Orchestra | Von Alexander Beer

“Dirigieren ist Führung in Echtzeit.” Bjørn Sagstad im Interview

Sagstad
Foto: Marte Bjerke

Wer in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum ein Studium der Blasorchesterleitung aufgenommen hat, den zog es oft nach Basel zu Felix Hauswirth. Nach 36 Jahren Lehrtätigkeit geht im Sommer 2021 diese Koryphäe der Dirigentenaus­bildung nun in den Ruhestand und gibt die Professur für Blasorchesterdirektion in jüngere Hände. Nachfolger ist der Norweger Bjørn Sagstad, der ab September diese wichtige Position in der Blasorchesterszene bekleidet. Unser Autor Alexander Beer hat mit Bjørn Sagstad ein Online-Interview geführt.

Herr Sagstad, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Berufung auf die Professur für Blas­orchesterdirektion in Basel. Wie haben Sie das Auswahlverfahren gemeistert? 

Es gab mehr als 70 Bewerberinnen und Bewerber aus der Schweiz und aus dem Ausland. Anhand der Unterlagen und eingeschickten Videos war eine Auswahl zu einer ersten Runde ein­ge­laden worden. Diese erste Runde fand im Dezember online statt. Man musste ein Konzept zum Unterricht vorlegen und zahlreiche konkrete Fragen beantworten. Zum Be  ispiel die so wich­tige wie neuralgische Frage, wie die Studierenden möglichst viel Dirigierpraxis erhalten. Oder die eigene Vernetzung mit der nationalen und der internationalen Blasorchesterszene. Anschließend wurde der Kreis immer kleiner und am Schluss waren es fünf Kandidaten, die in Basel vordirigieren und vorunterrichten mussten. Ich glaube, ich bin vielleicht ausgewählt worden, weil ich als Dirigent und Lehrer kein DIN-A4-Typ bin. Es hat die Berufungskommission offensichtlich überzeugt, dass ich keinem gängigen Schema entspreche und dass ich so vielseitig bin. 

Wo leben und arbeiten Sie?

Ich lebe in Norwegen in der Stadt Bergen, meiner Geburtsstadt, wo ich an der Grieg Music Academy fünf Dirigierstudierende unterrichte. Und ich lebe in Trondheim, wo meine Kinder wohnen. Mit dem Auto sind das zwölf Stunden Fahrt, aber ich liebe diese Fahrten. Und manchmal kommen mir dabei die besten kreativen Ideen. Oft aber nehme ich auch das Flugzeug. Ich bin die Route auch schon mit meinem Segelboot gefahren, auf dem ich teilweise wohne (so ähnlich wie die beliebten Hausboote in Holland). Wie alle Dirigenten bin ich viel unterwegs und darunter leidet das Familienleben. Daher ist es mir wichtig, die Balance zu halten, vor allem, weil das Dirigieren für mich eine Berufung ist. 

Wie sieht Ihr Leben als Dirigent aus?

Neben dem Unterrichten bin ich seit vielen Jahren als freiberuflicher Dirigent tätig. In den ersten Jahren hatte ich einige feste Anstellungen als künstlerischer Leiter oder Chefdirigent. Jetzt bin ich freier und habe wechselnde Verpflichtungen. Auf ein Projekt mit einem Sinfonieorchester folgt ein Engagement bei einer Bigband, dann wieder leite ich Auftritte mit Chor, studiere Kammermusik ein oder dirigiere Blasorchesterkonzerte beim Militär. Die meisten Dirigate finden in Norwegen und den skandinavischen Ländern statt, ab und zu auch in den anderen europäischen Ländern, etwa in England oder in den Niederlanden, sowie in Asien, Nordamerika und im Nahen Osten. Die deutschsprachigen Länder sind für mich Neuland und so freue ich mich auf Basel, um von dort aus die Schweiz und die umliegenden Länder und ihre Musiktraditionen zu entdecken. 

Wie hat Ihre musikalische Laufbahn begonnen?

