Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Die Physik des Fagotts. Das Stichwort

Fagott
Edgar Degas: L’Orchestre de l’Opéra

Auf den ersten Blick ist die Sache ganz klar: doppeltes Rohrblatt, konische Bohrung, Stimmung in F. Beim zweiten Blick aufs Fagott jedoch wird es sehr kompliziert.

Es fängt schon an beim Aufbau: Das Fagott besteht aus nicht weniger als sieben Teilstücken. Da sind zunächst (natürlich) das Mundstück und der S-Bogen (aus Metall), beides knifflige, hochsensible Komponenten. Dann der Flügel (wo die linke Hand greift), der Stiefel (wo die rechte Hand greift), die (Bass-)Röhre (wo wieder die Linke greift) und das Schallstück (es sitzt beim Fagott ganz oben) sowie ein aufsetzbares zweites Schallstück, falls man das tiefe A spielen möchte. Hätte die Fagottbohrung nicht einen U-Turn im Stiefel (“Doppelloch”, “Ofenrohr”), wäre dieses Instrument etwa zweieinhalb Meter hoch.

Kein Wunder, dass man dafür viel Druck auf der Lunge benötigt. Das Fagott hat sage und schreibe 28 (!) Tonlöcher und eine Menge Gestänge – dennoch werden fünf Löcher direkt mit den Fingerkuppen geschlossen. Einige Löcher sind übrigens schräg (!) gebohrt. Was das Klangliche angeht, besitzt das “Reisigbündel” (ital. “fagotto”) mehrere Persönlichkeiten: brummig-samtig in der Tiefe, lyrisch-weich in der Mitte, quäkend-clownesk in der Höhe. Es hat eine gute Resonanz, aber eine schlechte ­Abstrahlung. Außerdem schwankt es – je nach Register – sehr in der Lautstärke. Wirklich ein kurio­ses Instrument. 

Das Überblas­ver­halten

Das Komplizierteste aber ist das Überblas­ver­halten des Fagotts. Zu diesem Themenkomplex liegen zahlreiche physikalisch-wissenschaftliche Studien vor, gespickt mit Formeln und Gleichungen, die für Laien leider nur schwer verständlich sind. Das Problem beim Überblasen scheint einfach dieses zu sein: Das Fagott oktaviert, aber es oktaviert schlecht. Schuld daran ist die Bohrung, die konisch ist, aber schlecht konisch. Das Überblasen verlangt daher eine Reihe von Zusatz- und Korrekturtasten, Tastenkombinationen und Spezialgriffen. (Es gibt am Fagott sogar Flüster-, Resonanz- und Schleiftasten.)

Je nach der gewählten Griffweise für eine Tonhöhe kann die Intonation ordentlich, gut oder sehr gut sein. Saubere Töne zu blasen muss sich am Fagott manchmal anfühlen, als würde man auf dem Klavier komplexe Akkordfolgen greifen. Die Alter­nativen der Griffwahl sind so groß, dass Fagottistinnen und Fagottisten jeweils ihre eigenen, persönlichen Tastenkombinationen entwickeln und selbige wie ein Geheimwissen hüten. Dieses Instrument kennt wirklich noch Mysterien. (Nur manchmal schreiben Komponistinnen und Komponisten exakt die von ihnen gewünschte Tastenkombination vor.)

Die amerikanische Fagottistin Dana Jessen meint: “Das Griffsystem des Fagotts ist sehr verzwickt” – eine Aussage, die letztlich eher untertrieben sein dürfte. Allein der linke Daumen ist beim Fagott für neun (!) verschiedene Tasten zuständig, die einzeln oder in Verbindung mit ­anderen Tasten für etwa zwei Dutzend verschiedener Töne gebraucht werden – und das sind nur die Standardgriffe. 

Die vielfältigen Tastenvariationen verleihen dem Fagott besondere Qualitäten

Doch um fair zu sein: Die vielfältigen Tastenvariationen verleihen dem Fagott auch besondere Qualitäten, etwa im Bereich klanglicher Schattierungen und Trillerfiguren. Und was fortgeschrittene Spieltechniken und besondere Klangeffekte angeht – wie sie etwa in der Avantgarde-Lite­ratur oder in der Improvisation gebraucht werden –, hat das Fagott eindeutig die Nase (oder besser: das Schallstück) ganz vorne.

Das sehr eigenwillige Klangverhalten des Instruments erlaubt nämlich einige extrem hohe Töne und auch hohe Glissandi. Und vor allem im Bereich der Spaltklänge (“Multiphonics“) und der Mikrotöne hält das Fagott noch einige Überraschungen bereit. Der Fagottist Johnny Reinhard schreibt: “Das Fagott erlebt eine magische Verwandlung, wenn Fagottistinnen und Fagottisten sein Potenzial in der Tonhöhen-Differenzierung ent­decken und die dafür not­wendigen Techniken entwickeln. Das mikrotonale Fagott, frei wie die mensch­liche Stimme, ist eine unerwartete musikalische Quelle mitten unter uns.”

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune, Stichwort Multiphonics, Stichwort Blechbläserquinett