Toshiko Akiyoshi stellte einst die Männerwelt der Bigbands auf den Kopf. Maria Schneider sprengte die Definitionen von großformatigem Jazz. Immer mehr Frauen finden im Jazz-Orchester das richtige Medium für ihre musikalische Fantasie.
In den frühen 1930er Jahren, der Zeit der wirtschaftlichen Depression, war Frauenarbeit in den USA verpönt. Man(n) fürchtete nämlich, die Frauen würden den Männern die wenigen Arbeitsstellen wegnehmen. Das galt auch für die Jobs in den Bands und Orchestern. Doch die Musikerinnen wussten sich zu helfen und gründeten einfach reine Frauenbands – da konnte ihnen niemand vorwerfen, sie würden die Männer von Arbeitsplätzen verdrängen. In der Vorkriegs- und Kriegszeit gab es in den USA Dutzende professioneller Frauen-Orchester wie Babe Egan and Her Hollywood Redheads, Bobbie Grice and Her Fourteen Bricktops, die Dixie Sweethearts, die Harlem Playgirls, die International Sweethearts of Rhythm. Schon damals galt: Frauen leiten Bigbands.
Ina Ray Hutton and Her Melodears
Die erfolgreichste Frauenband der 1930er Jahre waren Ina Ray Hutton and Her Melodears. Die besten Musikerinnen der USA wurden für diese Band zusammengetrommelt – zum Glück hatte die Saxofonistin Audrey Hall jahrelang auf Tournee die Namen talentierter junger Frauen notiert. Unter den herausragenden Solistinnen der Melodears waren Alyse Wells (Posaune), Betty Roudybush (Piano), Estelle Slavin (Trompete), Betty Sattley (Tenorsax) und Audrey Hall selbst. Transkriptionen von Roudybushs Klaviersoli wurden sogar im Downbeat-Magazin gedruckt. Die heiße Tenoristin Sattley galt als der weibliche Coleman Hawkins. Zur Bandleaderin allerdings bestimmte das (männliche) Management Ina Ray Hutton, die gar keine Musikerin war, sondern eine Tänzerin mit blendendem Aussehen und verführerischer Ausstrahlung. Heute würde so ein Marketingkonzept als sexistisch gelten.
Es ging auch anders. Die Saxofonistin Peggy Gilbert leitete von 1933 bis 1945 an der US-Westküste eine gestandene Frauen-Bigband: »Ich hatte eine der wenigen Mädchenbands, deren Leaderin Musikerin und nicht Sexsymbol war.« 1937 trat das Peggy Gilbert Orchestra im Palomar Ballroom beim »Second Hollywood Swing Concert« auf – neben den Bigbands von Benny Goodman, Louis Prima, Ben Pollack oder Les Hite. Ein ganzes Jahr tourte Gilberts Band auch auf den Inseln von Hawaii. In den Kriegsjahren schien es selbstverständlich, dass Frauen die Jobs der zur Armee verpflichteten Männer übernahmen – auch im Musikbetrieb. Aber kaum kamen die GIs aus dem Krieg zurück, beanspruchten sie schon wieder das Vorrecht – das bekam auch Peggy Gilbert zu spüren und löste ihre Band 1945 auf.
Die Pionierin: Toshiko Akiyoshi
Es dauerte noch 30 Jahre, bis sich die erste Frau vor eine Männer-Bigband stellte, um Orchesterjazz von Weltniveau zu erschaffen. Vielleicht musste diese Frau »von außen« kommen: Toshiko Akiyoshi war eine Pionierin in vielerlei Hinsicht. Oscar Peterson hatte die junge Pianistin 1952 auf einer Japantournee entdeckt und ihr einen Plattenvertrag in den USA vermittelt. „Ich bekam viel Presse. Und warum? Weil ich eine Kuriosität war“, sagt Akiyoshi lachend. „Eine japanische Frau, die wie Bud Powell spielt, war etwas Neues.“

Nie zuvor war ein japanischer Künstler im amerikanischen Jazz erfolgreich gewesen. Nie zuvor hatte jemand aus Japan in Berklee studiert. Akiyoshis erster Ehemann wurde Charlie Mariano, der zweite Lew Tabackin – beide amerikanische Top-Saxofonisten. Tabackin spielte in Hollywood in der Band der „Tonight Show“ und fand, dass hier eine Menge Jazztalente vergeudet würden. Das war 1973 der Startschuss für die Akiyoshi-Tabackin-Bigband. Akiyoshis Bigband-Alben wurden für 14 Grammys nominiert. Nie zuvor war im Downbeat-Magazin eine Frau zum besten Arrangeur und zum besten Komponisten gewählt worden.
