Orchestra | Von Alexandra Link

Der Komponist Dirk Mattes

Mattes
Foto: Marc Herrmann

Dirigentinnen und Dirigenten sind Visio­näre mit einem geschulten Geschmack und einem weiten musikalischen Horizont. Sie sind Menschen mit langangelegten Plänen, ein Orchester zu entwickeln, ein Publikum zu überraschen, eine Gesellschaft an zentrale Werte zu erinnern, Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden drohen, einen Raum zu bieten.“ Diese Aussage von Dirk Mattes ist keineswegs eine Beschreibung der Realität, sondern eine intensive, ausformulierte Wunschvorstellung von Dirigentinnen und Dirigenten – wie sie durchaus zu finden sind. 

In diesem Wunsch steckt keineswegs Kritik, denn Mattes weiß, dass die Blasorchesterszene – zumindest punktuell – Komponisten die Möglichkeit gibt, sich sehr vielfältig auszudrücken: Von einem simplen Anfängerwerk bis hin zu umfangreichen Konzertwerken in ambitionierter Tonsprache. Nur wünscht er sich eben, dass noch viel mehr Dirigentinnen und Dirigenten Werke abseits gewohnter Pfade finden. Im Internet-Zeitalter wäre das Finden kein Problem. Die Dirigentinnen und Dirigenten müssten sich lediglich auf die Suche begeben. 

Mit diesem Wunsch steht Dirk Mattes nicht allein. Alle interviewten jungen Komponisten dieser Serie darum bitten, dass sich die Dirigentinnen und Dirigenten mehr Zeit und Mühe bei der Auswahl des Repertoires nehmen. Eher mal eine Komposition wählen, anstelle der ewig vielen Bearbeitungen. Und auch Werke von Komponisten mit weniger bekannten Namen zu studieren. Dirk Mattes ist sich sicher: »Das wäre auch ein sicherer Garant für eine zukunftsfähige Arbeit als Blasorchester: Den Kontakt zu einem großen Anteil der Bevölkerung zu nutzen, um facettenreiche Projekte mit hochwertigen und spannenden Kompositionen auf die Bühne zu bringen.«

Komponisten können wertvolle Verbündete sein

Und Mattes bietet seine Unterstützung an: »Komponisten können wertvolle Verbündete auf diesem Weg sein.« Eine vom Komponisten begleitete Probe etwa kann ein besonderes Erlebnis für alle Beteiligten sein. 

Dirk Mattes war etwa 12 Jahre alt, als das Komponieren zu ihm kam. Damals waren es kleine Stücke, die seinem Anspruch jedoch keineswegs gerecht wurden. Wenn ihm unterwegs musikalische Fragmente eingefallen sind, hat er sie auf leeren Blättern, Post-Its oder Bierdeckeln notiert. »Inzwischen benutze ich Notenpapier – das hat sich bewährt«, schmunzelt er. Bei allen seinen Kompositionen führt der Weg über ein Blatt Papier. Und das sind mittlerweile zehn Kompositionen für Sinfonisches Blasorchester, 13 Kom­positionen für Spielleuteorchester und jede Menge Werke für diverse Besetzungen für Streicher, für Naturtonensemble, gemischten Chor … 

Der Weg zum Schreiben für Blasorchester war vorgezeichnet: Dirk Mattes hat im Jugend­verbandsorchester des Blasmusikverbands Vorspessart gespielt und ein Werk für dieses Orchester geschrieben. Der damalige Dirigent des Orchesters, Harald Krebs, bot ihm die Gelegenheit, dieses selbst zu dirigieren: »Das war eine ganz tolle Erfahrung, für die ich ihm und allen beteiligten Musikern sehr dankbar bin.« Sein erstes erfolgreiches Werk ist »The Journey«, für das er einen Förderpreis bei einem Kompositionswettbewerb gewonnen hat. Zwei weitere Frühwerke zählt er zu seinen ersten Erfolgen: Zum einen »Spirit«, wahrscheinlich wegen seiner sehr leicht zugänglichen Tonsprache und »Ich atme Gefühl«, das auch schon vom Polizeiorchester Bayern und der Banda Municipal de Bilbao aufgeführt wurde. Letzteres erschließt ohne extreme spieltechnische Anforderungen (Grad 3) eine sehr intensive Ausdrucksstärke und legt einen guten Zugang zu einer ambitionierten Tonsprache.

Zu seinen erfolgreichsten Werken gehört „Drei Briefmarken“

Zu seinen erfolgreichsten Werken gehört »Drei Briefmarken«, ein dreiteiliger Zyklus für Sinfonisches Blasorchester, das als Auftragswerk für das Festival UNerHÖRTes im Jahr 2014 entstanden ist. UNerHÖRTes war ein Festival, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Tonsprache des 20. und 21. Jahrhunderts an junge Musiker heranzuführen. Sehr schade, dass es dieses Festival und die damit verbundenen Kompositionsaufträge an junge Komponisten nicht mehr gibt.

