Brass, Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Die Kraft des Ostinatos. Anmerkungen zum Rhythmus

Rhythmus
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Laut dem Musikpsychologen Stefan Kölsch ist das Rhythmische bereits “in den kognitiven und biologischen Eigenschaften des menschlichen Gehirns und des menschlichen Körpers” angelegt. Der Homo sapiens ist als einzige Spezies befähigt, in einer Gruppe einen Takt zu halten. Anmerkungen zum Rhythmus.

Wir sprechen von Rhythmus, wenn sich eine bestimmte musikalische Struktur ständig wiederholt. In den meisten Fällen handelt es sich bei dieser Struktur um eine fixierte Schlag- oder Tonfolge über einen oder zwei Takte hinweg. Auch ein konstantes Taktmaß (zum Beispiel ⁴/₄ oder ⁶/₈) kann bereits “rhythmisierend” wirken, zumal wenn sich Phrasierung und Akzentuierung des musikalischen Geschehens von Takt zu Takt nicht wesentlich ändern. Einen regelmäßigen Puls oder Beat er­leben wir ebenfalls bereits als Rhythmus. Rhythmische Periodizität entsteht sowohl durch die typischen Schlagmuster bestimmter Tänze als auch durch ständig wiederkehrende Riffs, Vamps, Ostinati oder Bassfiguren. Rhythmus kann ins Melodische übersetzt sein, beispielsweise als eine insistierende Tonfolge, oder ins rein Geräuschhafte, zum Beispiel als eine regelmäßig wiederholte Verdichtung elektronischer Beats.

Einfluss auf unsere Psyche

Rhythmische Eindringlichkeit ist keine not­wen­dige, aber eine der wichtigsten Qualitäten von Musik. Der Groove oder Flow, in den Rhythmen uns versetzen, hat großen Einfluss auf unsere Psyche, unsere Emotionen, unseren Körper, unser Wohlbefinden. Wenn wir mit Körper­be­wegungen (Schaukeln, Schunkeln, Tanzen, Headbangen usw.) auf Rhythmen reagieren, kann sich deren Wirkung bis zur Trance steigern. Es kommt dabei zu einer “Rückkopplung” zwischen dem Rhythmus der Musik und den Rhythmen im menschlichen Organismus. Wie Atmung, Herzschlag, Körperbewegung, Nervenaktivität. Der Neuropsychiater Jörg Fachner spricht von der “tranceinduzierenden Wirkung monochromer und pulsierender Klänge”. Nicht das Melodische, sondern das Rhythmische ist hier ausschlaggebend: Repetitivität, Monotonie, Insistenz, Minimalismus. 

Unsere Empfänglichkeit für Rhythmen könnte sogar der Motor der menschlichen Evolution gewesen sein. Wie der Musikpsychologe Stefan Kölsch schreibt, besitzt der Homo sapiens “eine biologisch tief verwurzelte Veranlagung für Rhythmus”. Die Beteiligung an Musik bereitet uns Vergnügen und wirkt gemeinschaftsstiftend. Und es ist der Rhythmus, der uns als Gruppe synchronisiert und koordiniert. Arbeitslieder (“work songs”) machen sich diese menschliche Befähigung zum Rhythmus seit jeher zunutze, indem sie kollektive Arbeitsvorgänge rhythmisch synchronisieren. Kölsch zieht das Fazit: “Kooperation mit Musik war […] evolutionär dem Erhalt der Menschheit ausgesprochen dienlich.”

Marsch, Walzer, Jazz und Swing 

Ein elementares Beispiel für die rhythmische Synchronisierung von Körperbewegungen ist der Marsch. Typische Marschmusik betont den regelmäßigen Taktschlag, indem sie den Hauptschlägen kurze Notenwerte voranstellt. Dieses Prinzip der Schlagbetonung “mit Anlauf” wird auch in einfachen Ländlertänzen häufig angewandt. Für sich genommen ist der Dreivierteltakt nur ein Metrum.

Im Wiener Walzer allerdings wird er durch eine Verschiebung der Schläge zum Rhythmus. Der erste Schlag wird am stärksten betont, der zweite ein wenig “vor­ge­zogen”, der dritte ein wenig “verzögert”. Der “schwingende” Effekt dieser Rhythmisierung ist unabweisbar und machte den damals neuen Wiener Walzer zum Renner bei den Teilnehmern am Wiener Kongress (1814/15). Auguste de la Garde, der ehemalige Außenminister von Louis XVI., berichtete damals: “Es ist eine unfassbare Macht, die der Walzer ausübt. Sobald die ersten Takte anheben, klären sich die Mienen, die Augen leuchten auf und alle durchrieselt es. Die anmutigen Kreisel bilden sich, setzen sich in Bewegung und kreuzen sich, überholen sich…”

