Orchestra | Von Antje Rößler

Die Bad Reichenhaller Philharmoniker

Reichenhaller
Die Bad Reichenhaller Philharmoniker bewahren die Tradition der Kurmusik. Zugleich bieten sie anspruchsvolle Sinfoniekonzerte. (Foto: Martin Köppl)

Sanfte Hügel, Wiesen und Wälder um­geben Bad Reichenhall. Durch das südost-bayerische Kurstädtchen fließt die smaragdgrüne Saalach; felsige Alpengipfel bilden das Panorama. Hier kommen Leib und Seele zur Ruhe. Im Kurgarten mit seinem Gradierwerk, den Springbrunnen und exotischen Gehölzen sorgen zahlreiche Aufsteller mit Konzerthinweisen dafür, dass jeder Gast von den Bad Reichenhaller Philharmoniker erfährt. „Kurmusik tut gut“ lautet das Motto auf den Plakaten.

Die Bad Reichenhaller Philharmoniker fahren zweigleisig. Als europaweit einziges Sinfonie­orchester bieten sie ganzjährig Kurkonzerte. Au­ßer­dem veranstalten sie eine Abo-Konzertreihe. Seit Ende 2020 leitet der amerikanische Dirigent Daniel Spaw das Ensemble. Der 35-Jährige war zuvor Kapellmeister in Hof und Linz. Bad Reichenhall mit seinen rund 20 000 Einwohnern hat immerhin drei Aufführungsorte: die prachtvolle neobarocke Konzert-Rotunde, das neoklassische Königliche Kurhaus vom Münchner Star-Architekten Max Littmann sowie einen modernen Theatersaal. Hinzu kommt in den Sommermonaten der Freiluft-Pavillon im Kurpark.

Die Spielzeit in Reichenhall geht von Dezember bis Oktober. Nur im November können die Musiker verschnaufen. Im Einklang mit dem Kur­betrieb ist im Sommer am meisten los. „Das Orchester absolviert ein straffes Programm. Im Sommer gibt es täglich Kurkonzerte; dienstags und sonntags sogar zweimal“, erzählt Dirigent Daniel Spaw. „Alles mit unterschiedlichen Programmen und ohne Probe!“ Opern-Fantasien, Walzer und Märsche, Schlager und Musical, Film-Soundtracks, bayerische Blasmusik oder Swing – die Musiker haben aus dem Stegreif rund 500 Stücke drauf, die in ständiger Rotation in den Kurkonzerten erklingen. „Vieles, was wir regelmäßig spielen, wurde nie gedruckt. Wir verwenden teilweise handgeschriebene Noten aus der Anfangszeit des Orchesters, als die Kapellmeister selbst komponierten oder arrangierten“, erklärt Daniel Spaw. 

Vom Streichquartett über die Brassband bis zum Salon­orchester

Die Musiker finden sich auch zu zahlreichen ­kleineren Ensembles zusammen; vom Streichquartett über die Brassband bis zum Salon­orchester. Zudem ergeben sich vielfältige solis­tische Möglichkeiten. So übernahm Orchestermitglied Pietro Aimi bei den vom Orchester ausgerichteten „Mozart-Tagen“ den Solopart in Mozarts Fagott-Konzert. 

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Daniel Spaw (Foto: Martin Köppl)

Kurmusik erklingt in Reichenhall bereits, seit ­Mitte des 19. Jahrhunderts die Sole-Heilanstalt ihren Betrieb aufnahm. Mit Eröffnung des Königlichen Kurgartens 1868 entstand zugleich die zunächst 18-köpfige Kurkapelle. Diese wuchs bald auf sinfonische Größe an – parallel mit dem Aufstieg Reichenhalls zum angesagten Erholungsort für das großbürgerliche und adlige Badepublikum. Die nachmittäglichen Konzerte waren ein gesellschaftliches Ereignis: sehen und gesehen werden. Musikalisches Aushängeschild um 1900 war der Joseph-Joachim-Schüler, Komponist und Dirigent Gustav Paepke mit seinem kunstvoll gezwirbelten Schnurrbart. Paepkes schmissiger, von Trompeten angeführter Marsch „Hoch Reichenhall“ erklingt bis heute regel­mäßig in den Kurkonzerten. „Auf meinem Pult liegt dann die Partitur in Paepkes Handschrift“, sagt Daniel Spaw. 

Mit dem Ersten Weltkrieg war die Sause vorbei. Fortan kamen eher kleinbürgerliche Kurgäste. Nach Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die meisten Musiker eingezogen oder in die Rüstungsindustrie versetzt. Im Kurpark wuchsen Kartoffeln. Doch bereits im Frühsommer 1945 fanden sich einige Musiker unter den heimatvertriebenen Neuankömmlingen erneut zu einem Ensemble zusammen. 

Mit Weitsicht formte Wilhelm Barth das Profil der Reichenhaller

Prägende Figur der Bad Reichenhaller Philharmoniker wurde Maestro Wilhelm Barth, der das Ensemble mit kurzer Unterbrechung von 1947 bis 2004 leitete. Mit Weitsicht formte er das Profil eines öffentlich geförderten, ganzjährig ak­tiven Ensembles, das sowohl Kurmusik als auch sinfonische Werke aufführt. Etliche Orchestermitglieder haben noch unter Wilhelm Barth musiziert. Darunter der Hornist Scott Brahier, der den Bad Reichenhaller Philharmonikern seit 40 Jahren angehört. Die Oboistin Susann Král, die auch zum Tenorsaxofon greift, ist seit drei Jahrzehnten dabei. Hornist Robert Löffelmann und Trompeter Roland Burkhardt kommen auf je 35 Dienstjahre. 

