Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Die Mundharmonika. Das Stichwort

Mundharmonika
Foto: Gary Ross/ Pixabay

Sie gilt als das am häufigsten gebaute Instrument der Welt. Obwohl ursprünglich nur als Spielzeug gedacht, hat die Mundharmonika alle Winkel der Erde erobert.

Als Europas Erfinder ums Jahr 1800 das Prinzip der Durchschlagzunge entdeckten, richtete sich ihr Interesse ganz auf die Entwicklung komplexer, orgelähnlicher Instrumente mit Blasebalg – wie das Harmonium und das Akkordeon. Die Inspiration für die Erfinder aber war ein Instrument zum direkten Anblasen mit dem Mund: die Sheng nämlich, die chinesische Mundorgel. Doch Blasinstrumente mit Durchschlagzungen entstanden damals in Europa nur so nebenbei, als billiges Spielzeug. Daher lässt sich gar nicht mehr feststellen, wer als Erster wo und wann die Mundharmonika gebaut hat – es wurde kein Patent darauf angemeldet. Ob in Wien, im Schwarzwald, in Sachsen oder in Nürnberg: Einer hat sie vom anderen kopiert. Aus der Zeit vor 1820 ist sie noch gar nicht nachweisbar, aber schon 1827 wurden wohl annähernd 500.000 Mundharmonikas gebaut. Übrigens gab es das Wort “Mundharmonika” vorher schon: So nannte man die Maultrommel, das Brummeisen. Zur Unterscheidung davon hieß das neue Instrument auch “Mundharmonika chinesischer Art”.

Wir alle wissen wie sie aussieht. Da ist der Kamm mit den Luftkanälen (Kanzellen), von denen jeder zwei Stimmzungen bedient – eine beim Blasen und eine beim Lufteinziehen – und drum herum sind die zwei Blechdeckel. Der üblichste Typus hat zehn Kanäle und 20 Zungen für 19 verschiedene Töne, aber alle in derselben Tonart, z.B. C-Dur. Auf der diatonischen Mundharmonika erreicht man leiterfremde Halbtöne nur durch das Beugen des Tons (“bending”) mithilfe von Ansatz, Blasstärke, Zungen- und Mundraumstellung. Die bekannteste Anordnung der Töne entwickelte ein gewisser Joseph Richter schon 1825; sie ermöglicht auch das Blasen der Basis-Dreiklänge. Neben dieser “Richterstimmung” kommen etliche Sonderstimmungen vor, vor allem in Ostasien, wo die Mundharmonika ab 1900 populär wurde. Es gibt auch Bautypen, bei denen ein Luftkanal zwei Stimmzungen gleichzeitig bewegt – in der Oktave oder als Schwebungs-Vibrato. Rund 60 cm misst die tiefer gestimmte “Akkordharmonika”, die nur zur Begleitung dient.

Die Edel-Variante der Mundharmonika ist die chromatische Version, die Chromonika. Sie besteht im Grunde aus zwei, um einen Halbton gegeneinander versetzte Harmonikas. Die gebräuchlichste Form ist die mit dem Schieber, durch dessen Betätigung alle Töne (beim Blasen und beim Lufteinziehen) um einen Halbton erhöht werden. Dieses Instrument ist sogar für klassische Musik oder komplexen Jazz geeignet. Das demonstrierte als einer der Ersten der Chromonika-Virtuose Larry Adler (1914 bis 2001), der Musik von Bach, Beethoven, Debussy, Strawinsky adaptiert hat und der zudem Komponisten wie Milhaud und Vaughan Williams zu Werken für sein Instrument inspirierte. Der Belgier Toots Thielemans (1922 bis 2016) hat bewiesen, dass die Chromonika auch im modernen Jazz ein vollgültiges, sensibel differenzierendes Instrument sein kann. Der Jazzpapst Joachim Ernst Berendt bescheinigte seinem Spiel einst “eine Beweglichkeit und einen Ideenreichtum, bei denen man an die großen Saxofonisten der Cool-Ära denkt, an Musiker wie Lee Konitz oder Stan Getz.”

Die diatonische Mundharmonika

Der “klassische” Typ allerdings bleibt die diatonische Mundharmonika. In so mancher Hosentasche gelangte sie im 19. Jahrhundert auch nach Amerika, begleitete dort den Bürgerkrieg und die Eroberung des wilden Westens. Passenderweise stammt eine der berühmtesten Melodien aus einem Westernfilm: “Spiel mir das Lied vom Tod”. In der amerikanischen Blues- und Folkmusik ist die diatonische “Bluesharp” neben der Gitarre das wichtigste Solo-Instrument. Musiker wie Little Walter, Sonny Terry oder Junior Wells zählen zu den Meistern ihres Fachs. Über das Blues-begeisterte London der 1960er Jahre kam die Bluesharp auch in die Rockmusik. Von John Lennon bis Peter Gabriel, von Mick Jagger bis David Bowie, von Ozzy Osbourne bis Rod Stewart: Unzählige Sänger haben sich auf der Mundharmonika hören lassen.

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune, Stichwort Multiphonics, Das Blechbläserquintett, Die Duduk. Die Aida-Trompete, Das Xaphoon, Der Rattenfänger, Der Zink, Die Sackpfeife, Der Hardbop, Das Flügelhorn, Der Stimmton, Die Windkapsel, Der Dämpfer, Das Flötenkonzert, Die Wagnertuba