In einer Musikerfamilie bin ich nicht aufgewachsen, aber alles Musische hatte für mich schon immer einen hohen Stellenwert. Meine erste Musik war Popmusik, Country und Western. Später, als ich Trompete lernte, habe ich mich für Tower of Power begeistert. Und dann für die Klassik. Heute bin ich stilistisch sehr breit ge­­fächert und habe die komplette Zauberflöte genauso dirigiert wie zeitgenössische Uraufführungen. Nach dem Studium in Norwegen bin ich von 1992 bis 1994 nach Manchester in Nordengland gegangen. Dort habe ich am Royal Northern College of Music (RNCM) Trompete und Diri­gieren parallel studiert.

Howard Snell vom London Symphony Orchestra war mein Trompeten­professor und der bekannte Timothy Reynish mein Dirigierprofessor. Als ich realisierte, dass ich auch als Musiker ständig so intensiv wie ein Dirigent auf die anderen hörte und regelmäßig meine Ein­sätze verpasste, war es einfach, von der Trompete Abschied zu nehmen. Ich habe mich dann ausschließlich auf das Dirigieren fokussiert und spiele schon seit 20 Jahren nicht mehr Trompete. 

Was ist typisch für die Dirigentenausbildung am RNCM?

In Manchester gefällt mir die Offenheit und ­Breite der Ausbildung der Dirigenten. Wir haben an einem Tag mit den Ensembles der Blech­bläserabteilung gearbeitet, am nächsten Tag durften wir in der Opernschule dirigieren. Wir wurden als Dirigenten für Sinfonieorchester genauso ausgebildet wie als Blasorchesterdirigenten. Diese Genrebreite schätze ich bis heute bei meiner täglichen Arbeit und daher halte ich sie für ein wichtiges Lernziel bei der Dirigierausbildung. Es ist entscheidend, die großen Meisterwerke zu kennen, weil sie die Komponisten aller Stilrichtungen inspiriert haben. Ich finde es wichtig, die Grenzen zwischen den Genres abzubauen. Das wünsche ich mir auch für die Studierenden. Ohne Begrenzungen wirst du besser. Und ich halte es für zentral, sich der Musik und den Menschen zuzuwenden anstatt sich auf ein Genre zu spezialisieren. 

Und wie ist die Dirigentenausbildung in Norwegen?

In Norwegen hat sich in den letzten Jahren für junge, angehende Dirigentinnen und Dirigenten eine Menge getan. Das landesweite Förderprogramm “Dirigentløftet” (“Dirigenten-Aufzug”) hat sich auf die Fahnen geschrieben, langfristig und nachhaltig die Dirigierausbildung auf ein sehr hohes Niveau anzuheben. Professionelle Diri­genten, unsere Musikverbände und sehr po­tente Sponsoren haben sich zusammengetan und dieses Programm aufgebaut. Es ist fantastisch, welche Möglichkeiten es nun gibt, und es ist für mich eine große Freude, Teil davon zu sein. 

Sie sind Mitglied der WASBE. Was verbindet Sie mit dieser weltumspannenden Organi­sation für Dirigenten, Blasorchester und Ensembles?

Die WASBE, ihre gute Repertoireentwicklung und ihre vielen gut organisierten Festivals haben mich immer inspiriert. Meine Verbindung zu diesem weltweiten Netzwerk reicht weit zurück. Als ich Student am Royal Northern College of Music war und in Manchester lebte, war auch die BASBWE (British Association of Symphonic Bands and Wind Ensembles) ein wichtiger Teil meines musikalischen Lebens. 

Sehen Sie sich mehr als Dirigent oder als Dirigierlehrer?

In erster Linie bin ich Dirigent, auch wenn mit zunehmendem Alter das Unterrichten immer mehr Raum einnimmt. Dennoch bin ich sicher, dass ich stets aktiver Dirigent bleiben möchte. Denn ich kann nur gut unterrichten, wenn ich selbst regel­mäßig vor dem Orchester stehe und nah dran bin. Für mich verschmelzen die zwei Fachgebiete “Dirigieren” und “Dirigierunterricht” immer mehr und ergeben für mich eine natürliche Einheit. 

Wie können Sie all die Verpflichtungen in Norwegen mit der neuen Aufgabe in Basel unter einen Hut bringen? 

