Brass | Von Andreas Michel

Die Belcanto-Tradition. Jupiter-Workshops für Blasmusiker

Andreas Michel
Andreas Michel

Belcanto, übersetzt „schöner Gesang“, bezeichnet eine Gesangstechnik, in der die Schönheit und virtuose Ausgestaltung von musikalischen Linien im Vordergrund steht. Auch Instrumentalisten eiferten diesem Ideal im 19. Jahrhundert gerne nach. Und seit den 1990er Jahren feiert die Belcanto-Tradition ein regelrechtes Comeback.

Beim Stöbern im Noten-Nachlass meines Vaters, einst Soloposaunist im Südwestfunk-Sinfonieorchester und Meisterschüler von Kammervirtuose Konrad Bruns, fiel mir die Menge an Werken auf, die eindeutig der ­sogenannten Belcanto-Tradition angehörten. Da fanden sich Fantasien, Capriccios und Solo­werke, die dem romantischen Ideal des 19. Jahrhunderts, nämlich der Schönheit des Klangs, höchste Priorität gaben. 

Der „schöne Gesang“ (exakt aus dem Italienischen übersetzt) war einst das oberste Ziel des europäischen Gesangs – also die Schönheit und die virtuose Ausgestaltung von musikalischen Linien und Sinnzusammenhängen. Zentrum dieser Tradition war – wie könnte es anders sein: Italien. Komponisten wie zum Beispiel Bellini, Donizetti und Rossini führten damals mit ihren Opernarien den Belcanto zum Höhepunkt seiner Entwicklung. 

Die Gesangssolisten wurden aufgrund ihrer mitreißenden Interpretationen als wahre Helden der Musikliebhaber gefeiert und zu „Göttern“ der Musik erkoren. Man kann sich die „Bravo“-Rufe und den Applaus gut vorstellen, wenn der Vortrag nach einem kurzen Innehalten des Publikums begeistert gefeiert wurde. Das Belcanto war der direkte Weg in die ­Seele der Menschen.

Keine Frage, die Instrumentalisten eiferten diesem Klangideal gerne nach. Im 19. Jahrhundert entstand das sogenannte „Virtuosentum“: Bekannte Opernmelodien wurden von bekannten Solisten arrangiert und auf ihr Instrument angepasst, denn die damalige Solo-Literatur entsprach nicht mehr den gestiegenen Anforderungen der neuen „Solo-Virtuosi“. 

Hinzu kam, dass die Trompete durch die Erfindung der Ventile einen „chromatischen Push“ erhalten hatte. Jean Baptiste Arban schließlich ergänzte seine Trompetenschule mit Opernarien bekannter italienischer Belcanto-Komponisten. Das „Thema mit Variationen“ bereicherte die ­Literatur der Instrumentalisten enorm und stellte bald eine eigene Gattung dar („O du lieber Augustin“, „Karneval von Venedig“ u. v. m.). 

Arban
Auszug aus J.B. Arban

Die Neue Musik als Gegenbewegung

In dieser Tradition der schönen Melodiegestaltung lebte und wirkte unter anderem Konrad Bruns, damals Soloposaunist an der Semperoper in Dresden und Lehrmeister meines Vaters. Im Unterricht wurden romantische Werke und deren Spielweise vermittelt bis hin zu selbst ­komponierten Kadenzen zum David-Konzert im Belcanto-Stil (erhältlich im Verlag Schmid-Blechbläsernoten, Nagold).

Der Wechsel vom Theater Karlsruhe an den Südwestfunk Baden-Baden bedeutete für meinen Vater als Soloposaunisten besonders eine Umstellung in Sachen Literatur und Spielweise. Heinrich Strobel, erster Musik-Hauptabteilungsleiter am Südwestfunk, richtete diese Rundfunkanstalt nach dem Kriege mit den französischen Besatzungsmächten aus zu einer modernen, ­offenen und fortschrittlichen Institution, die sich der Moderne und ihren neuen Komponisten verpflichtet fühlte. 

1968 gründete er das »Experimentalstudio des SWR« für elektronische und live-elektronische Musik. Mit den Donaueschinger Musiktagen ­kamen zeitgenössische Komponisten wie Igor Strawinsky oder Paul Hindemith nach Baden-­Baden, später dann die große Avantgarde mit Pierre Boulez, Markus Stockhausen oder Luigi Nono. Die elektronische Musik als Symbol der Industrialisierung und Technisierung wurde zum Vorbild für die Instrumentalmusik. Der auf das Nötigste reduzierte Dirigierstil Pierre Boulez’ lässt ahnen, was man damals von den Musikern im Orchester verlangte, nämlich Werktreue und Klarheit. 

Boulez
Pierre Boulez

Die neue Sachlichkeit

Mit ihr war der Belcanto-Stil eindeutig beendet. Klarheit, Sachlichkeit und Präzision standen fortan über der Schönheit des Klangs. Verzierungen, Ornamentik, Tonvibrato oder romantische Melodiegestaltung waren fortan unerwünscht und galten als altmodisch. Diese neue Sachlichkeit setzte sich fort bis in die Unterrichtszimmer der Musikschulen und Musikhochschulen. 

Die Spielweise musste sich klar der Komposition unterordnen. Das klassische Solistentum und dessen Verklärung waren vorbei. Exaktes Tutti-Spiel und die präzise Umsetzung der kompositorischen Vorgaben hatten Vorrang vor Melodie und Eigeninterpretation. 

Zurück zum Belcanto

Erst in den 1990er Jahren forderten Musikpädagogen und Musiker dazu auf, die Melodie und ihre Gestaltung wieder in den Vordergrund zu stellen. Wie sehr begeisterte allerdings schon in den 1970er Jahren ein Maurice André, als er Melodie­bögen von unglaublicher Länge im Stile der Romantik ausgestaltete. Zeigte er nicht schon damals exemplarisch, dass Musik vor ­allen Dingen Leidenschaft bedeutet und weit mehr ist als ein Konstrukt?

Die Hauptaufgabe der Musikinterpretation

Und doch: Nach wie vor ist die Ausgestaltung und Führung der Melodie die Hauptaufgabe des Musikers. Die neuen Stars der Musikwelt führen es uns vor, wie packend eine mit Verve und Hingabe gestaltete Melodie sein kann. Von ihnen können wir durch bloßes Zuhören lernen. 

Das Belcanto ist wieder zurück – unsere Auf­gabe ist es nun, den Musikschülern dieses Wissen weiterzugeben, auf welche Art und Weise Töne geschickt miteinander verbunden werden und wie Spannung erzeugt werden kann durch den Einsatz von Emotion, Dynamik, Agogik und Tempo. Dann, erst dann lebt Musik. 

info@andreas-michel-musiker.de 

www.jupiter.info

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