Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Die Melodica – ein geheimnisvoller Klang

Melodica
Foto: Georges Seguin (Okki) - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11747605

Neben der Aufschlagzunge (“single reed”, z.B. Klarinette, Saxofon) und der Gegenschlagzunge (“double reed”, z.B. Oboe, Fagott) gibt es auch die Durchschlagzunge (“free reed”). Jeder Ton auf der Melodica hat seine eigene Kanzelle (Kammer) mit gestimmter Zunge.

Die Durchschlagzunge heißt so, weil sie nicht aufschlägt, sondern sich im Luftstrom ohne Widerstand bewegen kann. Entwickelt wurde das Prinzip der Durchschlagzunge wohl in China, vor Tausenden von Jahren. Der mythische Kaiser Huang Tei gilt als Erfinder dieser metallenen Zunge. Der Rolls-Royce unter den asiatischen Blasinstrumenten mit Durchschlagzunge ist die chinesische Mundorgel, die Sheng, die schon mindestens 2000 Jahre existiert. Sie besteht aus einem Topf mit Mundstück und (meist 17) senkrechten Bambusrohren (daher: “Mundorgel”). Da sich auf der Sheng mehrere Töne gleichzeitig anblasen lassen (jedes Rohr hat seine eigene Zunge), kann man auf ihr auch Parallelstimmen, Akkorde, Dissonanzen, Cluster und sogar mehrstimmige Fugen spielen. Eng verwandt mit der Sheng sind die japanische Shô und die koreanische Saeng. Eine einfachere Mundorgel ist die südchinesische LuSheng, die meist nur sechs Pfeifen hat, die aber bis zu zehn Meter hoch sein können. Mit der LuSheng verwandt ist die laotische Khaen.

Im Westen hat man das Prinzip der Durchschlagzunge jahrtausendelang ignoriert. Erst als der deutsche Geiger Johann Wilde um 1750 in Sankt Petersburg die Sheng (“die liebliche Chineser Orgel”) im Konzert präsentierte, wurden Erfinder auf diese Technik aufmerksam. In den Folgejahren wurden Durchschlagzungen für Handorgeln, Tasten-Harmonikas, Sprechmaschinen und Orchestrien (Jahrmarktsorgeln) verwendet. Etwa ab 1810 explodierte dann die Fantasie der Instrumentebauer. Neben Ziehharmonika, Akkordeon, Konzertina, Harmonium usw., die den Luftstrom mit einem Blasebalg produzieren, entstanden auch Durchschlagzungen-Instrumente zum Selbstblasen wie die Mundäoline, das Psalmelodikon, das Symfonium oder das Harmonicor. Am bekanntesten wurden die Mundharmonika und die Stimmpfeife. Mit Beginn der industriellen Herstellung folgten etwa 100 Jahre später Instrumente wie das Couesnophon, die Accordina und die Fluta.

Die Blasharmonika

Die Melodica entstand erst 1958. Die Firma Hohner in Trossingen, bekannt für ihre Harmonika-Instrumente, hatte zuvor aber schon mehrfach versucht, eine “Blasharmonika” erfolgreich zu vermarkten. Frühere Modelle hießen Hohnerette, Harmonetta, Organette oder Hohner-Sax. Die Geschichte der Melodica begann mit der “Soprano 25”, die noch heute ganz ähnlich gebaut wird. Ihre 15 weißen und 10 schwarzen Tasten sind einzeln ins Kunststoffgehäuse eingelassen. Sie sollen nicht wie eine Klaviatur gespielt werden, sondern beidhändig vertikal – mit links die schwarzen Tasten, mit rechts die weißen. Genauso gebaut ist die tiefer gestimmte “Alto 25”. Speziell für kleine Kinder gab es außerdem bald das klarinettenförmige Spielzeug-Instrument “Carina” – diatonisch mit bunten Tasten. Schon 1961 folgte das Modell “Piano 26”, das sich mit seiner Klaviertastatur dann gezielt an erwachsene Amateure wendete. Der Hersteller warb massiv für das “Klavier in der Aktentasche”. Ein Jahr später stellte Hohner die ersten Melodicas mit drei Oktaven Tonumfang vor (“Piano 36”, “Professional 36”). 

Melodica

Da sich Hohner den Namen “Melodica” schützen ließ, mussten Konkurrenzprodukte unter anderen Bezeichnungen vermarktet werden. Schon Anfang der 1960er Jahre entstand in der DDR die “Triola” als “Kinderspielwareninstrument” für Kindergärten – diatonisch mit 8 oder 12 bunten Tasten. Hersteller waren zwei VEBs in Klingenthal, der traditionellen Musik- und Wintersport-Stadt im Vogtland. Zeitweise wurden bis zu 400.000 dieser Instrumente pro Jahr gefertigt. Die internationalen Firmen Suzuki und Hammond nannten ihre Blasharmonika “Melodion”, Yamaha und Tokai wählten den Namen “Pianica”, Bontempi erfand die “Diamonica”. Das Feld der Blasharmonikas mit Tasten ist unübersichtlich groß und wächst immer weiter, nicht zuletzt dank asiatischen No-Name-Produkten und Spielzeug-Modellen. Einige der verbreitetsten Instrumente heißen oder hießen Bandmaster, Bandy, Clavietta, Harmonichord, Melodia, Melodika (mit “k”!), Melodion (bis zu 44 Tasten!), MyLodica (aus Holz!), Melodihorn, Melodyhorn, Miki, Orgamonica, Pianohorn, Piany, Simona, Toy Piano oder Vibrandoneon. Längst hat man sich daran gewöhnt, den Namen »Melodica« als Sammel- und Oberbegriff zu verwenden. 

