Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Der Rattenfänger von Hameln. Das Stichwort

Rattenfänger
Rattenfängerdarstellung als Glasmalerei in der Marktkirche Hameln (Reisechronik des Augustin von Moersperg 1592).

Wir alle kennen die Geschichte: Ein Mann kommt nach ­Hameln und befreit die Stadt von der Rattenplage. Als dem Rattenfänger der Lohn verweigert wird, rächt er sich, indem er Kinder entführt. So weit, so tragisch. Wäre da nicht auch noch ein Blasinstrument…

Ist etwas Wahres dran an der Geschichte vom Rattenfänger? Forscher gehen davon aus, dass zwei verschiedene Legenden in ihr zusammengeflossen sind. Die eine: die Rattenbeseitigung in Hameln. Historische Belege dafür gibt es nicht. Mit welchen Tönen man Ratten ­locken könnte, hat die Wissenschaft auch noch nicht herausgefunden. Schon Athanasius Kircher (1602 bis 1680) fragte sich ernsthaft: Welche Art von Flöte kann das gewesen sein? Übrigens sind Ratten hervorragende Schwimmer – dass sie in der Weser ertrinken, ist unwahrscheinlich. Alles frei erfunden! Die andere Legende: das Verschwinden der Kinder. Auch für dieses Ereignis: keine Belege. Stutzig macht aber, dass wir das Jahr erfahren (1284) und die Zahl der Vermissten (130). Als wahrscheinlichste Theorie gilt heute, dass sich dahinter die Geschichte einer Aus­wanderung verbirgt. Im 13. Jahrhundert wurden viele Menschen zur Ansiedlung im Osten angeworben. Möglicherweise verlor Hameln eine ganze Generation.

Seit dem 15. Jahrhundert wurde die Geschichte vom Rattenfänger immer wieder nacherzählt – bis hin zu den Brüdern Grimm, Johann Wolfgang von Goethe und Robert Browning. Der Rattenfänger wurde sprichwörtlich als Metapher für einen Verführer und Menschenfänger. Die Legende erreichte ein internationales Publikum und diente als Vorlage für zahlreiche literarische und filmische Neu- und Umdeutungen. Warum wurde der Rattenfänger so populär? Natürlich auch deshalb, weil die Musik darin eine Rolle spielt! Rattenfang und Kinderraub geschehen ja nicht mit Futter oder Süßigkeiten, nicht mit Gewalt, Betrug, Erpressung oder Lüge, sondern allein mit den süßen Tönen aus einer Flöte oder Schalmei. Es ist letztlich eine Geschichte über die Macht der Musik. Kein Wunder, dass die Legende vom Rattenfänger (engl. “Pied Piper”) ihrerseits eine Menge Musik inspiriert hat, klassische Lieder (Liszt, Wolf), Opern (Cerha, Hiller, Gray), auch ein Flötenkonzert (Corigliano) und unzählige Pop- und Rocksongs (Hannes Wader, Jethro Tull, Megadeth).

Gefährliche Verführungskraft der Töne

Die gefährliche Verführungskraft der Töne – sie wurde schon oft thematisiert, angefangen beim mythischen “Gesang der Sirenen”, der Sage von der Loreley bis hin zu Thomas Manns Wagner-Novellen. Auch die Kirchenoberen im Mittelalter misstrauten der Musik, sobald sie sich vom Dienst an Gott und an frommen Texten entfernte. Besonders die Blasinstrumente, beredt ohne Worte, standen im Verdacht, Werkzeuge des Teufels zu sein. Wer bläst, so hieß es, hat den Mund nicht frei, um zum Lob des Herrn zu singen – dann drohen Sünde und freies Denken. Schon der Kirchenvater Clemens von Alexandria (ca. 150 bis ca. 215) nannte die Schalmei einen “Brückenpfeiler zur sinnlichen Liebe und zum müßigen Treiben”. Sie locke und verführe Tiere und Ungebildete, schrieb er und nahm damit die Rattenfänger-Story schon vorweg. Als Vorbild für Teufelsdarstellungen wählte man im Mittel­alter die Satyrn und gehörnten Götter der Antike. Ihre Domäne im Mythos? Das Bläserspiel.

Daher hatten es die Gaukler und Musikanten im Mittelalter nicht leicht. Ohne Wohnsitz, mit wilden Sitten und in bunten Gewändern zogen sie umher und spielten ungebremst auf verdächtigen Instrumenten. Noch im 16. Jahrhundert empfiehlt der Graf Baldassare Castiglione, “sich peinlich vom Gebrauch plebejischer, lauter Tonwerkzeuge (Trompeten, Flöten, Zinken, Dudel­säcke, Trommeln und dergleichen) fernzuhalten”. Die Legende vom Rattenfänger spiegelt auch die Vorurteile der gesitteten Bürger gegenüber blasenden Spielleuten. In einer späteren, in Österreich entstandenen Variante dieser Geschichte wirft man dem Rattenfänger direkt vor, “mit dem Teufel im Bunde zu stehen”. Das wird dann zum Vorwand, ihn nicht bezahlen zu wollen.

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune, Stichwort Multiphonics, Das Blechbläserquintett, Die Duduk. Die Aida-Trompete, Das Xaphoon