Orchestra | Von Alexandra Link

Der Komponist Nelson Jesus

Nelson Jesus

Der Portugiese Nelson Jesus (*1986) gehört zu der jungen Generation Komponisten, die in den Startlöchern stehen, die Konzertprogramme der Blasorchester international zu erobern. Und wer denkt, dass die jüngeren Komponisten heutzutage zum Komponieren nur vor dem Computer sitzen, liegt bei Nelson Jesus komplett falsch. Eine neue Komposition beginnt bei Nelson immer mit einigen leeren Blättern Papier bzw. Notenpapier und Bleistift. Meistens arbeitet er an mehreren Stücken gleichzeitig, in verschiedenen Stadien. Nur in der Endphase konzentriert er sich auf ein Werk. Zu seiner Arbeitsweise sagt Nelson Jesus: “Ich arbeite an meinen Werken wie an einem Puzzle, ich entwickle meine Ideen und arbeite an den Übergängen zwischen den verschiedenen Puzzleteilen. Die Inspiration ist bei jedem Werk anders, aber ich wende immer die ›Beethoven-Technik‹ an: ‘Wenn Sie nicht weiterkommen, machen Sie einen Spaziergang!'”

Musikalischer Freigeist

Nelson Jesus ist ein musikalischer Freigeist. Er kann zwar sehr gut mit Einschränkungen bei Auftragswerken arbeiten, weil es seine Kreativität kanalisiert, aber ansonsten lässt er sich nicht in eine Schublade stecken. Er reagiert auch ein bisschen allergisch, wenn Auftraggeber sagen “Schreib uns ein Werk wie zum Beispiel …” Er möchte sich schließlich nicht wiederholen. Sein bisher erfolgreichstes Werk ist »Porto de Saudades«. Allerdings ist er etwas frustriert, wenn er erkennt, dass die Leute denken, es wäre sein einziges Werk für Blasorchester. Es ist tatsächlich das einzige Werk bisher, das weltweit von Nelson Jesus aufgeführt wird. Seit “Porto de Saudades” haben viele weitere Werke – meist Auftragswerke – sein Komponier-Studio verlassen. 

Während die meisten anderen Komponisten, die für Blasorchester schreiben, in einem blasmusikalischen Elternhaus und der entsprechenden familiären Umgebung eines Blasorchesters aufgewachsen sind, ist das bei Nelson Jesus ganz anders gewesen. Er ist Asthmatiker. Der Arzt hat seinen Eltern damals empfohlen, Tennis zu spielen, zu schwimmen oder ein Blasinstrument zu spielen. Es wurde das Saxofon, das er im örtlichen Blasorchester lernte. Das hatte neben dem gesundheitlichen auch gleich einen sozialen Nebeneffekt: Er fand dadurch sehr leicht Freunde. Er studierte schließlich in Porto und Lissabon Saxofon und Komposition. Momentan studiert er im Masterstudiengang Dirigieren an der Universität von Aveiro. Er spielte professionell in einem Militärblasorchester und gab Saxofon-Unterricht. Das Unterrichten frustrierte ihn jedoch zunehmend: “Lehrer unterrichten heutzutage nicht mehr, sondern sind nur noch eine Art Babysitter.”

Erste Arrangements

Seine ersten musikalischen Skizzen waren Arrangements: »Ich weiß genau, dass es Chet Bakers ›My Funny Valentine‹ und einige Milongas von Piazzolla waren. Bald darauf folgten einige Arrangements für Saxofonquartett und -en­semble, und im Alter von 14 Jahren habe ich meinen ersten Marsch für ein Blasorchester fertiggestellt, dessen Partitur komplett mit Tinte handgeschrieben und mit Schnur zusammengebunden war. Diese Partitur habe ich noch.«

Da er im Blasorchester aufwuchs war es für ihn ganz natürlich, auch für diese Ensembleart zu schreiben. Erst im Alter von 19 Jahren hörte er zum ersten Mal ein Sinfonieorchester. Neslon hat auch schon Solo-, Kammermusik-, Opern-, Kammer- und Sinfonieorchester-Stücke geschrieben. Allerdings haben es diese Besetzungen sehr viel schwerer, als die Blasorchesterwerke aufgeführt zu werden. Er ist da sehr realistisch: Das Blasorchester ist auch sein Medium, weil er versucht, als Komponist zu leben. Und Blasorchester sind nunmal sehr viel aufgeschlossener, Musik von »noch lebenden« Komponisten zu spielen und auch Kompositionsaufträge zu vergeben, als andere Ensembles. 

