Orchestra | Von Klaus Härtel

Die Dresdner Bläserphilharmonie spielt “Wreiheit”

Dresdner Bläserphilharmonie
Die Bläserphilharmonie am 11. Juli .2022 im Kulturpalast (Foto: Oliver Killig)

Für die nächsten Konzerte hat sich die Dres­dner Bläserphilharmonie unter der Leitung von Andrea Barizza eine Welturaufführung auf das Programm gesetzt. “Wreiheit” heißt das Werk des Komponisten Alessio Elia, das bei Universal Edition verlegt wird und vom Orchester in Auftrag gegeben wurde. Was es mit dem Werk auf sich hat und welche Herausforderungen man musikalisch meistern muss, wollten wir von Barizza und Elia wissen.

Was natürlich zunächst auffällt: “Wreiheit” ist mit einem großen “W” geschrieben. Das ist vermutlich kein Schreibfehler bzw. ein absichtlicher… Was hat es damit auf sich?

Alessio Elia: Ja, es ist kein Fehler. Der Titel “Wreiheit” ist ein Neologismus, der zwei deutsche Wörter “Freiheit” und “Wahrheit” zusammensetzt. Mit diesem Wort wollten wir ausdrücken, dass es ohne Wahrheit keine Freiheit gibt.

Nur wer den Weg der Wahrheit gewählt hat, hat eine Chance, Freiheit zu finden. Und das gilt in der Musik genauso wie im Leben. Wo Komponisten sich selbst verwirklichen durch die freie Wahl ihrer Sprache, ihrer eigenen Ausdruckskraft, so sind alle Menschen aufgerufen, sich selbst zu verwirklichen, zur Selbstbestimmung, durch ihre eigenen Entscheidungen, egal was sie sind.

Andrea Barizza: Genau, ich möchte hinzufügen, dass das Wort in den zahllosen Gesprächen zwischen Alessio und mir entstanden ist. Ich denke, der Neologismus ist perfekt, um zu beschreiben, was Alessio so gut beschrieben hat. Die Konzerte, bei denen “Wreiheit” eine Hauptrolle spielen wird, stehen alle unter dem Leitthema Freiheit/Wahrheit und werden von Prof. Milko Kersten moderiert. Gemeinsam haben wir die Texte ausgewählt, die vorgetragen werden und die den Zuhörer auf einem konkreten wie fantasievollen Weg begleiten.

Bläserphilharmonie

“Wreiheit” im Konzert 

Neben “Wreiheit” wird außerdem “We Seven” von Derek Jenkins sowie “Libertadores” und “Hell & Heaven” von Óscar Navarro auf dem Programm stehen. Dieses ist dreimal zu erleben: am 11. März in Chemnitz, am 12. März im Kulturpalast Dresden und am 19. März zusammen mit dem JBO Bautzen in der Stadthalle Krone in Bautzen. In Dresden werden die Komponisten Alessio Elia und Derek Jenkins vor Ort sein und über ihre Werke sprechen.

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www.alessioelia.com

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Freiheit ist ein großes Thema, dem sich Dichter und Denker seit jeher widmen. Was fasziniert Sie am Thema, Herr Elia? Welche Freiheit kommt Ihnen in den Sinn?

Elia: Das Thema Freiheit ist so alt wie das Erscheinen des Menschen auf der Erde. Eine schöne Geschichte von Villiers de l’Isle-Adam kommt mir in den Sinn. Diese Geschichte listet die Traditionen mehrerer Völker auf, die zeitlich und räumlich getrennt sind, und wie etwas, das für ein Volk legitim ist und hoch geschätzt wird, aber für ein anderes nicht gilt. Dies lässt uns verstehen, dass Freiheit nicht an die Regeln des Augenblicks gebunden werden kann, sondern in etwas Höherem wurzelt, das sich über die kontingente Dimension erhebt.

Alessio Elia
Alessio Elia (Foto: Bálint Hrotkó)

Ich glaube, dass jede Person aufgerufen ist, sich ihrer selbst und ihrer Umgebung bewusst zu sein, damit eine persönliche und gemeinsame Freiheit existieren kann. Nur durch dieses Bewusstsein kann man zum eigenen Wohl und damit zum Wohl der Gemeinschaft handeln.

Ist “Wreiheit” ein Auftragswerk? Welche Freiheit haben Sie, Herr Barizza im Hinterkopf? Spielt die Geschichte Dresdens in dem Zusammenhang eine Rolle?

