Wood | Von Klaus Härtel

Die Flötistin Naïssam Jalal über die Heimat

Naïssam Jalal
Foto: SEKA

Die Flöstistin Naïssam Jalal ist wohl das, was man Kosmopolitin nennt. Sie wurde bei ­Paris als Tochter syrischer Eltern geboren und lernte hier das Flötespielen. Sie lebte und lernte in Damaskus und Kairo, bevor sie nach Frankreich zurückkehrte. Naïssam Jalal lässt keine geografischen und auch keine musikalischen Grenzen gelten. Auch klar, dass die Musikerin von einem eher „inneren“ Heimatbegriff spricht. Bei Naïssam ­Jalal sind Heimat und Freiheit eng mit­ein­ander verknüpft. 

Sie könne sich an vielen Orten zu Hause fühlen, sagt sie. Sie würde allerdings nie ein Land ihre Heimat nennen, weil jedes dieser Länder »viel zu groß ist, um sich überall zu Hause zu fühlen«. Das Gefühl von Heimat könne die Region Seine-et-Marne östlich von ­Paris hervorrufen, wo sie geboren wurde. Auch einige Straßen in den Vororten von Paris oder in der Innenstadt von Kairo nennt sie ihre Heimat. Heimatgefühle löst auch der Wohnort der Großeltern aus: die syrischen Städte Damaskus oder Kafranbel.

Und doch sind diese Orte allein noch keine Heimat. „Ich denke, Heimat wird durch Menschen mit Leben gefüllt. Durch Menschen, die man liebt und die einen lieben.“ Sie erklärt diese Überlegung: „Wenn ich an einen dieser Orte komme und es ist niemand dort, der mich liebt oder den ich liebe, fühle ich mich fremd.“ Sich zu Hause zu fühlen bedeute, willkommen geheißen und geliebt zu werden. 

Naïssam Jalal spricht zwar nicht direkt von „inne­rer“ Heimat, sondern von „Vorstellungskraft und Kultur“. „Jeder Ort, an dem ich war, hat etwas in mir hinterlassen, etwas hinzugefügt, etwas aufgebaut.“ Das schlägt sich vor allem in ihrer Musik nieder, die frei ist von jeglicher Genregrenze. Früh schon transzendierte sie die Essenz der europäischen und arabischen klassischen Musik, die Kunst der Jazz-Improvisation, die Dringlichkeit des Hip-Hop, die Euphorie des Funk und die Vitalität afrikanischer Traditionen mit feinem Sinn für Synthese und hypersensiblem Anschlag. Der Grund: „Ich bin sehr neugierig. Ich muss wissen, verstehen, mit anderen Menschen fühlen. Der Unterschied macht mich stärker und nährt meine Vorstellungskraft, meine Vision.“ 

Die Flöte und die Nay

Seit ihrem sechsten Lebensjahr baut sie konti­nuier­lich eine Vielzahl menschlicher und künstlerischer Begegnungen auf. Mit 17 entdeckte sie die Improvisation und verließ nach ihrem Abschluss das Konservatorium. Mit 19 ging Naïssam nach Damaskus, um ihre Ausbildung am Higher Institute of Music fortzusetzen. Hier studierte sie die Nay, das traditionelle orien­ta­lische Blasinstrument.

Hierzu sagt sie: „Flöte und Nay sind komplett andere Instrumente. Während die Flöte ist ein sehr ausgearbeitetes Instrument ist, ist die Nay wirklich primitiv. Die Flöte hat ein Mundstück und silberne Klappen, die Nay ist ein einfaches Pfahlrohr.“ Sie gibt zu, dass ihr die ­Flöte leichter fällt, auch weil sie schon mit sechs Jahren angefangen habe. „Sie ist wie ein Teil meines Körpers, eine zweite Hand, eine zweite Stimme.“ Die Nay spielt sie, seit sie 19 ist. „Ich bin da weniger frei. Ich habe bisweilen das Gefühl, dass ich nur die Musik meiner Vorfahren spielen kann und nicht meine eigene…“

Von Damaskus zog die Musikerin für einige ­Jahre nach Kairo und bereicherte dort ihr Spiel mit den größten Meistern der klassischen ara­bischen Musik. Diese Jahre waren geprägt von musikalischer Ausbildung und Selbstsuche. Sie bilden heute das Fundament der Künstlerin. 2006 kehrte sie nach Frankreich zurück; dort arbeitet sie seitdem in verschiedenen Band­projekten.

