Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Der kollektive Wahnsinn – Europas verrückteste Bigbands

Bigband
Die MHL BigBand im Jahr 2018 (Foto: Christian Ruvolo)

Die Orchestersprache eines Glenn Miller oder Count Basie ist heute pure Nostalgie. Selbst die Erfindungen von Bigband-Neuerern wie Quincy Jones, Gil Evans, Thad Jones oder Maria Schneider sind inzwischen Allgemeingut unter Jazz-Arrangeuren. Doch zum Glück lebt der nicht normierte Bigband-Wahnsinn immer fort. Hier sind sieben besonders verrückte Beispiele.

Die Heimat vieler wild-entfesselter Bigbands ist unser Nachbarland Frankreich. Aus dem südfranzösischen Toulouse kommt die kraftvolle Formation Initiative H, die ihre Alben erstaunlicherweise beim deutschen Label Neuklang veröffentlicht. 2014 erschien ihr Debüt „Deus Ex Machina“, drei wei­tere Scheiben folgten bereits. Die zwölf­köpfige Bigband hat eine Vorliebe für häufige Tempowechsel, verzwickte Arrangements und monströs-düstere Klänge. Sie integriert in ihre Musik auch Rockriffs, stampfende Rhythmen, Electro-Sounds, post-punkige Gitarrenblöcke und psychedelische Vokal-Elemente. Der Journalist Klaus Halama sieht die Band „in der Mitte zwischen Jazz und Rock verortet“: „Es liegt eine abenteuerliche Spannung in der Luft.“ Der Kopf von Initiative H ist der 40-jährige David Hau­drechy, ursprünglich ein klassischer Saxofonist. Neben dem Jazz zählt er Progressive Rock (zum Beispiel King Crimson) und die Musik der Romantik (zum Beispiel Berlioz) zu seinen wichtigsten Einflüssen. Haudrechy ist recht begabt darin, Unterstützer für seine Band zu mobilisieren – auf den Alben prangen bis zu 17 Logos.

Virtuose und variable Bigband

Wenn Stilistik und Temperament aus dem Ruder laufen, kann Médéric Collignon nicht fern sein. Der Franzose spielt Trompete, genauer gesagt Taschenkornett, und ist in jeder Band, in der er mitmacht, das anarchische Element – ein „absurdistischer Verrückter“, wie ihn ein Kritiker einmal nannte. Nicht nur bei Initiative H hatte er Gastauftritte, auch bei anderen abgefahrenen Orchestern ist er mit dabei. Zum Beispiel bei der Bigband des Jazzpianisten Thierry Maillard, die 2017 ihr erstes Album gemacht hat („Pursuit Of Happiness“). In den acht Stücken wechselt der Charakter der Musik häufig in Sekundenschnelle zwischen schweifender Melodie und zerklüftetem Drama, zwischen Schwärmerei und Klanghärten. Maillards Orchester geht in allen Aspekten in den Superlativ – Virtuosität, Stilvarianz, Ambition. Der Posaunist Daniel Zimmermann nennt das Album „ein Projekt außerhalb der Norm, irrational, ein bisschen verrückt“. Ein besonderer Leckerbissen ist die farbenreiche sechsköpfige Holzbläsersektion.

Die Bigband des Jazzpianisten Thierry Maillard

Auch beim Jazzorchester Le Sacre du Tympan mischt der „verrückte“ Médéric Collignon mit. Diese virtuose Spaß-Bigband ist das Brainchild des Gitarristen und Bassisten Fred Pallem, der vor allem für Film, Fernsehen und Bühne komponiert. Pallem arbeitete professionell mit Vanessa Paradis, Charlotte Gainsbourg, Adamo, Ute Lemper und vielen anderen. Mit seinem Orchester Le Sacre du Tympan hat er seit 2002 bereits neun Alben vorgelegt. Die Spezialität dieser ­mitreißenden Formation: Sie übersteigert mit Humor die Bigband-Klischees aus Jazzgeschichte, Filmmusik und Blues. Ein kompetenter Fan schreibt: „Was für ein Klangfest! Pallem gelingt es, Ives, Copland, Gershwin, Ellington, Kenton, Boyd Raeburn, ­Spike Jones, Raymond Scott, Don Ellis, Dizzy Gillespie, Gary McFarland, Bill Frisell, Sam Rivers und Zappa heraufzubeschwören. Musikalische Zitate kommen auf amüsante und inspir­ierte Weise vom Weg ab, Klischees werden zu Überraschungen durch wechselnde Metren und Tonarten. Eine übertriebene, postmoderne, wahnsinnige, musikalische Palette.“

