Brass, Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Ein Bildungsfetisch namens PISA … und die Folgen für den Musikunterricht

PISA
Foto: Alexa from Pixabay

Seit mehr als 20 Jahren diskutieren wir über PISA – das “Program for International Student Assessment”. In der deutschen Debatte hat PISA inzwischen jegliche Bildungsidee plattgemacht.

Die PISA-Tests sind eine Erfindung der OECD, der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Rund 80 Staaten nehmen inzwischen an der Durchführung dieser Tests teil, die alle drei Jahre stattfinden. Gemessen werden berufsrelevante Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern, speziell im Bereich Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften. Hauptverantwortlich für die Entwicklung der Tests ist Andreas Schleicher, ein deutscher Statistiker. Schon die Ergebnisse der ersten PISA-Studie (2000) sorgten in Deutschland für einen „Schock“ – man konstatierte allgemein eine „Bildungskatastrophe“ und forderte neue „Bildungsstandards“. 

Eine Wirtschafts-Organisation misst Kenntnisse und Fähigkeiten von Jugendlichen?

Daran ist mehreres erstaunlich. Erstens, dass sich ausgerechnet eine Wirtschafts-Organisation anmaßt, „Kenntnisse und Fähigkeiten“ von Jugendlichen „messen“ zu können – und das noch dazu im internationalen Vergleich, völlig unabhängig von Entwicklungsstand, Geschichte und Infrastruktur der einzelnen Staaten, unabhängig auch von Schulsystem, Bildungszielen und Schulart. Zweitens, dass nicht Pädagogen und Bildungsfachleute diese Tests entwickeln, sondern Mathematiker und Statistiker. Drittens, dass die OECD dabei ganz offen rein kapitalistische Interessen im Auge hat. Denn das Ziel der Tests ist die Verbesserung von wirtschaftlich effektivem „Humankapital“, gekoppelt mit der Förderung eines neuen Ökonomie-Zweigs, der den Staaten, Ländern und Schulen teure Hilfsmittel zur Verbesserung des PISA-Standards verkauft.

Das Erstaunlichste aber ist, dass die Bildungspolitik in Deutschland und anderswo die PISA-Ergebnisse umgehend zur obersten Wahrheit in Sachen Schulbildung erklärt hat. Vergessen sind plötzlich alle Bildungsziele und pädagogischen Konzepte, vergessen ist die – gerade in Deutschland – durch Humanismus und Aufklärung geformte Bildungsidee vom mündigen Menschen. Wenn in den letzten 20 Jahren überhaupt noch ein „Bildungsziel“ formuliert wurde, so lautete es: Verbesserung des internationalen PISA-Rankings. Die Institution Schule tritt damit in den von Wirtschaftsinteressen diktierten Wettbewerb, unterwirft sich der Aussagekraft von fragwürdigen Testergebnissen und Evaluationen und wird zur Trainingsstätte für PISA-Effizienz. Das ist Erziehung zur Unmündigkeit.

Ein Offener Brief (2014)

Zu Recht haben sich Pädagogen und Philosophen von Anfang an dagegen gewehrt, dass den PISA-Testergebnissen zu viel Einfluss auf das Ausbildungskonzept der Schulen zugestanden wird. Im Mai 2014 zum Beispiel wurde an den PISA-Verantwortlichen Andreas Schleicher ein Offener Brief gerichtet, der von beinahe 200 Professoren und Professorinnen, Schulleitungen und Elternvertretungen (vor allem aus Deutschland und den USA) erstunterzeichnet war. Darin heißt es: „Wir sind […] tief besorgt über die negativen Folgen des PISA-Rankings. Wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte. Durch den von PISA stimulierten internationalen Wettlauf um Testergebnisse hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bildungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenztheit der OECD-Ziele.“

Die Unterzeichner lenken das Augenmerk unter anderem auf den durch PISA ausgelösten enormen Anstieg quantitativer Erhebungen im Schulbetrieb, die Kurzatmigkeit der Drei-Jahres-Abstände der PISA-Tests und die Zusammenarbeit der OECD mit profitorientierten „Dienstleistern“. PISA, so heißt es im Offenen Brief, sorge nicht für Bildungsförderung, sondern für Bildungsgefährdung. „Da PISA nur einen engen Ausschnitt messbarer Aspekte von Bildung betont, lenken die Tests die Aufmerksamkeit von den weniger messbaren oder nicht messbaren Bildungs­ und Erziehungszielen wie z.B. der körperlichen, moralischen, staatsbürgerlichen und künstlerischen Entwicklung ab. […] Die Vorbereitung auf einträgliche Arbeit kann nicht […] das Hauptziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Handeln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vorbereiten.“

Eine TV-Diskussion (2024)

In der öffentlichen Wahrnehmung gehen solche vernünftigen Einwände offenbar unter. Die PISA-Ergebnisse sorgen dagegen nach wie vor für großes Aufsehen und eine permanente „Bildungsdebatte“. Auch in der populären TV-Talkshow von Markus Lanz wurde am 25. Januar 2024 über die Zustände an Deutschlands Schulen diskutiert. Beteiligt waren die Bundesbildungsministerin, die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, ein Vertreter der Bundesschülerkonferenz und eine politische Journalistin. Nun gibt es sicherlich viele Dinge an deutschen Schulen, über die man engagiert diskutieren kann, etwa den maroden baulichen Zustand der Gebäude, die mangelnde digitale Ausrüstung, den Lehrermangel und die Klassengrößen, die fehlende Medienbildung, die fehlende Sprachkompetenz der Elternhäuser, die fehlende psychologische Betreuung der Schüler usw.

