Orchestra | Von Klaus Härtel

Die Jazzrausch Bigband und das Bergson

Jazzrausch
Die Jazzrausch Bigband (Foto: Sebastian Reiter)

Stolze 25 Meter ragt der Backstein-Kubus in die Höhe. Die eleganten Fenster lassen das Tageslicht ins Innere fluten. Es ist ein Raum, bei dem man automatisch den Kopf in den Nacken legt und dezent den Mund öffnet. Übermannsgroße Lettern vor dem Gebäude verraten den Namen des Areals: BERGSON. Aus dem Heizwerk ist ein Kunstkraftwerk geworden. Die einstige Industrieruine, die die Münchner Jugend in den 1980er-Jahren als Location für illegale Techno-Raves entdeckte, ist jetzt der neue Kultur-Hotspot im Westen der Stadt. Jetzt heizt hier unter anderem die Jazzrausch Bigband ein. Das Bergson ist ihr neues zu Hause. 

Roman Sladek schwärmt vom neuen Kunstkraftwerk Bergson. Das macht er natürlich auch von Berufs wegen. Denn als „Managing Partner Bergson Kultur GmbH“ und künstlerischer Leiter muss er das Gebäude und dessen Konzept ja irgendwie gut finden. Doch wer sich mit Roman Sladek unterhält, merkt, dass hier keine hohlen Marketingphrasen gedroschen werden. Hier ist jemand nicht nur überzeugt. Roman Sladek lebt das Bergson. 

Den ersten Kontakt zum Bergson knüpfte Sladek in seiner Funktion als Frontmann der Jazzrausch Bigband. Wobei, eigentlich war es umgekehrt: Michael Amberger, Geschäftsführer der Firma Allguth und Käufer der Industrieruine an der Bergsonstraße in Aubing, plante ein Silvesterkonzert. Und da schwebte ihm eine Combo vor, die mit Klanggewalt, Groove und enormer Bühnenpräsenz Jazzfans und Tanzwütige zusammenbringen konnte – und entdeckte die Jazzrausch Bigband für sich. 

Bergson

Dieses erste Gespräch zwischen Amberger und Sladek muss – das weiß man heute – einen überaus bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Vermutlich haben sich hier zwei Visionäre und Enthusiasten getroffen. Denn Roman Sladek erklärt, dass er »völlig offen und unvoreingenommen« in das Gespräch hineingegangen sei. „Ich hatte keinerlei Vorvermutung, ob das nun gut oder schlecht sein könnte.“ Ein paar Zeigerumdrehungen später war er dann aber „voller Freude, an solch einem Projekt beteiligt zu werden“. Allerspätestens der Besuch der Baustelle hatte dann alle weiteren Fragen erledigt und Zweifel erstickt. „Der Ort selbst versprüht eine solche Magie …“ Sladek lässt das Gesagte wirken. Und fügt nach einer Pause an: „Das ist ein geiler Ort mit einem irren Potenzial!“ Nachdem der Ort nun seit gut vier Wochen im öffentlichen Betrieb ist, kann man ohne Umschweife konstatieren: Stimmt!

Dass diese einstige Industrieruine – in den 1920ern geplant, in den 40ern von der Reichsbahn gebaut, in den 50ern von der Bundesbahn genutzt und später im Stich gelassen – einen gewissen Charme hat, wissen die Aubinger Anwohner sehr gut. Doch dass man dieses Gebäude tatsächlich erhalten müsste, das hat als einer der wenigen wohl Michael Amberger gesehen. Bevor der das ehemalige Heizwerk kaufte, sei er ständig drum herum geschlichen und habe mit seinem Bruder Christian Visionen diskutiert, was man draus machen könne. Der Plan war früh gemacht: Eine Begegnungsstätte sollte das Bergson werden.

„Ein Neubau“, lacht Roman Sladek, „wäre natürlich leichter gewesen.“ Denn die Herausforderungen begannen zeitnah nach dem Kauf. 2005 erwarb das Münchner Unternehmen Allguth das weitgehend verfallene Gebäude mit 20 000 Quadratmetern Grund. Und schon 2007 wurde das ehemalige Heizwerk unter Denkmalschutz gestellt. Eigentlich ein Alptraum. Und gerade als 2015 das Architektenbüro „Stenger2“ mit den Planungen für den Umbau des Geländes beauftragt wurde, entdeckte man im Keller die stark gefährdete Mopsfledermaus. Amberger und sein Team sehen das alles pragmatisch. Herausforderungen mit Denkmal- und Naturschutz müsse man schlicht mitdenken, konstatiert Roman Sladek. Und letztlich sei jeder einzelne Prozess, jeder einzelne Gast des Bergson eine Herausforderung. Er gibt zu und spricht auch für Michael Amberger: „Aber ja, man muss schon eine große Freude an Herausforderungen mitbringen.“ Er lacht. Die Mopsfledermaus bekommt ein knapp 70 Quadratmeter großes Habitat mit Frischluftzufuhr und Wasser eingerichtet. Dafür gibt es einen Umweltpreis und die Mopsfledermaus ist fester Mitbewohner. 