Roland Burkhardt kann hier die gesamte Bandbreite eines Trompeters ausleben: von Barock und romantischen Sinfonien über Jazz bis zu Volksmusik und Militärmärschen. Er wechselt zwischen der hierzulande gängigen B-Trompete in deutscher Bauart, deren warmer Klang sich ins Orchester einfügt, und der schneidigen Jazztrompete mit ihren Pumpventilen. Mehr als ein Dutzend Trompeten besitzt der Musiker, der einst Praktikum beim Mainzer Traditions-Hornbauer Gebrüder Alexander absolvierte und sich um ein Haar in der Metallurgie ausbilden ließ. Nun tüftelt er auch selbst an Instrumenten und Ventilen. Dafür hat er eine eigene Werkstatt in der Garage, samt Drehbank und Fräsmaschine. 

Auf der Kippe standen die Reichenhaller nach der Gesundheitsreform

Neben Burkhardt am Pult sitzt Zoran Curovic, der einstige Solotrompeter des Serbischen Nationaltheaters in Novi Sad. Während der Balkan-Kriege kam er nach Salzburg, wo er am Mozarteum bei Hans Gansch studierte, dem Star-Trompeter der Wiener Philharmoniker. In Bad Reichenhall kann Curovic nun auch sein Faible für die Naturtrompete ausleben. 

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Roland Burkhardt (Foto: Martin Köppl)

Auf der Kippe stand das Orchester nach der Gesundheitsreform in den Neunzigern, die die Zahlen der Kurgäste drastisch reduzierte. Doch im neuen Jahrtausend ging es wieder bergauf. Die Bad Reichenhaller Philharmoniker etablierten erfolgreiche Formate wie das Klassik-Freiluftkonzert „Der Thumsee brennt“ mit anschließendem Feuerwerk und das Festival „Alpenklassik“, das mit Meisterkursen in Kooperation mit der Musikhochschule München einhergeht. Unterm Strich geben die Musiker jährlich rund 350 Konzerte in Bad Reichenhall. Samstagabend steht das Wunschkonzert auf dem Programm. „Die Be­sucher können sich per Zettel oder E-Mail Stücke wünschen. Daraus stelle ich dann ein Programm zusammen“, erzählt Dirigent Daniel Spaw, der dafür auch mal im hauseigenen Archiv stöbert, das 7000 Werke umfasst. „Da stehen auch noch völlig unbenutzte Noten, die nie gespielt wurden.“

Drei Jahrzehnte lang hat Bad Reichenhalls Kur­direktorin Gabriella Squarra, die nun in den Ruhestand geht, die Aktivitäten des Ensembles unterstützt. Squarra etablierte die Musik als wichtigen Baustein der Kur. Gemeinsam mit dem geigenden Neurowissenschaftler Stefan Kölsch hat sie in diesem Sommer die Reihe „Musik tut gut“ ins Leben gerufen, deren Konzerte eine besondere Heilwirkung auf Körper, Geist und Seele ausüben sollen. 

Gefördert vom Freistaat, dem Landkreis und der Stadt

Die Bad Reichenhaller Philharmoniker werden vom Freistaat, dem Landkreis und der Stadt gefördert. Den Kontakt zu Landrat und Bürgermeister beschreibt Daniel Spaw als positiv. „Wenn ich das Gefühl habe, dass die Stadt und die Geldgeber hinter mir stehen, kann ich frei meine künstlerischen Entscheidungen treffen“, meint der Dirigent. „Wir haben dieses Jahr schon Mozarts Klarinettenkonzert mit Nicolai Pfeffer oder Beethovens Pastorale aufgeführt. Wir spielen aber nicht etwa nur die Schlachtrosse. In der letzten Saison standen auch Werke von Anton Webern, Louise Farrenc oder Samuel Barber auf dem Programm.“ In den Abo-Konzerten, die im Unterschied zur Kurmusik vorwiegend von Einheimischen besucht werden, kann Daniel Spaw auch richtig große Besetzungen auffahren: Die Nähe zu Salzburg macht es möglich, unkompliziert Aushilfen und Krankheitsvertretungen zu engagieren.

Auf der Bühne gibt der Dirigent kurze Werkeinführungen. „So kann ich erklären, was mir an dem Werk wichtig ist und warum ich es aufs Programm gesetzt habe. Außerdem gebe ich ein paar Tipps, worauf man beim Hören achten kann“, meint Spaw. „Das erhöht das Potenzial für ein erfüllendes Konzerterlebnis.“

2022 bieten sechs Abo-Konzerte ein abwechslungsreiches Programm. Als Solistin reist im ­April die erfolgreiche koreanische Flötistin Jasmine Choi an, die Mozarts C-Dur-Andante interpretiert. Im Oktober kommt die vielversprechende 24-jährige Trompeterin Matilda Lloy. Mit einer Rarität: dem 1950 entstandenen Trompetenkonzert des Armeniers Alexander Arutjunjan. 

Unterdessen geht der langjährige Solo-Trompeter Roland Burkhardt im Frühjahr in Rente. Er hat hautnah miterlebt, wie sich die Bad Reichenhaller Philharmoniker im Laufe der Jahre entwickelt haben. „Der Klang ist klar und präzise geworden, kann mit den großen Orchestern mithalten“, ist er überzeugt. „Die Freude am Musikmachen habe ich nie verloren“, zieht der Trompeter sein persönliches Resümee. „Wenn wir in Bad Reichenhall eine Don-Giovanni-Ouvertüre oder eine Beethoven-Sinfonie spielen, kann ich das ge­nießen wie am ersten Tag.“