Üben ist einfach nur mechanisches Wiederholen der immer selben schwierigen Stellen, oder? Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, was es für Sie selbst bedeutet, zu üben? Die Musikpädagogin Kristin Thielemann geht in diesem Beitrag dem tieferen Sinn des Übens auf den Grund und gibt nebenbei, ausgehend von ihren ersten Aha-Momenten beim eigenen Musizieren, wirksame Übemethoden an die Hand.
Wie alt waren Sie, als Sie begonnen haben, Ihr Instrument zu spielen? Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter den festen Entschluss fasste, dass es großartig wäre, wenn ich das Klavierspielen lernen würde. Zwar war es mein Wunsch eher, Trompete zu spielen – aber das war schließlich etwas für Jungen, wie man mir sagte. Nach einigen Verhandlungen fügte ich mich schließlich meinem »Klavierschicksal«, nicht, ohne meiner Mutter das Versprechen abgerungen zu haben, in einem Jahr vielleicht doch Trompete lernen zu dürfen. Dass das Klavierspielen aber auch regelmäßiges Üben bedeuten würde, war mir vor meinem ersten Unterricht jedoch nicht bewusst – weder meine Eltern noch die Klavierlehrerin hatten mich darauf vorbereitet…
Recht bald hatte ich aus der Schule verstanden, dass Hausaufgaben bedeuten, eine Seite im Mathebuch zu erledigen, das Mathebuch wieder in den Tornister zu legen und die fertigen Aufgaben in der nächsten Mathestunde bei meiner geliebten Erstklasslehrerin abzugeben, die meist einen Stern unter die fertigen Aufgaben malte, wenn ich – ganz entgegen meiner Natur – versucht hatte, meine Rechnungen in Schönschrift zu verfassen. Stolz verglichen wir Erstklässler die Sterne und erledigten alsbald fleißig und gewissenhaft unsere Aufgaben.
„Stelle dir eine Person vor, die dir beim Üben zusieht! Wie fühlt sich diese Person?“
Auch im Klavierunterricht war ich sehr bald mit Hausaufgaben konfrontiert. Also hielt ich es wie beim Matheunterricht: Ich spielte nach dem Unterricht mein neues Stück einmal durch, packte anschließend die Noten wieder in meine Musikschultasche und wartete auf die nächste
Klavierstunde. Doch meine Klavierlehrerin war gar nicht begeistert und nach einem intensiven Gespräch darüber, wie genau ich denn üben würde, stellte sich für sie heraus, dass sie den Begriff Üben erst einmal für mich mit Inhalt füllen musste.
»Einmal durchspielen gilt nicht! Zwei oder dreimal auch nicht!«, berichtete ich meiner Mutter doch relativ fassungslos. Man müsse jeden Tag spielen, um richtig gut zu werden. Aber wollte ich denn überhaupt richtig gut werden? Ich wusste es nicht. Ich hatte schlicht keine Idee davon, wie »richtig gutes« Klavierspiel denn nun klingen sollte und was ich damit anfangen könnte. Denn eigentlich machten mir die kleinen und einfachen Stücke Freude und ich hatte zunächst nicht den Drang, etwas an der Schwierigkeit zu ändern. Doch wie es so kommt, wurde ich nach und nach zur etwas gewissenhafteren Klavierschülerin, die, natürlich gehörig von der Mutter motiviert (oder »muttiviert«, wie ich es heute in meinen Fortbildungen sage) – genau wie aufgetragen – täglich 10 Minuten Klavier spielte. Und zwar gegen die Eieruhr, die nach exakt 10 Minuten klingelte.