Jazzrausch Bigband und das Bergson

Jazzrausch

Ein Zuhause bekommt nun mit dem Bergson auch die Jazzrausch Bigband, die gleichzeitig mit dem Eröffnungsprogramm „Bergson’s Rise“ ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Mit im Schnitt 80 Konzerten im Jahr ist die Jazzrausch Bigband eine der erfolgreichsten Big Bands der Welt. Auf ihren Konzerten in Europa, Amerika, Asien und Afrika bringt sie die Leute zum Tanzen – Groove mit Köpfchen, Elektro mit Gebläse, Jazz im Rausch. Das Bergson als ein Ort, der den kosmopolitischen Heimatbegriff verkörpert und Identität stiftet, passt perfekt zur Jazzrausch Bigband. „Eine solche Band ist ja eigentlich unabhängig von einem festen Ort“, findet Sladek. Und doch tut es gut, einen „Heimathafen“ zu haben, so wie es auch schon der Technoclub „Harry Klein“ in München war. 

Wenngleich Roman Sladek der Gründer der Band ist und auch ihr musikalischer Leiter, habe er sie nie als „meine Band“ gesehen. „Ich darf die Band begleiten. Sie hat aber ihre eigene Dynamik.“ Er fühle sich allenfalls ein wenig „als Erziehungsberechtigter. Ich kann Dinge vorschlagen und vorleben. Aber was das Kind dann daraus macht …“ Der Nachwuchs ist wohlgeraten, möchte man hinzufügen. 

Jazzrausch
Die Jazzrausch Bigband (Foto: Sebastian Reiter)

Es ist nicht übertrieben, die Band ein Phänomen zu nennen. Eines, das auf ganz eigene Art zeigt, was lange schon brodelt in dieser Musik, die sich „Jazz“ nennt: Sie ist heute mehr denn je die Schublade für das, was sonst in keine Schublade passt. Und alle, die Musiker wie das Publikum, haben Spaß am lustvollen Einreißen von Grenzen. Die Musik der Jazzrausch Bigband, so scheint es, erfüllt in diesem Zusammenhang mehrerlei Hinsicht Sehnsüchte: Die der Clubgänger nach mehr Echtem, Handgemachtem, Frischem und Originellem. Und die der Jazz- und Klassik-Hörer nach mehr Wumms, Entertainment, nach großem Sound und fettem Groove.

Klar, sein persönlicher Werdegang sei eng mit der Jazzrausch Bigband verknüpft. Die Band sei ein Tool, seine Fähigkeiten zu erlernen und „auf die Straße zu bringen. Alles, was ich kann, lasse ich in die Band einfließen. Und ich habe umgekehrt viel von ihr gelernt.“ Eine große Herausforderung derzeit sei, den kommerziellen Erfolg mit dem künstlerischen Anspruch in Einklang zu bringen. Bisher habe das immer ganz gut funktioniert, findet er. „Zehn Jahre Jazzrausch Bigband – und ich war bei jeder Abzweigung dabei. Das ist schon eine irre Geschichte.“ Die Band sei seit jeher „immer mehr als ich. Das ist transzendenter. Die Band ist mehr als die Summer seiner Einzelteile. Es ist spektakulär zu sehen, wie wir wurden, was wir sind. Stolz wäre das falsche Wort. Ich bin dankbar und staunend.“ 

Die kommende Tour der Jazzrausch Bigband markiert nicht nur ein Jubiläum von zehn Jahren, sondern auch eine Reise in die Zukunft. Die Band reflektiert nicht nur ihre Vergangenheit, sondern stellt sich die Frage: Wohin führt die Reise? Mit dem Album „Bangers Only“, einer Mischung aus alten und neuen Hits, setzen sie den Fokus auf die Essenz ihrer Musik und ihrer Botschaft. Eine Art „Best of“ also? „Schon irgendwie. Doch eigentlich sollte doch jedes Konzert so sein.“ Die Grundmotivation jedenfalls bleibt stets die Sache selbst – die Musik, die Kunst, die Begegnung. Denn das wahre Gesamtkunstwerk entsteht aus der Verbindung aller Teile, ohne Selbstzweck, sondern als Aufruf: Leinen los, auf zu neuen Abenteuern!

Und viel mehr: jazzrauschbigband.de