Brass | Von Hans-Jürgen Schaal

Der Trompeter und Musikarchitekt Thad Jones

Thad Jones

Für den Jazzkenner Colin Larkin war er „auf der Jazztrompete einer der größten Solisten aller Zeiten“. Aber bekannter noch wurde Thad Jones (1923 bis 1986) als Bigband-­Arrangeur und Bigband-Leiter. Am 28. März wäre er 100 Jahre alt geworden.

Seit den 1930er Jahren besaß Detroit, die Autoindustrie-Stadt, eine vitale Jazzszene. Viele wichtige Bläser des Modern Jazz sammelten in den Clubs von Detroit prägende Erfahrungen, darunter die Saxofonisten Pepper Adams, Joe Henderson, Yusef Lateef, Charles McPherson, Sonny Stitt und Lucky Thompson, der Trompeter Donald Byrd oder der Posaunist Curtis Fuller. Auch für die drei Jones-Brüder, die im Vorort Pontiac aufwuchsen, war die Jazz­szene von Detroit prägend. Hank Jones, der Pianist, ging 1944 dann weiter nach New York, wurde einer der wichtigsten Begleiter der Bebop-Pioniere, ein vielbeschäftigter Studio- und Labelmusiker, einer der vielseitigsten Jazzpianisten – mit weit über 300 Alben in seiner Diskografie. Elvin, der Schlagzeuger, folgte ihm 1956, spielte fünf Jahre lang im stilprägenden Quartett von John Coltrane, emanzipierte das Schlagzeugspiel und inspirierte mit seiner Energie kommende Jazz-Generationen. 

Im Alter zwischen seinen Brüdern stand Thaddeus Joseph Jones, genannt „Thad“ – kein Begleiter, sondern ein Anführer: als Solist an der Trompete, als Leadtrompeter, als Orchesterleiter, als Arrangeur und Komponist. Viele Musikerkollegen vergleichen seine Bedeutung mit der von Duke Ellington und Billy Strayhorn. Sie nennen ihn einen „denkenden Musiker“, einen „Musikarchitekten“, einen Bigband-Revolutionär. Der Pianist Tommy Flanagan, der ebenfalls in der Detroiter Jazzszene großwurde, sagte: „Schon um 1950 war Thad dort als Musiker weiter als irgendjemand sonst und auch in seinem Komponieren uns allen deutlich überlegen.“

Ein Bartók der Ventile

Thad Jones’ Bedeutung für die Sprache des Bigbandjazz ist so groß, dass man darüber sein Ausnahmetalent als Trompeter beinahe vergessen hat. Der Bandleader Charles Mingus war einer der Ersten außerhalb von Detroit, die Jones’ ungewöhnliche Begabung erkannten. Jones sei der größte Trompeter, den er in seinem Leben gehört habe, sagte Mingus, der „Messias der Trompete“, ein „Bartók der Ventile“. Denn Jones hatte nicht nur einen ungewöhnlich massiven, fleischigen Ton (auch mit Dämpfer), sondern improvisierte auf der Trompete virtuos, unberechenbar, humorvoll, mit Spaß an Tonbeugungen und mit eigener Logik. „Er spielt immer vital“, sagte der Jazzjournalist Ira Gitler. Der 30-jährige Thad Jones wusste es selbst: „Ich mache manches anders als andere. In meinem Spiel gibt es eine gewisse Freiheit.“ Um seine besondere Dynamik noch besser umzusetzen, bevorzugte Jones später die weiter gebohrten Instrumente: das Kornett und das Flügelhorn. 

In den 1950er Jahren nahm er rund zehn Bandleader-Alben auf, meist im Quintett oder Sextett. Stücke wie „One More“, „Bitty Ditty“ oder „Elusive“, die er für sein Debütalbum (1954) schrieb, standen noch dem Cool-Stil à la Miles Davis nahe. Als Bandleader fürs Label Blue Note (ab 1956) präsentierte er dann (häufig in Blues-Form) einige der raffiniertesten Kompositionen der Hardbop-Ära – prickelnd, verwinkelt, oft mit ungewohnten Harmoniefolgen.

„Wenn du etwas schreibst, solltest du der Linie folgen, wo immer sie dich hinführt“, sagte er einmal. Zu seinen bekanntesten Stücken dieser Zeit gehören „Billie-Doo“, „Slipped Again“, „Let’s“, „Blue Room“, „Tarriff“, „Scratch“, „Zec“, „Quiet Sip“, „Bird Song“, „Let’s Play One“, „Minor On Top“, „Like Old Times“ und „No Refill“. Für das Debütalbum seines Bruders Elvin (1961) schrieb er die grandiosen Themen von „Lady Luck“, „Buzz-At“ und „Ray-El“. Seine cleveren Melodien arrangierte Thad Jones mit Vorliebe für drei bis vier Bläser. „Seine Musik ist so flexibel, dass sie viel Geschick verlangt und häufig pianistisch wirkt“, sagte Tommy Flanagan einmal.