Seit zehn Jahren schreibt Dirk Mattes immer wieder unermüdlich an seiner 1. Sinfonie für Sinfonisches Blasorchester: »Ich stehe derzeit kurz vor dem Abschluss, bevor ich mich um die Uraufführung kümmere. Dieses Werk bildet sowohl meine persönliche als auch meine kompositorische Entwicklung recht umfassend ab. Man darf also gespannt darauf sein.«

Viele der Kompositionen von Dirk Mattes sind mittlerweile Auftragswerke. Auf die Frage zu den Einschränkungen, die Aufträge mit sich bringen, antwortet er: »Egal ob Auftrag oder nicht: Jedes Werk bringt Einschränkungen mit sich. Sobald sich eine erste Note auf dem Papier befindet, steht eine mögliche zweite Note bereits in Bezug dazu. Nach der Wahl eines Instruments ist der Ambitus begrenzt. Manche Figuren können dann recht einfach ausgeführt werden, andere funktionieren unter Umständen gar nicht. Eine eigene Handschrift zu finden ist natürlich eine Lebensaufgabe. Sie unterliegt auch ständiger Wandlung: Wenn ein Auftrag konträr zu meinen eigenen Gedanken und Plänen liegt, kann das manchmal sogar inspirieren. Und wenn das nicht so ist, nehme ich den Auftrag einfach nicht an.«

Große Maßstäbe auch in kleinen Werken

Auch in kleinen Werken sieht Dirk Mattes die Möglichkeit, große Maßstäbe anzulegen. Dies gelingt ihm seiner Ansicht nach nicht in jedem Gelegenheitswerk, aber wenn er eine seiner Partituren im Nachhinein liest und sich an gelungenen Entscheidungen erfreut, dann macht ihn das schon sehr zufrieden. Auf die Frage, was ihm beim Schreiben einer Komposition besonders wichtig ist, antwortet Dirk Mattes: »Ein Meisterwerk wiederum bietet zusätzlich die Möglichkeit auf eine psychisch veränderliche Wirkung – oder gar eine Entwicklung – beim Zuhörer.

Es ist nicht nur eine Aneinanderreihung guter Ideen. Wenn das große Ganze aus dem Kleinen hervorgeht und das Kleine sich ins Große homogen einfügt, dann hat man eine Chance auf ein echtes Kunstwerk. Eine durchdachte Gestaltung der zeitlichen Proportionen und ein sensibler Umgang mit dem musikalischen Material ist hierfür eine unerlässliche Voraussetzung. Bei all der Planung stellt sich dennoch, ohne eine Prise Überraschung, schließlich Langeweile ein. Dieses Gleichgewicht dem Kunstwerk angemessen (und dennoch auf persönliche Weise) auszubalancieren, ist dann die tägliche Arbeit des Komponisten.« Diese Antwort zeigt sehr gut sein Selbstverständnis als Komponist, außerdem einen sehr klugen Zugang jeder seiner Kompositionen. 

»Mich inspirieren psychische Zustände, zwischenmenschliche Beziehungen und Dilemmata, Aufträge, eigene Pläne, aber vor allem die Werke großer Meister. Der Anfang einer Komposition kann ein dramaturgischer Verlauf, eine Harmoniefolge, eine Melodie, eine ungewöhn­liche Perspektive in der Instrumentation sein. Manchmal improvisiere ich auch, nehme es auf und arbeite die wirkungsvollsten Gedanken aus.« So beschreibt Dirk Mattes seine Vorgehensweise beim Komponieren.

Diplom an der Musikhochschule

Während es in der Blasmusikszene nicht unüblich ist, dass es Komponisten ohne Kompositionsstudium gibt, gehört Dirk Mattes zu denjenigen, die ihr Handwerk mit Diplom an der Musikhochschule gelernt haben. In seinem Fall war es die Hochschule für Musik in Würzburg. Außerdem besuchte er die Fortbildungsklasse und Meisterkurse, beispielsweise bei Krzysztof Penderecki und zahlreichen anderen zeitgenössischen Komponisten. Dieses breite Spektrum an Kompositionslehrern machte ihm eine Vielzahl an verschiedenen musikalischen Sichtweisen zugänglich und prägt sein musikalisches Schaffen entscheidend. Neben seiner Arbeit als Komponist ist er Verbandsdirigent des Musikverbands Untermain, Dirigent des Symphonischen Blasorchesters Untermain, musikalischer Leiter der Harmonie Dettingen, er unterrichtet und wird als Dozent engagiert. 

Folgendes Zitat von Dirk Mattes, könnte sein Leitspruch sein: »Die komplexeste Komposition kann Menschen tief ins Herz treffen, die es selbst nicht erwartet hätten. Umgekehrt kann eine einfache Weise eine ebenso tiefe Wirkung entfalten. Kurzum: Nichts ist für alle und Alles kann für niemanden sein – aber Qualität sollte es haben!« Alexandra Link z

Die jungen Komponistinnen und Komponisten brauchen Chancen. Sie müssen sich ausprobieren können. Und deshalb braucht es Möglichkeiten, dass ihre Stücke auch aufgeführt werden. Die Zeitschrift BRAWOO und die Autorin dieses Artikels möchten die Erneuerung der Blas­orchester-Literatur unterstützen und mit einer Porträt-Serie dazu beitragen, dass junge Kom­ponistinnen und Komponisten sichtbar werden. Damit sie hörbar werden, braucht es interessierte, mutige Dirigentinnen und Dirigenten sowie neugierige, offene Blasorchester.

Bisher erschienen: Andreas Ziegelbäck, Gauthier Dupertuis, Nelson Jesus, Georges Sadeler, Daniel Muck