Dagegen wird die angebliche Verbindlichkeit von PISA-Tests in einer „Expertenrunde“ wie bei Markus Lanz nicht einmal ansatzweise hinterfragt. Die PISA-Ergebnisse werden akzeptiert wie religiöse Offenbarungen, wie objektive und erschöpfende Wahrheiten über den Zustand des Bildungssystems. Sie dienen als Grundlage für Aussagen wie „Das Bildungssystem ist im Eimer“ oder „Unser Schulsystem versagt“. Der Talkmaster vermisst ein allgemeines Erschrecken über die PISA-Ergebnisse, gar einen „Aufschrei“. Von einer „Bildungsmisere“ ist die Rede, von einem „schlechten Leistungstrend“, von einer Suche nach „Lösungen“: „Wir müssen besser werden, wir müssen die Trendwende schaffen“ – und gemeint ist immer nur die PISA-Punktzahl. Man müsse sich auf „die basalen Kompetenzen“ konzentrieren – und gemeint sind die PISA-Testfelder. Die Journalistin erwartet gar, dass man das Bildungssystem „vom Kopf auf die Füße stellt“, nur um den PISA-Kriterien zu genügen.

Bildung statt PISA

Um es klar zu sagen: PISA-Testergebnisse haben mit der aufklärerisch-demokratischen Bildungsidee, der sich unsere Schulen verpflichtet fühlen sollten, nichts zu tun. Unter dieser Bildungsidee versteht man – so schreibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann – die „Formung und Entfaltung von Körper, Geist und Seele, von Talenten und Begabungen, die den einzelnen zu einer entwickelten Individualität und zu einem selbstbewussten Teilnehmer am Gemeinwesen und seiner Kultur“ machen sollen. Das Ziel ist ein mündiges, kritisches, selbstkritisches, sensibles, empathisches und informiertes Individuum – „ein guter, anständiger, aufgeklärter Mensch und Bürger“, wie Wilhelm von Humboldt einmal schrieb. Bildung erwirbt man – da sind sich die Philosophen von Aristoteles bis Horkheimer einig – durch die Auseinandersetzung mit einer Sache, durch Neugier, Forschung, Hinterfragung. Was PISA dagegen testet – Verfahrens-Kompetenz, formale Fertigkeit, methodisches Rüstzeug, verwertbare Funktionalität –, ist nahezu das Gegenteil von individueller Bildung.

Die „Erziehung zur Persönlichkeit“ (Immanuel Kant) ist kaum möglich ohne die Einbeziehung geisteswissenschaftlicher Disziplinen, die bei PISA überhaupt nicht vorkommen: die Beschäftigung mit Geschichte, Gesellschaft und Philosophie, mit Literatur, Kunst und nicht zuletzt Musik. Nach den letzten PISA-Ergebnissen hieß es aus der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz: „Möglicherweise wird die eine oder andere Musikstunde ausfallen, um Deutsch- und Mathematikstunden zu sichern.“ Tatsächlich fallen an deutschen Grundschulen bis zu 80 Prozent der Musikstunden aus. In Bayern sollen (nach einem Beschluss vom Februar 2024) die musischen Fächer zusammengefasst werden, um für die PISA-Testfächer mehr Platz zu schaffen. „PISA-Offensive“ nennt das das bayerische Kultusministerium.

Transfereffekte

Nun könnte man dagegen auf die Transfereffekte des Musikunterrichts verweisen: dass er erwiesenermaßen Sprach- und Rechenleistungen verbessern kann, die Konzentrations- und Lernfähigkeit fördert, die Raum- und Körperwahrnehmung intensiviert, den Teamgeist und das Sozialverhalten stärkt. Noch wichtiger aber ist, dass die Beschäftigung mit Musik den jungen Menschen fasziniert und bewegt und ihm dabei hilft, seine Persönlichkeit heranzubilden. Im „Übungsfeld“ der Musik setzen wir uns mit Geschichte und Biografien auseinander, wir lernen Komplexität und Widerspruch ästhetisch zu tolerieren, entwickeln unser Gefühlsleben, unser Erkenntnisvermögen, einen eigenen Kunstgeschmack. Wir erfahren den Bildungsprozess als musikalischen Genuss und lernen, unser Leben durch Musik glücklicher und menschenwürdiger zu führen. Die Musikpädagogik-Professorin Rebekka Hüttmann betont, dass es nicht nur eine analytisch-kognitive, sondern auch eine künstlerische „Weltzuwendung“ gibt. „Menschen brauchen Künste, um Welt zu verstehen, zu erschließen, zu gestalten.“