Sein persönlich bedeutendstes Werk ist »El Mar y las campanas«, op. 28 für Sopranstimme und Klavier. Dieses Werk gibt es mittlerweile auch in einer Fassung für Gesang und Blasorchester. Sein erstes erfolgreiches Werk war sein Bass Drum Concertino, op. 12. Er schrieb es schon sehr früh, in seiner »autodidaktischen Phase«, wie er seine ersten Jahre als Komponist selbst bezeichnet. Nachdem dieses Werk sogar einen internationalen Preis gewonnen hat (1. Preis beim 1. Iberoamerikanischen Kompositionswettbewerb für Sinfonieorchester, Oaxaca-Mexiko 2014), studierte er Komposition bei einem Privatlehrer und später an der Hochschule. 

Erster Preis beim Kompositionswettbewerb der WASBE

Ein weiteres erfolgreiches, preisgekröntes Werk ist »Wolf Tears«. Ein für pädagogische Zwecke geschriebenes Stück, das beim Internationalen Kompositionswettbewerb der WASBE im Jahr 2017 den ersten Preis gewann. Ausgangspunkt ist die Motette »Audivi Vocem Caelo« des portugiesischen Komponisten Duarte Lobo (ca. 1565–1624). Der Titel »Wolfstränen« leitet sich von der englischen Übersetzung des Spitznamens des Komponisten ab (Lobo – Wolf). Es wurde beim Wettbewerbsfinale im Juli 2017 in Utrecht mit der Douane Harmonie Nederland unter der Leitung von Björn Bus uraufgeführt.

Ein recht neuer Marsch »Mina d’Água«, op. 79, geschrieben im Jahr 2023, gewann einen 1. Preis beim Kompositionswettbewerb für Märsche in Mina d’Água im portugiesischen Kreis Amador. Weitere Preise gewann er für »Zamora 1143«, op. 21 (1. Preis bei der 4. Ausgabe des Kompositionswettbewerbs für Blasorchester, Ina­tel-Army Band), »Dies Irae«, op. 47 (International Composition Competition Banda Sinfónica Portuguesa, 2020), »Libera Me«, op. 63 und »Disseram que havia Sol«, op. 64 (1. Preis bei der 1. Ausgabe des Internationalen Kompositionswettbewerbs – Leiria Creative City of Music, der von der UNESCO gefördert wird und dem poetischen Werk von José Saramago gewidmet ist.)

Zwischen Originalität und Klischee

Mit »Porto de Saudades« gewann er den 2. Preis des vierten nationalen Kompositionswettbewerbs der Banda Sinfónica Portuguesa, das in der Casa da Música, Porto, von dem genannten Ensemble unter der Leitung von Francisco Ferreira uraufgeführt wurde. Was diese Musik und andere seiner Werke außerhalb von Portugal erfolgreich macht, ist das, was seine Musik in seinem eigenen Land weniger erfolgreich macht.

Nelson erklärt: “Wenn ich eine Art von heimischer Volksmusik verwende, direkt oder inspiriert, wird meine Musik in meinem Land als Klischee wahrgenommen, selbst wenn sie von ihrer besten Seite ist. Diese Art von Musik ist für Menschen außerhalb der Grenze jedoch von großer Originalität und speziell. Eine andere Sache, die meine Werke charakterisieren, ist, dass ich mich nicht um diese Art von Musik-Schubladen und Etiketten kümmere. Musik ist Musik, ich kümmere mich nicht um diese Art von Kommerz, Bildung und darum, dass die dritte Klarinette einfacher sein muss als die zweite. Meine Musik ist freier in dieser Art des Denkens.”

Ein weiteres bemerkenswertes Werk, das auch international schon mehrere Aufführungen hatte, ist »Sinfonietta Galaica«, op. 48. Es war ein Auftrag des regionalen Wettbewerbs »Concurso de Bandas Filarmónicas de Braga« im Jahr 2020. Und auch drei Sinfonien gehören bereits zu seinem Oeuvre. Dennoch ist Nelson Jesus bei uns im deutschsprachigen Europa immer noch ein Geheimtipp für genau die Blasorchester, die gerne einmal »etwas anderes«, Neues ausprobieren möchten und eben nicht die Werke spielen, die sonst jedes Orchester im Programm hat. 

Porträt-Serie

Die jungen Komponistinnen und Komponisten brauchen Chancen. Sie müssen sich ausprobieren können. Und deshalb braucht es Möglichkeiten, dass ihre Stücke auch aufgeführt werden. Die Zeitschrift BRAWOO und die Autorin dieses Artikels möchten die Erneuerung der Blas­orchester-Literatur unterstützen und mit einer Porträt-Serie dazu beitragen, dass junge Komponistinnen und Komponisten sichtbar werden. Damit sie hörbar werden, braucht es interessierte, mutige Dirigentinnen und Dirigenten sowie neugierige, offene Blasorchester.

Bisher erschienen: Andreas Ziegelbäck, Gauthier Dupertuis