Barizza: Ja, das Werk wurde 2022 von der Dresdner Bläserphilharmonie auf meine Anregung hin bei Alessio Elia in Auftrag gegeben. Maestro Elia war auch Teil der Jury für die sehr erfolgreiche erste Ausgabe des Saxony Winds Composition Contest, unseres Wettbewerbs für Blasmusikkomponisten. »Wreiheit« ist das Ergebnis der außergewöhnlichen Arbeit eines äußerst begabten Komponisten und vor allem eines Mannes, der auf die Realität achtet, die wir alle erleben. Rein technisch gesehen ist das Werk einfach sensationell, und dramaturgisch gesehen ist es perfekt strukturiert, so dass der symbolische Gehalt in aller Einfachheit zum Ausdruck kommt. Ein Stück, das ich allen Kollegen empfehle, in der Saison anzulegen.

Als erstes Orchester ist es für uns ein Vergnügen und eine Ehre, direkt mit dem Maestro zusammenzuarbeiten, dem wir für seine großzügige Menschlichkeit und außerordentliche Professionalität danken. Wie Alessio Elia bereits treffend gesagt hat, betrifft der konzeptionelle Inhalt des Werks eine zentrale Erfahrung jeder Frau und jedes Mannes: die Freiheit in Bezug auf die Wahrheit. Wir sprechen hier nicht allgemein über Freiheit, sondern darüber, was wahre Freiheit für den Menschen bedeutet.

Das bedeutet, dass wir unserem Verstand folgen, um die Wahrheit in uns selbst zu erkennen. Sobald man sich von der Lüge befreit hat, ist die Freiheit nur noch eine einfache Folge. In diesem Sinne muss sich jeder von uns zwangsläufig der Lüge stellen, um die Wahrheit zu erkennen. Dieses Wissen ist die größte Errungenschaft, die der Mensch machen kann, denn davon hängt sein Handeln in der Welt ab. In diesem Sinne hat der Inhalt nicht direkt mit Dresden zu tun, sondern eher mit dem Weg der Selbstbefreiung.

Barizza
Andrea Barizza (Foto: Alessandro Corio)
Was für ein Werk wird “Wreiheit” sein? Herr Elia, welche “musikalische” Idee steckt dahinter?

Elia: Wie oben erwähnt, verbindet das Stück die beiden Begriffe Freiheit und Wahrheit. Ich dachte daran, die Beziehung zwischen diesen beiden Konzepten mit einer fortschreitenden Enthüllung des Materials in Musik zu übersetzen, als ob das musikalische Material selbst mit Wahrheit, mit Wissen, identifizierbar wäre. Indem dieses Material präsentiert und damit auf Wahrnehmungsebene erworben wird, entsteht die Möglichkeit, es zusammenzusetzen, und hier wird der Freiheitsdiskurs ausgelöst, weil das Material in einer persönlichen, freien, aber gleichzeitig gegebenen Weise seiner Natur zugeordnet wird, kann es sich nur in einer Weise zusammensetzen, die seinen intrinsischen Eigenschaften entspricht.

Das Stück beginnt damit, dass die Blechbläser nur Atemzüge aussenden, ohne Töne in einer bestimmten Tonhöhe, begleitet vom Summen zahlreicher Becken, die in Tremolo gehalten werden. Es ist ein neutraler Zustand, an der Grenze zwischen Klang und Stille, in dem noch alles passieren kann. So wie im Leben, wenn wir noch nicht berufen sind, uns etwas, einem Ereignis, einer Entscheidung zu stellen.

Das Stück verwendet eine besondere Kompositionstechnik, die ich Polysystemismus nenne, bei der sich verschiedene Intonationssysteme zu einer Klangtextur integrieren, in der physikalisch-akustische Phänomene als Sensation empfundene Musik erzeugen. Eine Technik, mit der ich seit 2005 und in meinen anderen Werken experimentiere und die hier ihre erste Anwendung nur im Zusammenhang mit Blasinstrumenten findet.

Wie vertont man die Freiheit? Welche Effekte und dergleichen kommen vor?

Elia: Musikkomposition ist gefährliches Terrain. Wenn Sie eine leere Seite vor sich haben, ist alles möglich. Aber erst wenn eine erste Entscheidung getroffen ist, beginnt das Stück wirklich. Die gesamte Entwicklung des Stücks wird durch diese anfängliche Wahl bestimmt. Es scheint unmöglich, aber genau so ist es. In dieser Anfangsphase ist der Komponist frei. Sobald das Stück begonnen hat, wird die Freiheit eingeschränkt, weil das, was geschrieben wird und was dann vom Publikum gehört wird, eine Hörreise erzeugt.