Thad Jones als Sideman

Viele Musiker engagierten Thad Jones als Sideman für ihre Alben – darunter Bob Brookmeyer, Kenny Burrell, Lou Donaldson, Herbie Hancock, Coleman Hawkins, Milt Jackson, Charles Mingus, Thelonious Monk, Oliver Nelson, Sonny Stitt, McCoy Tyner oder Ben Webster. Seinen „Brotjob“ hatte der Trompeter aber in der Bigband von Count Basie, der er von 1954 bis 1963 angehörte (als Nachfolger von Joe Wilder). Basie vertraute Jones vor allem als Satzführer und Arrangeur. Dagegen kam Jones bei Basie als Solist etwas zu kurz – vermutlich, wie der Jazzkritiker Leonard Feather meint, weil er stilistisch zu modern orientiert war. (Basies bevorzugter Trompetensolist war der konservativere Joe Newman.)

Thad Jones wirkt insgesamt auf etwa 25 Basie-Alben mit. Eines seiner bekanntesten Soli spielte er 1956 in „April In Paris“. Diese Basie-Aufnahme war so erfolgreich, dass Jones mit demselben Stück im gleichen Jahr auch sein Blue-­Note-Debüt eröffnete. Er begann seine Improvisation dort sogar mit dem gleichen populären Zitat („Pop Goes The Weasel“) wie bei der Basie-Aufnahme. Auch für Basie schrieb Jones etliche Kompositionen. Eingespielt wurden u.a. „The Deacon“, „H.R.H.“, „Mutt And Jeff“, „Counter Block“, „Speaking Of Sounds“, „To You“, „What’cha Talkin’?“, „The Elder“ und „Bluish Grey“.

Ein Revolutionär der Bigband

Als Thad Jones 1963 die Basie-Band verließ, stand ein neues Projekt schon am Horizont. Bei einer „Band-Battle“ zwischen Count Basies und Stan Kentons Orchester hatte er den Schlagzeuger Mel Lewis kennengelernt – die beiden träumten von einer gemeinsamen Bigband. Den Startschuss dazu gab der New Yorker Jazzclub „Village Vanguard“. Dort wagte man es 1965, am bis dahin spielfreien Montag eine Bigbandsession anzusetzen. Das Vorhaben sprach sich herum, und die besten Musiker New Yorks fanden sich zur Probe ein.

Dass das All-Star-Projekt von Dauer sein könnte, glaubte allerdings kaum jemand. Doch das Thad Jones / Mel Lewis Jazz Orchestra war vom Start weg ein großer Erfolg – obwohl der Zeitgeist Mitte der 1960er Jahre nicht gerade für Bigbands sprach. Hunderte Male – über ein Jahrzehnt lang – trat das Orchester montags im „Vanguard“ auf. (Die Idee des Bigband-Montags wurde später von vielen Jazzclubs übernommen.) Die Jones-Lewis-Band tourte auch in Europa und Japan, machte bis 1978 rund 20 Alben und wurde zur führenden Bigband ihrer Zeit. 

Thad Jones war der Komponist, Arrangeur und Dirigent des Orchesters. Mit seiner Erfahrung und seiner Modernität setzte er neue Maßstäbe für die Bigbandsprache, entwickelte unerhörte Klangfarben und Stilistiken, adaptierte Funk- und Rockrhythmen, entzündete dichte, synkopierte Stomp-, Blues- und Shuffle-Grooves. Der Jazzprofessor David Tucker befand: „Thads Musik ist von Grund auf herausfordernd und zeitweise höllisch schwer zu spielen.“ Zu den „fetzigsten“ Stücken des Orchesters gehörten „Mornin’ ­Reverend“, „Tiptoe“, „Ahunk Ahunk“, „Cherry Juice“, „Us“, „Fingers“ oder „Don’t Get ­Sassy“.

„Was ich schreibe, habe ich mir durch Erfahrung angeeignet.“

Thad Jones verriet einmal: „Ich habe nie formal das Arrangieren studiert. Was ich schreibe, habe ich mir durch Erfahrung angeeignet. Ich vermute, ich habe mich unbewusst an Duke Ellington orientiert. Ich studiere auch die Musik europäischer Klassikkomponisten, ihre Technik und ihre Kreativität. Von da habe ich meinen Sinn für Fluss und Balance, für Effekte, Harmonik und Drama.“ Unter den Solisten der Band waren namhafte Bläser wie Snooky Young, Jimmy Knepper, Jerome Richardson, ­Billy Harper, Eddie Daniels, Richie Kamuca, Joe Farrell oder Pepper Adams.

Als Leiter und Dirigent der Bigband hatte Jones kaum noch die Möglichkeit, selbst mitzuspielen. Nur in sehr entspannten Passagen erlaubte er sich manchmal ein lyrisches Solo auf dem Flügelhorn, etwa in „A Child Is Born“, seiner bekanntesten (und einfachsten) Melodie. „Ich kenne niemanden, der eine Ballade schöner spielen kann als Thad“, sagte Co-Leader Mel Lewis. Als der Trompeter die Band 1978 verließ, führte Lewis sie im gleichen Geist allein weiter. Thad Jones setzte sich aber keineswegs zur Ruhe. Er ging damals nach Kopenhagen und gründete ein neues Großensemble namens „Eclipse“. Nebenbei machte er noch die Danish Radio Big Band zum führenden Jazzorchester Europas. Erst als 1984 sein Ex-Chef Count Basie starb, ging er in die USA zurück, um die Leitung des Basie-Orchesters zu übernehmen. Nach etwas mehr als einem Jahr musste er diese Aufgabe aber aus gesundheitlichen Gründen abgeben.