„Meine Musik ist Ausdruck der Geografien, die in mir wohnen“

Das Jahr 2021 ist bislang geprägt vom zehn­jährigen Bestehen ihres Ensembles „Rhythms of Resistance“ und der Veröffentlichung des lang erwarteten Doppelalbums „Un Autre Monde“ (Eine andere Welt), das zum Teil live mit dem Orchestre National de Bretagne aufgenommen wurde und die „Rituels de Guérison“ (Rituale der Heilung) beinhaltet, ein Projekt, eingespielt mit ihrem neuen Quartett-Ensemble. Naïssam Jalal lädt dazu ein, in ihr persönliches und lebendiges musikalisches Universum einzutreten, das sowohl inhaltlich als auch formal das Wort Freiheit mit Leben füllt.

Die Flötistin und Komponistin erzählt: „Für dieses Quintett ein neues Repertoire zu schreiben, war nicht einfach. Ich wollte meine Reise fortsetzen, ohne meine Schritte zurückzuverfolgen. Meine Musik ist der Ausdruck der vielfältigen Geografien, die in mir wohnen; Musik, die in nicht-westlichen Traditionen verwurzelt ist und sich dem Unbekannten zuwendet. In meinen beiden vorherigen Alben habe ich über mich und die Welt gesprochen, wie sie mich berührt, mich aufregt, verletzt oder erstaunt. Eine verrückte Welt aus extremer Gewalt, aber auch großer Schönheit. Es ist diese Welt, die mich inspiriert und mich weiterhin inspirieren wird.“

Die Musikerin wird energisch: „Heute sind wir am Ende einer Ära. Der Kapitalismus, der seit zwei Jahrhunderten dazu neigt, auf Kosten unseres Lebens immer mehr Profit zu erwirtschaften, gefährdet das Überleben unserer Spezies. Die zunehmend unanständige Kluft, die uns von den politischen und finanziellen Machthabern trennt, ermüdet uns und lässt uns verzweifeln. Unsere individuellen Freiheiten und unsere sozialen Rechte verschwinden, und überall brechen Revolten aus, die die Menschen gewaltsamer ­Repression entgegensetzen. Allzu oft erzeugen unsere Schwierigkeiten, in Würde zu leben, eine Angst, in der faschistische und fremden­feind­liche Ideologien Wurzeln schlagen. Wir alle haben das Gefühl, wir müssten uns eine andere Welt vorstellen.“

Respekt und Neugier spielen die große Rolle

Sie habe sinn- und klanglich Neuland betreten wollen, führt sie aus. „Un Autre Monde“ – eine andere Welt – ist das Ergebnis. „Diese Welt hat offene, durchlässige und sich verschiebende Grenzen mit multiplen und gewählten Identitäten.« In dieser Welt spielen Respekt und Neugier die große Rolle. Der Begriff der Toleranz weicht dem der Freundschaft. »In dieser Welt basieren Beziehungen auf Gleichgewicht und nicht auf Raubbau, ist unsere Vorstellungskraft von materiellen Werten befreit.“

Aber kann Musik die Welt ändern? Kann sie sie zumindest zu einem besseren Ort machen? Das fragen wir die Künstlerin am Ende des Gesprächs. „Musik kann die Welt nicht verändern“, findet Naïssam Jalal. „Nur Menschen können die Welt verändern. Aber Musik kann Menschen zum Denken und zum Fühlen anregen. Und nicht zuletzt kann mir Musik ein besseres Gefühl geben, denn sie kann wunderbar ausdrücken, was mir sonst zu schwer fällt auszudrücken.“

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 7-8/2021 der Fachzeitschrift für Blasmusik, BRAWOO erschienen.