Aufkommen von Ragtime und Jazz

Das Aufkommen von Ragtime und Jazz löste im frühen 20. Jahrhundert ein wahres Rhythmus-Fieber aus. Die schnellen Achtelnoten-Folgen der afroamerikanischen Musik inspirierten eine nicht enden wollende Reihe von rhythmischen Modetänzen (Charleston, Shimmy, Black Bottom, Lindy Hop…). In einem Berliner “Brevier der neuesten Tänze” hieß es vor 100 Jahren (1921): “War der Foxtrott eine Krankheit, so ist Jazz und Shimmy eine Epidemie, die weder Kinder noch Greise schont […]. Man tanzt in Europa seit 1917 Jazz. Erst in der eigenartig überschnellen Schrittmanier, dann in dem heute üblichen ruhigeren oder hüpfenden Shimmy-Rhythmus.” Das Rhythmus-Erlebnis, das der Jazz bot, hatte offenbar eine ganz neue Qualität. Viele Hit­nummern trugen damals das Wort “rhythm” auch im Titel: “Fascinating Rhythm” (1924), “Crazy Rhythm” (1928), “I Got Rhythm” (1930), “Rockin’ In Rhythm” (1931). Typisch für den Rhythmus der meisten Charleston-Stücke war ein Nebenakzent nach dem zweiten Beat, sozusagen auf der vierten Achtelnote.

In den 1930er Jahren setzte sich im Jazz der Swing-Rhythmus durch. Seine Grundlage ist der Shuffle oder Boogie, eine Art triolischer Galopp. Das Besondere am Swing ist jedoch, dass dieses Triolen-Feeling frei aufgefasst wird und jeder Mitspieler es auf seine Art umsetzt. Der Musikwissenschaftler Jan Slawe schrieb einmal: “Das Erlebnis des Swing-Rhythmus ist sensomotorischer Art und deshalb echter, natürlicher und aufrichtiger als jedes andere intellektuelle Er­lebnis.” Der “triolische” Boogie-Rhythmus fand auch Eingang in den Rhythm ’n’ Blues und Rock ’n’ Roll. Seit der Revolution des Jazz spielt das Rhythmische in der internationalen Popmusik grundsätzlich eine führende Rolle (Rock, Disco, Punk, Metal, HipHop…).

Out of Africa

Wenn wir von Rhythmen sprechen, meinen wir häufig die Schlagfiguren der Mode- und Standardtänze, die aus der (afro-)lateinamerikanischen Musik hervorgegangen sind. Der Ursprung fast aller dieser Tänze ist die Habanera, wie man sie schon in Bizets Oper “Carmen” (1876) hören kann. Im Habanera-Rhythmus wird der zweite Zählschlag nicht oder nur schwach akzentuiert, dafür gibt es einen Schlag vor der Drei. Dieses rhythmische Muster findet sich auch im Tango und im brasilianischen Samba. Abgeleitet vom Samba entstand um 1960 der Bossa-Nova-Rhythmus mit fünf Akzenten, die auf zwei Takte verteilt werden. Im zweiten Takt betont man den zweiten Zählschlag und der vierte wird “vorgezogen”. Auch die ostinate Schlagfigur des kubanischen Rumba umfasst zwei Takte. 

Viele Melodien können relativ widerstandslos in solche Rhythmen übersetzt oder von ihnen unterlegt werden. Dann wird zum Beispiel aus einem klassischen Adagio ein Rumba, aus einer Rockhymne ein Tango, aus einer Jazzballade eine Bossa. In den frühen Tagen des “Afro-Cuban Jazz” (“Cubop” = Cuban Bebop) um 1945 versuchten Jazzmusiker auch, lateinamerikanische Rhythmen mit dem “riolischen” Swing-Rhythmus zu versöhnen – allerdings vergeblich. Stattdessen erfanden sie dann effektvolle Wechsel zwischen Swing- und Latin-Passagen. 

In der lateinamerikanischen Musik ist es üblich, dass um die Grundmuster der Afro-Latin-Rhythmen herum ein Arsenal von Percussion-Instrumenten orchestriert wird, die alle ihre eigenen, ergänzenden Schlagfolgen spielen. Manchmal ist Übung nötig, um die entstehende Polyrhythmik in ihrer Periodizität überhaupt zu erfassen. Noch komplexer sind die rhythmischen Über­lagerungen in so mancher afrikanischen Trommelmusik. Mehrere Trommler schlagen dort verschiedene Rhythmen oder Rhythmuszyklen, die wie Fugenstimmen miteinander kombiniert werden. Die einzelnen Rhythmusfiguren können aber von unterschiedlicher Dauer sein und kommen dann praktisch nie gleichzeitig an ihren Anfang. Es gibt keine gemeinsame Zählzeit “Eins”. Zuhörer und Tänzer konzentrieren sich entweder auf eine der Trommelstimmen oder auf den allen gemeinsamen Grundpuls.