Ob mitten in der Tonleiter oder in den schönsten Takten der Musik, knallte ich beim Klingeln der Eieruhr den Klavierdeckel herunter. So kam ich zumindest so einigermaßen voran. Der kleine Schönheitsfehler war, dass mir damals noch keine wirkliche Übetechnik zur Verfügung stand, mein Üben also aus bloßem Durchspielen der Hausaufgaben bestand. Fehler, die ich machte, übte ich mir auf diese Weise natürlich so richtig schön ein, indem ich drüberhudelte, oder gleich die »Stop and Go«-Technik nutzte: Wo es lief, drückte ich richtig schön aufs Tempo und wo es stockte, hielt ich vorübergehend an und tastete mich vorsichtig und fehlerbehaftet durch die fragliche Stelle.
Schade nur, dass auf diese Weise natürlich die guten Stellen so richtig gut wurden und ich bei meinen, wie ich heute zu meinen Schülerinnen und Schülern sagen würde »Baustellen«, überhaupt nicht gut vorankam. So manches meiner Klavierstücke hatte mir wohlbekannte Dauerbaustellen, wie man sie von der Dauersanierung der A7 kennt.
„Es ist eine Reise, die nicht nur mein Spiel, sondern auch meinen Charakter formt.“
Doch dann geschah etwas, was meine Motivation beflügelte und mich von der ahnungslosen Klavierklimperin zur begeisterten Klavierschülerin machte: Ich verließ das Stadium der Unterrichtsliteratur und entdeckte die Musik großer Klassiker für mich. Fasziniert tauchte ich ein in kleine Präludien von Bach, versuchte mich an Mozarts und Beethovens Werken und stellte eines Tages die nervige Eieruhr wieder zurück in die Küche meiner Mutter. Denn diese störte nämlich mit ihrem Klingeln und Ticken mein Üben!
Ich war beim Klavierspielen im Flow angekommen. Der Inhalt der Musik hatte mich gepackt, war relevant für mich, schon relativ herausfordernd, aber nicht unmöglich zu schaffen, und ich träumte beim Üben davon, wie ich meinen Freunden diese wunderschöne Musik vorspielen würde. Das Üben war nun weit mehr für mich als bloßes Wiederholen. Ich übte mich darin, meinen Playmobil-Figuren und Kuscheltieren die Musik vorzuspielen, traurige Figuren mit meiner Musik fröhlich zu stimmen, während ich den dauermüden Teddy versuchte, in den Schlaf zu wiegen. Meinen Matchbox-Autos versuchte ich, meine Lieblingsstücke in rasantem Tempo vorzuspielen, um sie zu begeistern. Zufällig – vielleicht auch intuitiv – war ich darauf gestoßen, was ich heute gerne gelangweilt übenden Menschen rate: Stelle dir eine Person vor, die dir beim Üben zusieht! Wie fühlt sich diese Person? Könntest du mit deiner Musik ihre Stimmung verzaubern?
Von der digitalen Welt begeisterten Menschen empfehle ich schon einmal, die App TONIC auszuprobieren. Hier kann man sozusagen öffentlich üben: Andere Userinnen und User von überall auf der Welt können uns hierbei zuhören und auch unser Üben kommentieren – eine stabile Internetverbindung vorausgesetzt. Einige meiner Schüler, die mit dieser App geübt hatten, kamen sogleich mit vielen wichtigen Fragen, das Üben betreffend: »Wie strukturiere ich denn mein Stück so, dass andere merken, dass ich einen wirklichen Plan beim Üben habe?« Mein Tipp hier: Die vorhandenen musikalischen Abschnitte nutzen und diese in sinnvolle Unterabschnitte aufteilen. Je schwieriger das Stück für dich, desto mehr Unterteilungen der Abschnitte würde ich finden. Doch die große Kunst ist, sich dabei nicht zu verzetteln!
Stupides Durchhudeln lässt uns gelangweilt abschalten
Kürzlich kam ein Schüler, der bei TONIC gleichaltrigen Jugendlichen beim Üben zugehört hatte: »Da gibt es welche, die spielen einfach immer nur durch und merken gar nicht, dass es sich jedes Mal gleich schrecklich, oder sogar immer schlimmer anhört!« Stimmt – denn wenn abwechslungsreich geübt wird, helfen wir unserem Gehirn, seine Konzentration und Aufmerksamkeit zu bewahren, wohingegen stupides Durchhudeln gelangweilt abschalten lässt und Flüchtigkeitsfehler meist nicht lange auf sich warten lassen.
