Orchestra, Schwerpunktthema | Von Stefan Fritzen

Der Dirigent: Lenker, Leiter, Steuermann

In der diesjährigen – siebten – Folge der Artikelserie über den Dirigenten möchte ich über die Wechselbeziehung tatsächlicher Klangereignisse und der geistig-seelischen Klangvorstellungen der Interpreten einige Betrachtungen anstellen. Jeder Dirigent ist gehalten, ein musikalisches Kunstwerk, das zunächst in abstrakter und sehr unvollkommener Form auf dem Papier steht, durch führende Bewegung mit einem Orchester in Klang umzusetzen.

Sprache und Gesten

Die Problematik, in der sich der Dirigent befindet, möchte ich mit einer kleinen jüdischen Anekdote erleuchten: Ein Mann kommt zum Telegrafenamt, um ein Telefon zu erwerben. Der Beamte erklärt ihm das Gerät und sagt: »Mit der einen Hand müssen Sie hier die Nummer wählen und mit der anderen halten Sie den Hörer, in den Sie hineinsprechen.« Darauf fragt der Kunde: »Und womit soll ich reden?«

Wenn beide Hände blockiert sind, kann man nicht mehr »reden«. Unser Sprechen geht immer mit Gesten einher. An Art und Intensität dieser Gesten kann man schon unabhängig vom gesprochenen Wort auf Intention und Charakter des Sprechenden schließen. Denken Sie etwa an die aggressiv-primitiven Gesten Hitlers bei seinem verbalen »Gebrüll« oder an die gönnerhaft segnenden von Stalin und Mao. Sie waren die schlimmsten Täter der bekannten Menschheitsgeschichte!

Victor Klemperer hat in seinen philologischen Untersuchungen auch diese nonverbale Sprache untersucht. Sein Leitmotiv war: »Sprache, die für dich dichtet und denkt.« Sprache ist alles; sie bringt auch alles an den Tag!

Dirigieren als »normale« angeborene Kommunikationsform?

Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass Dirigieren, weil es mit angeborenen unterstützenden Gesten des Sprechens korreliert, eigentlich angeboren sein müsste. Aber da haben wir uns in unseren Betrachtungen bereits eine Falle gestellt, denn bewusster eigener und planmäßiger unterstreichender und ausdeutender Gestus ist in der Musik nicht intuitiv, sondern implizit von der Qualität des Gedachten abhängig und gesteuert. Je differenzierter das geistige Konstrukt ist, desto strukturierter müssen die unterstreichenden, gestaltenden und führenden Bewegungen sein.

Ein Dirigent hat es mit einer Kunst zu tun, die inhaltlich oder verbal kaum zu deuten ist und deren Verwirklichung ausschließlich von Dritten, dem Orchester, ermöglicht werden muss. Er meint natürlich, sich die Bewegungen für die Gestaltung eines Kunstwerks vor der ersten Probe fein säuberlich zurechtgelegt zu haben und hat sie möglicherweise zusätzlich vor einem Spiegel eingeübt.

Dann muss er aber in der Probe oder dem Konzert feststellen, dass von den Musikern so viel Unerwartetes und Neues kommt und dass er mit seinen feinen einstudierten, dem Publikum schmeichelnden Bewegungen nicht mehr viel anfangen kann und eigentlich nur noch als ein Fremder vor dem Orchester steht, der mit seinem Latein am Ende ist.

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