit Freude hat die Musikwelt registriert, dass ab dem Jahr 2019 Alan Gilbert neuer Chef im NDR-Sinfonieorchester (Elbphilharmonie) sein wird.