Brass | Von Klaus Härtel

Der Posaunenchor

Der Posaunenchor – eine Spezialform des Blechblasorchesters – hat eine lange Geschichte. Seit 2016 zählt der evangelische Posaunenchor offiziell zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe.

Bläsergruppen als Freiluft-Orgel

Im 18. und 19. Jahrhundert machten Aufklärung, Wissenschaft und Technik enorme Fortschritte. Im Gegenzug kämpften die Kirchen um die Erneuerung des Glaubens. Der sogenannte Pietismus – eine vielfältige Erweckungs- und Reformbewegung der evangelischen Kirchen – bekam nach 1800 gesteigerten Zulauf.

Weil zahlreiche Kirchen bald zu klein wurden, verlegte man die Gottesdienste häufig in ein Zelt oder unter freien Himmel. Als Freiluft-Orgel diente dabei eine Bläsergruppe, die anfangs hauptsächlich aus Posaunen bestand – für die Oberstimmen verwendete man Zinken oder Blockflöten.

Vor allem Bach-Choräle wurden gerne für den Posaunenchor gesetzt. (Ganz ähnlich hat man in der Renaissance schon Motetten und Canzonen mit Bläsergruppen gespielt.)

Vater der Posaunenchöre: Johannes Kuhlo

Ein Zentrum der neupietistischen Erweckung war Ostwestfalen. Dort entstand 1843 der erste offizielle Posaunenchor und fand bald viele Nachahmer. Aus Ostwestfalen stammte auch Johannes Kuhlo (1856 bis 1941), der die Posaunenchor-Bewegung dann entscheidend vorantrieb.

Der sogenannte »Vater der Posaunenchöre« spielte mit sechs Jahren erstmals auf einem Posthorn, mit neun lernte er Altposaune, mit 14 stieg er aufs Flügelhorn um. Mit 15 gründete das »Blaswunder« Kuhlo seinen ersten Posaunenchor und führte dort gleich die »klingende«, nicht transponierende Notenschreibweise ein – ein raffinierter Schachzug, um sich von den weltlichen Blasorchestern abzusetzen.

Später regte er übrigens auch den Bau eines oval geformten Flügelhorns an – das sogenannte »Kuhlo-Horn«. In den 1920er Jahren hat er mit seinem Kuhlo-Horn-Sextett sogar internationale Konzertreisen unternommen.

Schon mit 25 Jahren nannte man ihn den »Posaunengeneral«. Unter dem Motto »Durchs Horn zum Herrn!« organisierte der »Freudenmeister« Kuhlo die immer weiter wachsende Posaunenchor-Bewegung – und das teilweise gegen den Widerstand der Kirchen.

Bläserische Aktivität als kirchliche Sozialarbeit

Im Lauf der Jahre wurde die bläserische Aktivität der Laien zu einem wichtigen Teil der kirchlichen Sozialarbeit. Posaunenchöre holten die Jugendlichen von der Straße und die Arbeitslosen weg vom Alkohol. Nicht mit Predigten, sondern mit Bläserchorälen konnte man »die der Kirche Entfremdeten« noch erreichen – davon war Kuhlo überzeugt.

Posaunengeneral bei Adolf Hitler

1891 wurde Pastor Kuhlo der Bläser-Gau-Präses, 1926 der Reichsposaunenwart, 1934 der Ehrenpräsident des Verbandes der Posaunenchöre. Bis ins hohe Alter war er für seine Idee aktiv. Sein unermüdlicher Einsatz brachte ihm Ehrennamen wie »Laufender Stiefel« und »Pastor in Unruhe« ein.

Allerdings diente Kuhlo nicht allein dem Bläserwesen und dem lieben Gott. Er huldigte mit seinen Posaunenchören auch dem deutschen Kaiser und später dem Führer. Schon vor 1933 bekannte sich der Posaunengeneral zu Adolf Hitler. Kuhlo war ein fanatischer Antisemit, nahm das Horst-Wessel-Lied ins Posaunenchor-Buch auf und blieb NSDAP-Mitglied bis an sein Lebensende.

Über 100.000 Menschen sind in Deutschland in Posaunenchören aktiv

Die Posaunenchor-Bewegung hat das alles nicht gebremst. Im Evangelischen Posaunendienst in Deutschland e.V. (kurz: EPiD) sind heute 29 Posaunenchorverbände vereinigt, die über 7000 Posaunenchöre vertreten. Weit über 100.000 Menschen sind hierzulande in evangelischen Posaunenchören aktiv.

Die Verbände und Organisationen veranstalten regelmäßig ihre verschiedenen Posaunentage auf Kreis-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene. Bei Landesposaunentagen kommen zuweilen über 100.000 Bläser zusammen.

Den bisherigen Rekord hält der 2. Deutsche Evangelische Posaunentag, der 2016 in Dresden stattfand. Dort nahmen über 17.000 Bläserinnen und Bläser teil.