Akiyoshi schien der modernen Bigband-Welt eines Thad Jones und Gil Evans die Krone aufzusetzen. Ihre Shuffles hatten noch mehr Groove, ihre Klanggemälde noch mehr Farbe, ihre polyphonen Schichtungen noch mehr Dichte. „In den Händen von Toshiko Akiyoshi klingen auch ‚traditionelle‘ Techniken ganz neu“, schrieb der Kritiker Daniel Gioffre. Akiyoshis besondere Stärken aber waren der „bunte“ Holzsatz (ihre Musiker beherrschten Zweit- und Drittinstrumente) und die exotische Klangfarbe (zum Beispiel durch japanische Zusatzinstrumente). Im Medium Bigband konnte die Japanerin „ihre volle Spannweite und Fähigkeit“ (Nat Hentoff) entwickeln – sie fand im Orchesterjazz ihre persönliche „Sprache“. Die Akiyoshi-Tabackin-Band, ein Herzensprojekt der kalifornischen Studio-Cracks, wurde in den Anfangsjahren von viel Enthusiasmus getragen. Die Kritiker waren sich einig: Akiyoshi gehörte zu den zwei, drei wichtigsten Bigband-Leitern der Gegenwart.
Die Visionärin: Maria Schneider
Ein Auftritt der Akiyoshi-Band in Minneapolis wurde zum Initialerlebnis für die damalige Studentin Maria Schneider. „Das Konzert war so kraftvoll“, erzählte sie später. „Und wie Toshiko dirigierte und spielte – alles nahm mich gefangen. Plötzlich fragte ich mich: Wow, könnte das etwas für mich sein?“ Schneider wandte sich an Bob Brookmeyer und Gil Evans, zwei der modernen „Befreier“ der Bigbandsprache. Bei beiden arbeitete sie als Assistentin und entwickelte dabei ihren eigenen Ton. „Schade, dass ich zu alt bin, um in Marias Band zu spielen“, sagte der gelernte Posaunist Brookmeyer. „Gil und ich hatten wirklich Glück, sie als Assistentin zu haben.“ Fünf Jahre lang (1993 bis 1998) trat das Maria Schneider Orchestra jeden Montag im New Yorker Club „Visiones“ auf. Heute gilt Maria Schneider als Koryphäe im aktuellen Orchesterjazz. Auch in Europa hat sie mit einem Dutzend führender Bigbands gearbeitet.

Wenn Maria Schneider Bigbandmusik schreibt, beginnt sie nicht mit Noten, sondern mit Tagträumen, Bildern und Erinnerungen. Viele ihrer Stücke kreisen um Kindheitsängste, Monster, nächtliche Geräusche. Das Gewicht liegt auf sich entwickelnden Strukturen, auf sich wandelnden Klängen – das Ausgangsmaterial hält sie knapp. „Musik ist Farbe, Drama, Gefühl“, sagt Schneider. „Ich finde es langweilig, wenn Stücke ein Thema haben, das dann einfach als Basis für die Soli jedes Solisten dient, ich mag es, wenn Solisten meine Stücke entwickeln, wenn sie mir helfen, von A nach B zu kommen. Ich sehe meine Stücke wie kleine Persönlichkeiten, sie sind sozusagen meine Kinder. Für jeden Musiker, jedes Instrument schreibe ich eine eigene Rolle.“ Ihr Lehrer Bob Brookmeyer hat Schneider einst ermuntert, ihr feminine Seite zu nutzen, nicht zu verstecken. Das eröffnet dem Orchesterjazz neue Gefühlswelten, differenziertere Stimmungen. Bigband-Partituren eröffnen Fenster in die Seele. Schneiders Musik ist zum Modell geworden für neuen Orchesterjazz.
Die richtige Haltung
Immer mehr Musikerinnen entdecken die reichen Möglichkeiten einer Bigband als Ausdrucksmittel für sich. Doch die Leitung eines Jazzorchesters verlangt außerdem auch Sozialkompetenz, Autorität und Empathie – in diesem Punkt könnten Frauen den Männern ohnehin überlegen sein. Die junge dänische Bigband-Chefin Kathrine Windfeld sagt: „Beim Booking musst du selbstbewusst sein, beim Komponieren demütig. Es geht darum, zur richtigen Zeit die richtige Haltung zu wählen. Neben deiner kreativen Seite musst du als Bandleader auch sehr rational handeln können. Du musst an dein Produkt glauben, du darfst Konflikte nicht scheuen, aber du musst gerecht, deutlich und konsequent in deinen Entscheidungen sein. Du musst einen klaren Probenplan haben – und eine realistische Abwägung zwischen dem Probenaufwand und der Konzertgage. Deine Partituren müssen ebenfalls klar und deutlich sein. Es ist außerdem wichtig, die Band bei Laune zu halten und als Leader auch zuzuhören und teilzuhaben. Ich höre mir immer Vorschläge der Bandmitglieder an.“
Aktuelle CD-Tipps
- Maria Schneider Orchestra: Data Lords (2020)
- Kathrine Windfeld Big Band: Latency (2017)
- Sarah Chaksad Orchestra: Tabriz (2019)
- Monika Roscher Bigband: Of Monsters And Birds (2016)
- Christina Fuchs & WDR Big Band: Newton’s Cradle (2019)
- Miho Hazama: Dancer In Nowhere (2018)
- Maria Baptist Orchestra: Here & Now 2 (2019)
- Anne Mette Iversen & Norrbotten Big Band: Everything In Between (2018)
- Outi Tarkiainen & Norrbotten Big Band: Unpainted Portraits (2018)