Und wie geht denn nun abwechslungsreiches Üben? Meinen Schülerinnen und Schülern bringe ich meist recht zügig die Übemethodik »Straßenverkehr« bei, die ich in meinem üben & musizieren »Voll motiviert – Erfolgsrezepte für Ihren Unterricht« beschrieben habe. Mittlerweile haben sich Methodenkärtchen dazugesellt, mit denen sich diese Technik sehr viel leichter merken und einsetzen lässt. So bleibt das Üben spannender, weil hier viele Gamification-Elemente eingebaut sind. Gamification-Elemente sind das, was Sie beim Gesellschafts- oder Computerspielen bei der Stange hält, also beispielsweise Zeitverknappung (…also vielleicht doch Mutters Eieruhr), zu bestehende Hindernisse, ein neues Level, Glücksmomente, Ereigniskarten, das Sammeln von Tokens oder Coins und das Sichtbarmachen von Erfolgen.
Auf diese Weise bekommt die zu übende Musik spielerisch die Flexibilität, die sie braucht, um zum einen sicher ausgeführt zu werden und zum anderen aber die nötige Spontaneität und musikalische Gestaltungskraft zu besitzen.
„Unser etymologisches Erbe will uns also erzählen, dass das Üben schon immer etwas war, was mit Sorgfalt, Beständigkeit und Hingabe die besten Ergebnisse erzielt hat“
Und schon bin ich nämlich mit den Schülerinnen und Schülern mitten drin in einer spannenden Übereise. Ich bin da, wo die Wiederholungen Freude bereiten und wir gemeinsam gerne ein Stück beackern. Nicht zuletzt kommt das Wort Übung ja auch ursprünglich vom Althochdeutschen »uobunga« und bezog sich auf die Landwirtschaft und die Pflege der Felder, aber hatte auch Bedeutungen, wie eifrige Tätigkeit. Daraus entwickelte sich nach und nach die heute geläufige Definition des Übens als »etwas sehr oft [nach gewissen Regeln] wiederholen, um es dadurch zu lernen« (Duden). Unser etymologisches Erbe will uns also erzählen, dass das Üben schon immer etwas war, was mit Sorgfalt, Beständigkeit und Hingabe die besten Ergebnisse erzielt hat.
Und die Sorgfalt, Beständigkeit und Hingabe sind eben auch die Dinge, die jeder, der übt, gleich frei Haus mit dazulernt: Geduld, Ausdauer, Resilienz – und manchmal eben auch das Erkennen der eigenen Grenzen! Daher lernen wir beim Üben eines Instruments auch immer viel über uns selbst: Wie geduldig sind wir? Welche kreativen Übemöglichkeiten fallen uns für gewisse knifflige Stellen ein? Und letztlich ist das Üben auch die Beschäftigung mit unserer eigenen Motivation: Wie lange können wir den Willen aufbringen, uns wieder und wieder mit Dingen zu beschäftigen, die einfach nicht so gelingen wollen, wie wir es uns wünschen?
Und wo ist überhaupt unser Ziel? Schaffe ich es, einen Fehler als Hinweis darauf zu nehmen, wo ich noch wachsen kann und Potenzial habe, oder ist ein Fehler für mich schlicht etwas Böses, das es auszumerzen gilt? Wollen wir diese Musik so spielen, wie der Solist XY, von dem wir kürzlich ein Video auf YouTube gestehen haben, oder wollen wir etwas völlig Eigenes daraus machen? Wie sehr will ich mich den vorgegebenen Angaben in der Musik anpassen und inwieweit sind mir musikalische Traditionen so wichtig, dass ich bereit bin, sie für mein Spiel zu übernehmen? Und wie halten Sie es mit der Kritik oder einem Feedback über Ihr Spiel? Es gehört schon viel dazu, eine etwas weniger schmeichelhafte Rückmeldung anzunehmen, gut wegzustecken und daran zu wachsen, statt zu zerbrechen.