In Bergen habe ich eine Stelle im Umfang von 20 Prozent. In Basel ist – je nach Anzahl der Studierenden – ein Umfang von 30 bis 50 Prozent geplant. Mir schwebt ein System vor, in dem ich alle zwei Wochen nach Basel komme und ge­legent­lich etwas länger bleibe – eine Art Blockunterricht. Mich interessiert auch, mit den Studierenden zu ihren Orchestern zu fahren und vor Ort Einblicke zu erhalten. Geplant sind außerdem Workshops außerhalb der Musikhochschule. 

Welche Faktoren sind erfolgsentscheidend in der Dirigierausbildung?

An erster Stelle steht natürlich die enorm wich­tige Dirigierpraxis vor Orchestern oder En­sem­bles. Und diese sollte auf möglichst hohem oder professionellem Niveau ermöglicht werden. In Norwegen gehen wir daher regelmäßig zu einem der fünf Berufsblasorchester des Militärs. Ich konnte beobachten, dass junge Dirigentinnen und Dirigenten auch früher schon gelegentlich eine Chance vor professionellen Gruppen bekommen haben. Aber sie waren oft überfordert und wurden dann nicht wieder eingeladen. Aus meiner Sicht ist ein Prozess nötig, um zu reifen und sich zu entwickeln. Dies ist nur möglich, wenn die Studierenden mehrfach wiederkehren können. Sie müssen auf diesem Weg betreut und gestärkt werden. Unter diesen Bedingungen habe ich schon erstaunliche persönliche Entwicklungen miterleben dürfen. 

An zweiter Stelle stehen für mich alle körper­lichen, gestischen und mimischen Aspekte des Dirigierens. Die Schlagtechnik muss man so intensiv in hunderten oder tausenden von Stunden üben wie ein Instrument. Und dabei geht es nicht darum, schön auszusehen. Es geht darum, die Fähigkeit und Sicherheit zu entwickeln, Musik auszudrücken. Man muss sich wie ein Fisch im Wasser fühlen. Und an dritter, ebenfalls sehr wichtiger Stelle steht für mich der Aufbau des persönlichen Repertoires. 

An der Musikhochschule in Basel gibt es kein Hochschulblasorchester. Und die bis­herige Zusammenarbeit mit Formationen der Schweizer Armee scheint für die Zukunft fraglich. Wie sollen die Studierenden die nötige Dirigierpraxis bekommen?

In Basel möchte ich auf die Kolleginnen und Kollegen zugehen und mit ihnen besprechen, welche Möglichkeiten es gibt, Ensembles mit Studierenden zusammenzustellen. Darüber hinaus bin ich gespannt, die Musikkultur und die Möglichkeiten außerhalb der Akademie zu erkunden. Im Hinblick auf Kooperationen mit der Militär­musik der Schweizer Armee bin ich optimistisch, da ich viel Erfahrung habe in der Zusammenarbeit zwischen Studierenden und Militärkapellen in Skandinavien. Ich werde gerne Kontakt aufnehmen und mich mit den Verantwortlichen austauschen, um Vorteile für alle Seiten zu erzielen. 

Wie schätzen Sie die Berufsaussichten Ihrer künftigen Studierenden ein?

In meinem Unterricht werde ich mich auf verschiedene Musikgenres und Ensembleformen sowie auf die Entwicklung der eigenen Interessen und Stärken der Studierenden konzentrieren. Ich bin überzeugt, dass sich die Studierenden im Dirigierstudium in Basel so weitreichende Kompetenzen erarbeiten können, dass ihnen viel­fäl­tige Berufsfelder offen stehen.

Autoritär oder kollegial? Welchen Führungsstil als Dirigent leben Sie selbst und vermitteln Sie im Unterricht?

Aus meiner Sicht ist das Dirigieren eine der anspruchsvollsten und schwierigsten Aufgaben in der Welt. Dirigieren ist Führung in Echtzeit – man hat nur den Bruchteil einer Sekunde für unumkehrbare Entscheidungen. Die Zeit der autori­tären Maestros ist zum Glück vorbei. Ein Orchester setzt sich aus so vielen großartigen Mitgliedern zusammen, die nicht nur gut spielen können, sondern auch viel über Musik nachgedacht haben. Mein Stil ist eine Art moderner Führungsstil, den ich auch unterrichte.