Musiker aus un­ter­schiedlichen Genres

Nicht postmodern, sondern gleich „post-postmodern“ nennen Kritiker das Lisbon Underground Music Ensemble (L.U.M.E.) aus Portugal, das 2019 einen fulminanten Auftritt bei der „jazz­ahead!“ in Bremen hatte. In dieser 15-köpfigen Ausnahmekapelle spielen Musiker aus un­ter­schiedlichen Genres zusammen (Jazz, Rock, Klassik, Experimentalmusik). Der Pianist und Bandleader Marco Barroso schreibt die Stücke – sie sind überwiegend aggressiv und polyrhythmisch, ihre Harmonik ist dissonant erweitert. Viele Spielarten des Jazz werden zitiert und ironisiert, die Musik steckt voller Stilbrüche. Auch freie Improvisation, Noise-Elemente, Samples und Elektronik gehören zu den Bausteinen. Der portugiesische Kritiker Nuno Catarino hört in der Musik des L.U.M.E eine große Bandbreite an Refe­ren­zen: „Von Duke Ellingtons elegantem Swing bis zur nervösen Verrücktheit von Zappa, vom Groove von Weather Report bis zur Improvisation des Globe Unity Orchestra – alles garniert mit Kreativität und Humor.“

Aus dem flämischen Belgien kommt die Flat Earth Society (FES) des Klarinettisten Peter Vermeersch. Seit fast 25 Jahren vermischt dieses rebellische Orchester Bigband-Traditionen mit Prog-Rock-Kontrasten, Balkan-Brass-Sounds und Zappa-Eklektik. Vermeersch ist ein begehrter Theater- und Filmkomponist und versucht ­seine Band stets in diese Projekte einzubinden. »Wir kümmern uns um den Output für unsere Musik«, sagt er. „Gleichzeitig haben wir eine ­prägnante, effiziente Finanz- und Organisationsstruktur aufgebaut. Außerdem werden wir von der flämischen Regierung und der Stadt Gent unterstützt.“ Die neueste Entwicklung bei der Flat Earth Society heißt: Polit-Punk-Revue. Die Bigband liefert dabei die virtuos rockende Basis für eine Abfolge energiegeladener, sozialkritischer Songs – der Stil erinnert an Zappa, Sun Ra oder Rap-Musik. „Wir wollen ein anderes Publikum erreichen, nicht unbedingt die Jazzleute“, sagt Vermeersch. „Aber um diese Musik zu spielen, braucht man Musiker mit Jazzkönnen und Jazzhaltung. Und darum das FES.“

Bigbands
Die Köpfe des „Flat Earth Society Orchestra“ um Peter Vermeersch (rechts), Foto: Phile Deprez

Bigband als eine Art Praktikum

Auch in Skandinavien gibt es eine Reihe von unangepassten Bigbands wie das Trondheim Jazz Orchestra (Norwegen) oder die Bohuslän Big Band (Schweden). Die Espoo Big Band ist in Finnland zu Hause und besteht als Organisation schon seit 1980. Ihr derzeitiger Leiter ist der Gitarrist Marzi Nyman, der auch dem krachigen Rockjazz-Quartett Husband angehört. 2016 kam Nyman auf die Idee, diese beiden Ensembles einfach einmal zusammenzubringen – so entstand „Lauma“, eines der verrücktesten Alben der Espoo Big Band. In der Begegnung der beiden Formationen jagen sich lärmige Einfälle ­zwischen Bigband-Cluster und Heavy-Metal-Sounds. Es ist ein atemloses Wechselbad der Stilistiken und Rhythmen. Bläsersoli und Rockriffs rennen um die Wette, die Gegensätze purzeln zappaesk durcheinander. Nyman nennt das Ergebnis eine „Bigband-Gitarre mit Jimi-Hendrix-Einflüssen“.

Noch immer gilt das Spielen in einer Bigband als eine Art Praktikum für kommende Jazzmusiker. Viele Schulen und Hochschulen haben daher eigene Bigbands am Laufen. Selten jedoch entsteht dabei so originelle, eklektische, abenteuerliche Musik wie bei der MHL BigBand. MHL heißt: Musikhochschule Lübeck. Mit den Pro­fessoren Dieter Mack (Komposition) und Bernd Ruf (Bandleitung) bilden zwei Veteranen das Rückgrat der Band. Seitdem sich die Studierenden auch als Stückeschreiber immer stärker einbringen, erobert die Lübecker Bigbandsprache ganz neue stilistische Areale. Jungle-Beats, ­experimentelle Satztechniken, Prog-Rock- und ­Fusion-Momente, polyrhythmische Strukturen, Elektronik-Jams, Blues-Passagen und ironische Swing-Episoden gehen wild durcheinander. Die 2008 gegründete Bigband profitiert vom „Lü­becker Modell“, das auch Studierenden aus dem Klassikbereich ermöglicht, Jazz und Popularmusik zu belegen.