So ist das Üben eines Instruments auch eine Art Charakterbildung für uns selbst, denn Tugenden wie Beharrlichkeit, Durchhaltewillen und der Umgang mit Rückschlägen werden trainiert und bestenfalls gestärkt. Zudem müssen wir uns immer wieder mit musikalischen Vorgaben und Traditionen auseinandersetzen. Dabei ist für mich das Schöne an der Musik, dass es eigentlich keine Belohnung von außen braucht: Der Lohn ist, dass die immer hochwertiger klingende Musik durch beständiges Üben selbst zur Auszeichnung wird!
Verständlich finde ich, dass Menschen, die noch nicht so sehr daran gewöhnt sind, welche Metaebenen sich im Üben verbergen, zunächst vielleicht einfach nur gegen die Uhr üben – in meinem Falle gegen die Eieruhr. Wobei ich es nicht unbedingt falsch finde, sich einen bestimmten Zeitrahmen fürs Üben zu reservieren – das mache ich heute genauso. Aber ich verbringe diese Zeit als Qualitätszeit mit mir selbst, weil ich weiß, dass ich am Ende nicht nur bestimmte Dinge auf meiner Trompete noch besser spielen kann, sondern auch, weil ich durch das Üben wachse, Geduld mit mir selbst lerne und eine tiefere Verbindung zu meiner Musik und meinem inneren Selbst finde.

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Üben hat etwas Besonderes und Erhabenes
Es ist eine Reise, die nicht nur mein Spiel, sondern auch meinen Charakter formt. Für mich hat das Üben immer etwas Besonderes und Erhabenes. Sie werden schmunzeln, aber ich nehme zum Üben gerne einen duftenden Tee oder Kaffee mit in mein Musikstudio, mache es mir dort gemütlich und zelebriere diese besondere Zeit.
Mit all diesen Gedanken im Gepäck, würde ich also durchaus sagen, dass das Üben auch immer eine philosophische Komponente hat, indem wir Wege suchen, nicht nur unser Instrument, sondern auch uns selbst zu meistern und sowohl zu unserem Instrument, als auch Stück für Stück zu uns selbst zu finden. Ob ich dafür heute wirklich noch Übepläne benötige? Nein, aber nachdem ich im Studium viele Moleskine Notizbücher vollgeschrieben habe, bin ich mittlerweile auf eine App umgestiegen, in der ich mir wichtige Gedanken, Erkenntnisse und auch Fortschritte notiere, die ich beim Üben mache.
Das Üben ist eine Reise, die niemals endet – wie die liegende Acht, das Symbol der Unendlichkeit, ein Gleichgewicht das hergestellt werden will und ein ewiges Auf und Ab, bei dem es kein wirkliches Ziel gibt. Das Üben ist ein Prozess des Lernens, des Wachsens und Entdeckens, der uns bis ins hohe Alter begleiten kann und im Anfangsunterricht genauso wichtig ist, wie für Profis.
Egal, auf welchem Niveau wir musizieren oder mit welchem Ziel wir unser Instrument spielen – mein Tipp an Sie ist, die Übezeit als ein Geschenk an sich selbst zu betrachten und als eine Gelegenheit, auf vielerlei Ebenen zu wachsen. Vor allem aber bietet sie die Chance, sich selbst immer besser kennenzulernen und die beste Version von sich selbst zu werden – musikalisch wie persönlich. Auch hier werden wir wohl niemals ankommen, aber gerade darin liegt die Schönheit: In der stetigen Weiterentwicklung, im Entdecken neuer Facetten und im Erleben der Reifung des Prozesses; es ist die Reise, die uns prägt, nicht das Ziel. Jede Übeeinheit ist ein weiterer Schritt auf diesem unendlichen Pfad.