Ich sehe mich als ersten Konzertmeister, wenn ich dirigiere, und nicht als Autokraten am Pult. Mein Ansatz ist es, zu hören, zu sehen und zu erkennen, was gerade gebraucht wird. Nach jeder Probe sollte ein Unterschied hörbar sein – durch eine ge­mein­same Verbesserung. Ich habe das Gefühl, dass in den deutschsprachigen Ländern mit ihrer großartigen Musikgeschichte die musikalische Führung konservativer gedacht wird als bei uns. Wir im Norden habe eine viel jüngere Kultur und ich möchte gerne einige dieser modernen Führungsansätze mit nach Basel bringen. Die Kombination bei gleichzeitigem Respekt vor der Tradition könnte fruchtbar sein. 

Wie sieht Ihr Leben außerhalb der Musik aus?

Ich versuche ein gutes Gleichgewicht in meinem Leben zu finden. Auf der einen Seite verbringe ich viel Zeit mit der Musik, auf der anderen mit meinen wundervollen Töchtern, Freunden und meiner Familie. Zu mir und meinem Leben gehören auch meine zwei sehr unterschiedlichen Boote. Ich bin ein passionierter Bootsfreund und Skipper, ein Segler mit einem alten traditionellen norwegischen Holzboot und einem ganz neuen modernen deutschen Moody-Segelboot.

Sagstad

Bjørn Sagstad

wurde 1968 in Bergen/Norwegen ­geboren. Er studierte Trompete und Dirigieren mit den Schwerpunkten Orchester, Oper und Chor an den Musikhochschulen in Bergen (Grieg Academy of Music), Trondheim, Tromsø sowie am Royal Northern College of Music in Manchester (RNCM). Als prägende Lehrer nennt er Howard Snell, Ragnar Rasmussen, Timothy Reynish und Jorma Panula.

Sagstad ist ein Dirigent mit einem sehr vielseitigen Repertoire, das kaum Grenzen zu kennen scheint. So arbeitet er in seinem Heimatland und anderen skandinavischen Ländern regelmäßig mit professionellen Sinfonieorchestern, Blasorchestern, Brassbands, Bigbands und Chören. Sagstad setzt sich leidenschaftlich für Uraufführungen und Auftragskompositionen ein, um das klassische und zeitgenössische Repertoire zu erweitern. 

Bjørn Sagstad war musikalischer Leiter der Königlichen Marinekapelle in Bergen, dem Kristiansand Wind Ensemble, dem Kristiansund Symphony Orchestra (Oper) und dem Prinsen Military Brass Ensemble in Dänemark. Als Gastdirigent arbeitete er unter anderem mit dem Bergen Philharmonic Orchestra, dem Trondheim Symphony Orchestra, dem Stavanger Symphony Orchestra, The Trondheim Soloists, der Oulu Symphony in Finnland, dem Kammerorchester Musica Vitae in Schweden, der Århus Sinfonietta in Dänemark, dem South Bend Symphony Orchestra (USA), der Hong Kong Sinfonietta und ­nahezu allen professionellen Militär­orches­tern in Skandinavien sowie der Königlichen Marinekapelle der Niederlande. 

Bjørn Sagstad ist ein bekannter Name im norwegischen Musikleben und seit langem nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pädagoge im ganzen Land tätig. Derzeit ist er ­Associate Professor für Dirigieren an der Grieg Academy of Music in Bergen. Er war Gast unter anderem an den Universitäten in Trondheim, Stavanger, Tromsø, Aarhus (Dänemark) und Groningen (Niederlande). Im norwegischen Förderprogramm »Dirigentløftet« unterstützt er die Initia­tive »Maestra« für Dirigentinnen. ­Darüber hinaus ist er Dozent bei der Dirigentenwoche in Stavanger und der Sherborne Summer School of Music (England). Im September 2021 tritt Bjørn Sagstad die Nachfolge von Felix Hauswirth als Professor für Blasorchesterdirektion an der Hochschule für Musik Basel an. 

Kontakt:
bjorn@bjornsagstad.com

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