Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Die Windkapsel. Das Stichwort.

Windkapsel
Fotos: Sönke Kraft aka Arnulf zu Linden - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1117435

Der Ansatz ist bei Holzbläsern von wesentlicher Bedeutung. Doch es gibt auch Rohrblatt-Instrumente, bei denen die ­Möglichkeiten des Ansatzes praktisch wegfallen. Das Blättchen versteckt sich nämlich in einem Behälter. Der Windkapsel.

Von berühmten Jazzsaxofonisten heißt es, dass sie, auch wenn sie ins Saxofon eines Kollegen blasen, vom ersten Ton an ganz nach sich selbst klingen. Ein Coleman Hawkins, ein John Coltrane, ein Illinois Jacquet oder ein Stan Getz: Jeder hatte seinen unverkennbaren “Sound” am Tenor. Ausschlaggebend dafür ist der persönliche Ansatz, die »Embouchure« – in welchem Winkel jemand das Instrument im Mund hält, wie er die Zähne setzt, wie er das Mundstück mit den Lippen umschließt, wie stark Beiß- und Lippendruck sind, wie stark er bläst und wie er mit der Zunge arbeitet. Auch die individuellen Resonanzräume spielen eine Rolle: die Mundhöhle des Spielers, die Nebenhöhlen, Rachen und Kehle. Mit dem Ansatz korrigiert man außerdem die Tonsauberkeit, erzeugt Ausdruck und Dynamik. Die expressive Stärke speziell des Saxofons lebt von der Intonations-Palette am Mundstück.

Nun gibt es aber auch Rohrblattinstrumente, bei denen die Möglichkeiten des Ansatzes fast komplett wegfallen. Der Grund: Das Blättchen steckt in einem Behälter, fern vom Mund des Spielers – in einer sogenannten Windkapsel. Diese Windkapsel schützt nicht nur das Rohrblatt vor Beschädigungen, sondern erlaubt ihm, “frei” zu schwingen und damit einen besonders lauten, durchdringenden Ton zu erzeugen. Der Spieler bläst die Luft durch einen Schlitz oder ein kurzes Rohr in die Windkapsel hinein. Er kann den resultierenden Ton weder durch Zahnstellung und Lippenspannung noch durch die Resonanzräume seines Schädels beeinflussen. Eine expressive Dynamik ist nicht möglich, sein Spiel ist “affektfrei”. Allenfalls lässt sich mithilfe des Blasdrucks die Tonhöhe ein wenig steuern.

Ein bekanntes Windkapsel-Instrument ist das Krummhorn, das vor allem im 16. Jahrhundert in Mitteleuropa populär war. Seinen Namen hat es von der 180-Grad-Biegung seines Rohrs. Das Krummhorn ist zylindrisch gebohrt, klingt also tief und gedämpft, und hat einen Tonumfang von etwa einer Oktave. Moderne Instrumente besitzen allerdings Erweiterungsklappen und können außerdem über- und unterblasen werden, wobei sich die Klangfarbe deutlich ändert. Das konisch gebohrte Gegenstück zum Krummhorn ist die Rauschpfeife. Sie hat ihren Namen vom charakteristisch “näselnden” Klang im oberen Tonbereich. Bei beiden Instrumenten steckt das Rohrblatt in einer schlanken Holzkapsel, die nur wie eine Verdickung des Rohrs wirkt. Nahezu identisch mit dem Krummhorn ist das Platerspiel, bei dem das Rohrblatt aber nicht in einer Holzkapsel, sondern in einem kleinen Sack steckt (traditionell eine Schweinsblase, daher “plater”). Der Windsack erlaubt beim Spielen einen kontinuierlichen Luftstrom. Die größere Ausführung dieses Prinzips findet man bei Dudelsäcken. 

Ein bekanntes Windkapsel-Instrument ist auch die Pungi, die traditionelle Schalmei der indischen Schlangenbeschwörer, die ihre Kobras in Körben mit sich tragen. Anders als für Krummhorn und Rauschpfeife wird für die Pungi ein einfaches Rohrblatt verwendet, aber dies gleich zweimal – sie ist eine Art Doppelklarinette, wobei das linke Rohr als Bordun-Instrument dient. Beide Bambusröhren stecken in einer gerundeten Windkapsel – man verwendet dafür einen hohlen Flaschenkürbis (Kalebasse). Auch aus der Pungi sind Varianten entstanden, die einen Luftsack haben – als Alternative zur anstrengenden Zirkular­atmung. Übrigens können Kobras gar nicht hören. Sie folgen im Halbschlaf den Bewegungen des Pungi-Spielers, sodass es wie ein “Tanzen” aussieht. Tiere mit Gehör würden beim extrem lauten und schrillen Ton der Pungi entweder aggressiv werden oder das Weite suchen.

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune, Stichwort Multiphonics, Das Blechbläserquintett, Die Duduk. Die Aida-Trompete, Das Xaphoon, Der Rattenfänger, Der Zink, Die Sackpfeife, Der Hardbop, Das Flügelhorn, Der Stimmton