Natürlich gibt es mehrere mögliche Wege, aber aller Wahrscheinlichkeit nach gibt es nur einen, der wirklich der richtige ist, der das Stück zu seiner vollständigsten Verwirklichung führt. Schöpferische Freiheit ist jene Möglichkeit, in der sich der Komponist in der Bedingung befindet, eine Reihe von Entscheidungen zu treffen, die mit der ersten getroffenen Entscheidung zusammenhängen. In dem Stück, das ich für die Dresdner Bläserphilharmonie geschrieben und ihrem Dirigenten Andrea Barizza gewidmet habe, bestimmt das erste Element, das wir hören, die gesamte Entwicklung des Stücks. 

Ich freue mich sehr, dass Andrea dieses Stück dirigiert. In den letzten drei Jahren haben wir uns oft über das Thema Freiheit und die Rolle der Kunst bei deren Vermittlung ausgetauscht. Sein Dirigieransatz beruht nicht nur auf interpretatorischer Strenge, sondern vor allem auch auf der Aufwertung jener außermusikalischen Inhalte, die ein grundlegender Bestandteil jeder Partitur sind. 

“Wenn wir die Wahrheit finden, beginnt eine neue Zeit, die mit unseren inneren Gefühlen beginnt”

Barizza: Musikalisch und dramaturgisch ist das Stück perfekt konzipiert, so dass der ständige innere Prozess, der in jedem von uns abläuft, nahezu kristallisiert und “sichtbar” gemacht wird. Mit anderen Worten: Jedes Verständnis von Wahrheit setzt ein vorheriges Moment des Kon­trasts voraus. Es ist dieses Gefühl der “Verwirrung”, das wir bekommen, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das wir in unserem Inners­ten nicht verstehen. Dieser Moment ist entscheidend, denn wir werden mit einer Lüge konfrontiert. Eine Lüge, die vielleicht sehr gut und logisch erklärt ist, aber von unserem Instinkt und damit von unserem Körper, dem wahren Thermometer zwischen Wahrheit und Lüge, nicht akzeptiert wird.

Wenn wir die Wahrheit finden, beginnt eine neue Zeit, die mit unseren inneren Gefühlen beginnt. Dann sind wir frei. Es scheint unglaublich, aber all dies wird in »Wreiheit« perfekt ausgedrückt. Nicht nur durch die verwendete semantische Chiffre, sondern vor allem durch eine präzise konzipierte, komplexe Architektur. Nach einem anfänglichen Moment der Unsicherheit baut sich allmählich eine gewisse innere Zuversicht auf, die in einen von Alessio Elia meisterhaft orchestrierten homophonen Gesang mündet. Die folgenden Seiten widmen sich dagegen der Überwindung innerer Gegensätze durch die Bewusstmachung der ihnen unmittelbar vorausgehenden Erfahrung. Ich würde sagen, als Hörer würde ich mich diesem Stück nähern, indem ich mein Herz öffne und das sprechen lasse, was uns noch immer fest im Griff hat, nämlich den Instinkt.

Worin liegen die besonderen Herausforderungen für Musikerinnen und Musiker? Und was muss der Dirigent beachten?

Barizza: In “Wreiheit” spielen die Musiker eine wesentliche Rolle. Elias Musik verlangt die Beteiligung des Instrumentalisten nicht nur als Interpret, sondern vor allem als Mensch. Die volle Kenntnis des dramaturgischen Prozesses des Stücks setzt die Kenntnis des inneren Prozesses voraus, und es ist zweifellos äußerst schwierig, ein getreues Abbild dieses Prozesses durch den Klang wiederzugeben. Das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Abschnitten erfordert, wenn es gelingen soll, eine außerordentliche Flexibilität des Denkens.

Alessio Elias Sprache ist in diesem Stück sicherlich direkter als in seinen anderen Werken, aber sie erfordert auch eine gewisse Vertrautheit und Neugier. Als Dirigent der Dresdner Bläserphilharmonie muss ich sagen, dass ich besonders privilegiert bin, denn meine Musiker machen mir die Arbeit angenehm leicht. Sicherlich ist aber die Vermittlung einer durchgängigen Spannungslinie das komplexeste Element, das ein Dirigent während einer Aufführung zu bewältigen hat. Die Möglichkeit, in »Wreiheit« buchstäblich die Klangfarbe zu formen, die die Partitur wiedergibt, bereichert die Spielräume – und damit die Verantwortung – desjenigen, der das Podium betritt, enorm.