Tasten- oder Blasinstrument?

Vielfach wird die Melodica als ein Blas-Orgel verstanden. Schon 1966 präsentierte Hohner einen Tischständer, so dass man das Instrument vor sich hinstellen und (dank einem Anblasschlauch) auf ihm wie auf einem kleinen Piano spielen konnte. Der Jazzpianist Horst Jankowski war zu dieser Zeit Melodica-Solist im Hubert-Deuringer-Quartett, Udo Jürgens spielte das Instrument im Song “Cottonfields” (1967). Zahlreiche weitere Pianisten und Keyboarder haben die Melodica seitdem als Nebeninstrument eingesetzt, z.B. Monty Alexander, Mikhail Alperin, Jacob Collier, George Colligan, Jack DeJohnette, Donald Fagen, Elliot Galvin, Herbie Hancock, David Helbock, Joe Jackson, John Medeski, Hermeto Pascoal, Billy Preston oder Uli Scherer.

In einem Interview sagte der Keyboarder John Medeski: “Dass du als Keyboarder mal deinen Atem benutzt, das ist das Besondere an der Melodica, weil es dich dazu bringt, sanglichere Melodien zu erfinden – ein Punkt, an den du als Musiker ohnehin irgendwann kommst. Ich habe nie Akkordeon oder Mundharmonika ausprobiert, aber ich mag diesen geheimnisvollen Sound.” Und der Pianist George Colligan schreibt: “Ich genieße die Vorteile der Melodica. Sie ist leichter zu transportieren als ein Klavier oder ein Keyboard, sie ist tatsächlich ein akustisches Instrument, sie kann die Töne lange halten, und sie ist fast wie die Mundharmonika von Stevie Wonder!”

“Ich mag diesen geheimnisvollen Sound…”

Für Blasmusikerinnen und -musiker ist die Melodica als Nebeninstrument nicht weniger interessant. Sie ist viel leichter und handlicher als zum Beispiel ein Saxofon. Sie bietet dabei Möglichkeiten mehrstimmigen Spiels sowie eine große Dynamik – und das ohne viel Anstrengung, da sie nicht viel Atemdruck braucht. Erfahrungsgemäß klingen die größeren Melodica-Instrumente weicher, mysteriöser und sonorer und können zuweilen sogar an eine Klarinette erinnern. Und natürlich immer wieder an ein Akkordeon oder eine Mundharmonika. Die Tonqualität ist allerdings durch den Ansatz kaum formbar. Der Jazztrompeter Don Cherry (1936 bis 1995) konnte die Melodica so anrührend und natürlich spielen, dass sie wie ein altes, exotisches Volksinstrument klang. Kleinen Melodien wie “Malinye”, “Melodica” und “Roland Alphonso” gab er eine weiche, sentimentale Färbung. Auch bei der Erstaufnahme seiner nostalgischen Swing-Nummer “Art Deco” setzte Cherry 1985 die Melodica ein. Sie gehörte zur ersten Garnitur seiner vielen Nebeninstrumente.

Einsteiger und Profis

Weil die Melodica Klavier und Blasinstrument zugleich ist, eignet sie sich als universelles Einsteigerinstrument. Sie ist klein, leicht, handlich, stoßfest und preisgünstig – also enorm kinderfreundlich. Man braucht für sie weder eine starke Lunge noch eine besondere Anblastechnik. Was die Atembeherrschung angeht, ist sie nur wenig anspruchsvoller als die Blockflöte. Schon in den frühen 1960er Jahren wurde die Melodica weltweit für die Musikerziehung entdeckt. In Trossingen, der Hohner-Stadt, hat man von 1960 bis 1978 sogar Stadtjugendmeisterschaften für die Melodica veranstaltet, aus denen manches Talent hervorging. Ob in Italien, Griechenland oder Großbritannien, in Australien, Jamaika oder Japan: Melodica-Spielfibeln und Melodica-Gruppenunterricht verbreiteten sich überall. In den USA, wo an den Schulen schon früh mit Lehrfilmen für die Melodica geworben wurde, bekam das Instrument sogar einen festen Platz in der populären TV-Show von Steve Allen. 

Die Hemmschwelle, die Melodica zu spielen, ist niedrig. Sängerinnen und Sänger in Pop und Rock, die sonst Instrumente meiden, setzen die Melodica gerne beim Live-Act ein. Sie verlangt nicht einmal ein eigenes Mikrofon. Die Liste bekannter Bands, Künstlerinnen und Künstler, die sich der Melodica bedient haben, ist lang: Blur, Depeche Mode, The Eels, Faith No More, Franz Ferdinand, Gorillaz, P.J. Harvey, Indigo Girls, Jack Johnson, Joy Division, The Kinks, Cyndi Lauper, New Order, Oasis, Red Hot Chili Peppers, R.E.M., The Residents, Steely Dan, Supertramp, UB40 usw. Die amerikanische Rockband The Hooters machte die Hohner-Melodica sogar zu ihrem Markenzeichen. Einschlägige Foren im Internet verraten, dass auch immer mehr Blasmusikerinnen und -musiker die Melodica entdecken und ihre Möglichkeiten in verschiedenen Bläserkombinationen, auch in Bigbands, erkunden.