Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Der Stimmton. Das Stichwort

Stimmton
Foto: Wollschaf, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2425274

Neben der “relativen” Stimmung (Temperatur) – zum Beispiel der pythagoräischen, mitteltönigen, gleichschwebenden, reinen Stimmung – gibt es die “absolute” Stimmung: einen Ausgangs-Ton, auf den sich die Instrumente einigen.

Wenn mehrere Instrumente zusammenspielen, müssen sie sich aufeinander ein- und abstimmen. Dafür nimmt man in der Regel den Kammerton, das eingestrichene a (a’). Ursprünglich bezeichnete der Kammerton den Stimmton in der “Kammer”, also am fürstlichen Hof. Dieser Ton konnte natürlich von Fürstenresidenz zu Fürstenresidenz ein anderer sein. Im 16. Jahrhundert sollen die diversen Kammertöne der Hofkapellen bis zu einer Quinte (!) auseinander gelegen haben. Erst im 18. Jahrhundert begann man damit, sich um einen einheitlichen Kammerton zu bemühen. Die sogenannte “Pariser Stimmung” legte das a’ im Jahr 1788 auf 409 Hertz fest, im Jahr 1855 bereits auf 435 Hertz. Erst 1939 wurde der heute gültige Kammerton von 440 Hertz definiert – das war eine Art internationaler DIN-Normung durch die Organisation ISA. In der Praxis aber intonieren viele Sinfonieorchester mit einem etwas höheren Kammerton von 442, 443, 445 oder noch mehr Hertz.

Die Gebiete der Musikpraxis waren in Europa lange Zeit streng voneinander getrennt.

Der höfische Kammerton galt nicht in anderen musikalischen Sphären – die Gebiete der Musikpraxis waren in Europa lange Zeit streng voneinander getrennt. So hatte die Kirchenmusik ihren eigenen Stimmton; man nannte ihn Kirchen-, Chor-, Orgel- oder Kapellton, und er wechselte von Gemeinde zu Gemeinde. Die Stadtpfeifer und Feldtrompeter wiederum hatten einen Bläser-Stimmton, der Kornett-Ton oder türkischer Ton hieß. (»Türkisch« nannte man alles, was mit Militärmusik zu tun hatte.) Und die Opernhäuser verwendeten jeweils ihren eigenen Opern-Stimmton. Bei Orgeln, Chören und Bläsern lag das a’ gewöhnlich höher als der Kammerton, und zwar eher bei 460 bis 495 Hertz – man versprach sich davon eine “strahlende” und “brillante” Klangwirkung. Der Opernton dagegen lag in der Regel tiefer als der Kammerton, damit die Stimmbänder der Sängerinnen und Sänger nicht zu sehr strapaziert wurden. Der Opernkomponist Giuseppe Verdi favorisierte einen Stimmton von 430 bis 432 Hertz. 

Unterschiedlichen Stimmtöne sorgten schon immer für kleine Konflikte

Diese unterschiedlichen Stimmtöne sorgten schon immer für kleine Konflikte. Wenn zum Beispiel Orgel und Blasinstrumente um etwa einen Halbton verschieden gestimmt waren, brauchte man zwei Werkfassungen in verschiedenen Tonarten. Da heutzutage die Musiksparten sich ständig überlappen, gibt es solche Konflikte noch immer. Sind zum Beispiel Instrumente beteiligt, die nicht oder nur mit großem Aufwand umgestimmt werden können, etwa eine Orgel oder ein Konzertflügel, richtet sich der Stimmton gewöhnlich nach ihnen. Dagegen tendieren Sinfonieorchester gerne zu einer höheren Intonation, weil Geigensaiten besser klingen, wenn sie stärker gespannt sind. Der Opernkomponist Richard Strauss beklagte einmal die Folgen für die Sänger: “Die hohe Stimmung unserer Orchester wird immer unerträglicher. Es ist doch unmöglich, dass eine arme Sängerin A-Dur-­Koloraturen, die ich Esel schon an der äußersten Höhengrenze geschrieben habe, in H-Dur herausquetschen soll.”

Über den Stimmton der Militärblaskapellen wurde im nationalistischen 19. Jahrhundert ausgiebig gestritten. Kein Heer wollte sich von einem anderen den Stimmton vorschreiben lassen. 1891 wurde für alle Militärmusik in der k.u.k. Armee die hohe Wiener Stimmung (461 Hz) angeordnet. Der Musikkritiker Eduard Hanslick schrieb damals, beim Spiel im Freien und bei der gewünschten Fernwirkung sei “ein schärferer, hellerer Klang unentbehrlich, also eine höhere Stimmung”. Das Wechseln zwischen verschiedenen Stimmtönen – z.B. in Oper, Konzerthaus, Blasmusik – ist speziell für das Holz ein Problem. Holzblasinstrumente können häufig um nur etwa 3 bis 4 Hertz Differenz umgestimmt werden. Bei Stimmton-Reformen in der Vergangenheit mussten daher auch mal komplett neue Blasinstrumente gebaut werden. Heute noch kann es für Holzbläserinnen und -bläser von Vorteil sein, wenn sie verschieden gestimmte Instrumente besitzen. 

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune, Stichwort Multiphonics, Das Blechbläserquintett, Die Duduk. Die Aida-Trompete, Das Xaphoon, Der Rattenfänger, Der Zink, Die Sackpfeife, Der Hardbop, Das Flügelhorn