Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Die Orgel ist ein gewaltiges Blasorchester. Das Stichwort

Orgel
Foto: Andrew Martin auf Pixabay

Die Orgel ist das “Instrument des Jahres 2021” – ein monströses Aerophon. Allein in Deutschland gibt es rund 50 000 Blasinstrumente dieser Art.  

Eine Reihe Orgelpfeifen ist wie eine ­riesige, mehroktavige, chromatische Panflöte. Mehrere Hundert solcher “Panflöten” kann eine Orgel haben, und jede dieser “Flöten” steht dabei für ein eigenes Register, eine eigene Klangfarbe. Diese Registerreihen wiederum lassen sich in getrennter Stimm­führung spielen (dafür hat die Orgel mehrere ­Manuale) oder miteinander gekoppelt zu neuen Klangmischungen. Die Pfeifenorgel ist also wie ein gewaltiges Blasorchester mit maximaler Dyna­mik, maximalem Tonumfang – und der Organist ist sein Dirigent.

Es gibt Orgeln übrigens nicht nur in Kirchen und Konzerthäusern. Sie finden sich auch in Museen, Hochschulen, Kliniken, Einkaufszentren, Kinos, Gefängnissen, Privatwohnungen, Parks und sogar in Lastwagen. Deutschlands größte Orgel steht im Passauer Dom – die größte einsatzbereite Orgel der Welt in einem Kaufhaus in Philadelphia. Sie hat 464 “Panflöten” und insgesamt fast 30 000 Pfeifen, die sich über fünf Stockwerke des Kaufhauses verteilen.  

Geblasen werden Orgeln von einer Windmaschine mit Elektromotor. Früher musste man stattdessen Blasebälge treten – noch früher erzeugte man den Luftdruck mit Wasserkraft (“Hydraulik”). Die einzelne Orgelpfeife funktioniert wie eine Ein-Ton-Blockflöte und kann auch so klingen. Je nach der Mensur einer Pfeifenreihe va­riiert der Klang zwischen Flötentimbre (weite Bohrung) und Streichertimbre (enge Bohrung). Dazwischen liegt der typische, metallene Orgelklang (Prinzipal, Prästant o. Ä.). Neben den Labialpfeifen gibt es aber noch die Lingualpfeifen – die haben eine Aufschlagzunge wie Klarinette oder Saxofon. Ihre Register heißen dementsprechend Oboe, Fagott, Bombarde, Krummhorn, Klarinette, Schalmei, Schnarrpfeife usw. Die Blechbläserfarben werden in der Regel ebenfalls mit Lingualpfeifen nachgeahmt, häufig durch Register­mixturen. Auch Pfeifen mit Durchschlagzunge gibt es (wie bei Melodica oder Mundharmonika), sie sind aber selten. 

In Berlin soll es noch 800 spielbare Orgeln geben

Die wichtigste Tra­dition in der deutschen Orgelmusik ist die des barocken Protestantismus. Damit meint man Komponisten wie Johann Sebastian Bach, Dieterich Buxtehude, Samuel Scheidt, Johann Pachelbel und Georg Philipp Telemann. In Hamburg und Berlin, traditionell Hochburgen der Protestanten, soll es heute noch ca. 300 bzw. 800 spielbare Orgeln geben. Eine andere bedeutende Tradition der Orgel­musik ist die romantisch-katholische des 19. Jahrhunderts. Viele der französischen Orgelkomponisten arbeiteten an Pariser Kirchen, da­run­ter Louis Vierne, César Franck, Gabriel Pierné, Charles Tournemire, Jean Langlais, Alexandre Guilmant, Olivier Messiaen, Charles-Marie ­Widor, Marcel Dupré, Eugène Gigout oder Léon Boëllmann. In Paris zählt man heute rund 250 einsatzbereite Orgeln.

Eine ganz besondere Orgelstadt ist Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Insider nennen es die “Wiege der modernen Musik”, weil 1361 im dortigen Dom die erste Großorgel überhaupt errichtet wurde. Aber damit nicht genug! Seit 2001 erklingt in Halberstadt das langsamste Orgelstück der Welt, es heißt “As Slow As Possible“. Der Freigeist John Cage (1912 bis 1992) hat es komponiert, ursprünglich für Klavier – nur verklingen Klaviertöne eben relativ schnell.

Auf der Orgel dagegen kann ein Ton theoretisch ewig gehalten werden – und so kam man in Halberstadt auf die Idee, Cages möglichst langsames Stück auf 639 Jahre Dauer auszudehnen, genauso lange, wie es die alte Domorgel schon gab. Gespielt wird “ASAP” allerdings auf einem anderen Instrument, das erst nach und nach – immer wenn das Stück nach einer neuen Pfeife verlangt – zusammengebaut wird. Wenn auf dieser Orgel ein Ton neu erklingt oder verstummt, ist das immer ein Ereignis, denn manchmal vergehen Monate bis zum nächsten Klangwechsel. Das C tönt jetzt erst einmal bis zum Jahr 2047.

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo