Orchestra | Von Claus Becksteyn

Eine Messe für den Papst. Orchesterarbeit in der Coronazeit

Franziskusmesse

Als Sven Hellinghausen die Franziskusmesse komponierte, wusste er noch nicht, welche Erfolgsgeschichte diese mal erzählen würde. Nachdem man dem Papst das Werk zu dessen 80. Geburtstag persönlich überreicht hatte, reifte im Komponisten die Idee, das Werk online einzuspielen. Denn die Pandemie stellt Orchester und ihre musi­kalischen Leiter vor eine starke Belastungsprobe. Das Ergebnis bei Drucklegung: Fast eine Million Zuschauer bei Facebook. Ein Erfahrungsbericht. 

Ein Rückblick: Noch vor fünf Jahren, als niemand auch nur im Entferntesten daran gedacht hätte, was heute Wirklichkeit ist, machten sich 150 Musiker auf zum Papst – die eigens für ihn komponierte Franziskusmesse von Sven Hellinghausen wurde an seinem 80. Geburtstag im Petersdom aufgeführt und ihm überreicht. Die Reise war nicht nur ein Erlebnis für alle Mitreisenden – schließlich hatte man eine Konzertreihe beschlossen, die die Wiener Sinfoniker eröffnet hatten. Sie war gleichzeitig die Geburtsstunde des Orchesters “German Winds”. Bei einer Konzertreise durch England und Schottland im Jahr 2019 wuchs das Orchester zusammen und gleichzeitig bildete sich ein Netzwerk vieler Musiker in ganz Europa. 

Projekt Online-Orchester

Die coronabedingte Spielpause, die folgte, drückte vielen Musikern aufs Gemüt. “Nachdem ich mit meinen eigenen Orchestern während der Corona-Pause viele Stücke online aufgenommen hatte, kam mir der Gedanke, das Projekt eines Online-Orchesters räumlich und personell auszuweiten”, erklärt Sven Hellinghausen. Dabei traf der rege Orchesterchef allerorts auf offene ­Ohren.

Rund 60 Musiker aus ganz Europa erklärten sich dazu bereit, bei einem größeren Online-Projekt mitzuwirken. Neben Mitgliedern von German Winds fanden sich Musiker aus England (Alnwick Playhouse Concert Band, Coquet Concert Band) und Schottland (Edinburgh Concert Band) sowie Studenten der Universität Aberdeen ein. 

“Hier zeigt sich, dass der Gedanke eines europäischen musikalischen Netzwerks trägt und aufgeht”, freut sich Tobias Patrick Wolf. Der Komponist und Dirigent aus Schottland unterrichtet an der Universität Aberdeen und ist
­Music Director des “The King’s Philharmonic ­Orchestra”. Gemeinsam mit Sven Hellinghausen, der als Principal Guest Conductor bei “King’s Philharmonic” den europäischen Part in Schottland vertritt, setzt Wolf Akzente als erster Gastdirigent bei “German Winds”.

Tobias Wolf
Sven Hellinghausen (links) mit Tobias Wolf

Neben den Musikern von der Insel sind auch In­stru­menta­listen aus Brasilien, Japan und Südtirol zu hören. Dazu kommen Sänger für die Chorstimmen aus ganz Europa. “Bei ‘German Winds’ ist es Pflicht, als Musiker auf der Tour mindestens ein Chorwerk a cappella zu singen”, erklärt Hellinghausen. Dennoch hätten sich die meisten Musiker für das Benutzen ihres Instruments entschieden und den reinen Chorsängern den Vortritt gelassen.

Große Datenmengen 

Um den Umfang nicht zu groß zu gestalten, entschlossen sich die Teilnehmer, zunächst den 5. Satz der Messe (“Agnus Dei”) aufzunehmen. Unterstützt durch ein Stipendium des Landes Rheinland-Pfalz startete das Projekt. Jeder der Teilnehmer bekam vom Orchesterleiter einen Referenztrack. Gestimmt auf 442 Hz und mit einem Metronomschlag versehen, ­spielten die Musiker ihre Stimmen zunächst als Tonaufnahme ein und schickten das MP3 zum Mischen in den Westerwald. Parallel entstanden Videoaufnahmen der Teilnehmenden und wurden ebenfalls per Mail versandt. “Bei den hohen Auflösungraten der Videos kamen da schon ganz schöne Datenmengen zusammen”, erklärt Hellinghausen, der sich noch während des Projekts eine größere Bandbreite seines Netzanschlusses verschaffte. 

Die Aufnahmen stellten die Musiker vor so manches Problem. Saubere Intonation und prä­zise Rhythmik waren ihnen als Aufgabe gestellt worden und zwang so manchen Teilnehmer zu zahlreichen Aufnahmen. “Das forderte die Musiker. Durch die Pandemie haben einige erst ein paar Anläufe gebraucht, um wieder so wie vor der Pandemie zu klingen”, so der Orchesterleiter, erfreut, 60 Musiker zu regel­mäßigem Proben – wenn auch aus der Ferne – zu motivieren.

Jeder Einzelne bekam, wenn nötig, ein Feedback zu seiner Einsendung mit Hinweisen, wie diese zu optimieren wäre. “Danach kam dann auch der künstlerische Ausdruck zum Tragen”, ergänzt Carmen Radermacher, Klarinettistin bei “German Winds”. 

Insgesamt 90 Tonspuren

Nach ersten technischen Schwierigkeiten lagen dann rund 70 Tonspuren des Orchesters und 20 Tonspuren des Chores vor. »Dabei zeigte sich die große Bandbreite der Aussprache lateinischer Texte von Schottland bis Südtirol«, lacht Sven Hellinghausen. Auch hier war Nacharbeiten angesagt, um die Aussprache einheitlich zu gestalten. 

Besonders rührend war dabei eine Mutter, die mit dem schlafenden Baby auf der Brust das “Agnus Dei” gesungen hat, erinnert sich Nelah aus dem Moore, die sich als Gesangspädagogin um die gesanglichen Teile kümmerte.

2017 hatte Christian Dietz, Tenor beim WDR Rundfunkchor, in Rom die Solopassagen gesungen. Nachdem dieser durch einen Trauerfall in seiner Familie kurzfristig ausfiel, entschied sich der Komponist zu einem Experiment: Er schrieb die ursprüngliche Männerstimme, die einen sehr großen Stimmumfang abdecken musste, für eine Frauenstimme um. Eine Sopranistin aus dem Siegerland, Manuela Meyer, sprang kurzfristig ein und gab dem Stück eine komplett neue Färbung.

Parallel glühte der “Draht” nach Rom. Der Kontakt in Rom, der 2017 das persönliche Treffen mit dem Heiligen Vater und das Spielen der Messe am Papstaltar im Petersdom ermöglicht hatte, sagte zu, dass auch die jetzt neu aufgenommene Franziskusmesse online dem Papst übergeben werden könne. Jedoch wäre es schön, nicht nur einen Satz, sondern die komplette Messe zu übergeben. Dies würde jedoch eine Menge Mehrarbeit bedeuten, nicht nur für Hellinghausen am Rechner, sondern auch für alle am Projekt Beteiligten.

“Nicht einer hat einen Rückzieher gemacht”, freut sich der Dirigent. “Ganz im Gegenteil, die waren alle ganz heiß darauf weiterzumachen.” Schließlich hatte sich auch bei den Musikern ein gewisser Workflow etabliert, nachdem sie auch in den Onlineprojekten ihrer Musikvereine fleißig eingebunden waren.

Nach und nach wuchs der Rest der Messe

Daniel Ridder, Solotubist beim Musikkorps der Bundeswehr, legte als Erster ein stabiles Fundament, welches das komplette Orchester zuverlässig trug. Nach und nach wuchs auch der Rest der Messe, sodass nach mehrmonatiger Arbeit die komplette Messe eingespielt wurde. “Das Zusammenspiel von Profis und Laienmusikern kann beiden Seiten neue Perspektiven eröffnen. Solche Projekte, ob online oder natürlich bevorzugt im Orchester, sind wichtig und ich unterstütze sie jederzeit gerne”, bestätigt der inter­national gefragte Solomusiker und Dozent. 

Hatte schon die Aufführung der Messe in Rom ein breites mediales Interesse geweckt (von “Il Messagero” über Focus, Welt, SWR und SAT1), begleitete auch diesmal ein Team der SAT1 Nachrichten die Orgelaufnahmen der Messe in einer Abtei im Westerwald. “Einzig die Orgel wurde mit entsprechenden Mikrofonen abgenommen, alle anderen Instrumente wurden ausschließlich mit dem Mobiltelefon aufgenommen – und genau das ist der besondere Reiz”, betont Sven Hellinghausen. 

Nachdem er die einzelnen Stimmen rhythmisch synchronisiert und intonationsmäßig angeglichen hatte, folgte ein weiterer zeitintensiver ­Aspekt: Das nachträgliche klang­liche Verändern der einzelnen Stimmen, die auf unterschiedlichste Art und Weise in verschiedenster Klangqualität und mannigfaltigsten Voraussetzungen (Entfernung zum Mikrofon, Beschaffenheit des Aufnahmeortes etc.) aufgezeichnet wurden. 

Nach der Fertigstellung der Audiotracks lud man diese umgehend zu den Streamingdiensten hoch – von Spotify über Applemusic und iTunes bis Amazon, sodass die Musiker ihr Spiel schon vorab aus der heimischen “Alexa” hören konnten. 

Zahlreiche posi­tive Rückmeldungen auf das Projekt

Parallel erstellten die Musiker Videosequenzen zu den einzelnen Sätzen, um die Wirkung der Musik auch visuell zu verstärken. Dass dies eine gute Entscheidung war, zeigte sich nach kurzer Zeit in den sozialen Medien: Allein auf Facebook hatten in den ersten vier Wochen nach Veröffent­lichung rund eine dreiviertel Million Menschen weltweit die fünf Sätze der Messe (Kyrie, Gloria, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei) gesehen. Sie erhielt mehrere tausend Likes und wurde über tausend Mal von begeisterten Zuschauern von Brasilien bis Japan geteilt. Zahlreiche Kommentare von »Kraftvoll und berührend« bis »Zuhören ist wie in den Himmel kommen« gaben ­allen Beteiligten viel Kraft für die Mühen der Vorwochen zurück. 

Viele Musiker berichteten über zahlreiche posi­tive Rückmeldungen auf das Projekt. Und sehr viele wunderten sich, dass ein Blasmusik­projekt weltweit so schnell so viele Zuhörer und ­Zuspruch finden konnte. “Die meisten waren sogar traurig, dass es schon rum ist und fragten nach einem neuen Projekt, gerade als bekannt wurde, dass der Lockdown in die Verlängerung geht”, berichtet der Orchesterleiter stolz. Und ergänzt, dass er bereits eine Menge neuer Ideen habe. 

Fazit

Gibt es ein Fazit für dieses große und zeitaufwendige Projekt? Für Hellinghausen sind diese Online-Projekte eine wichtige Voraussetzung für ein schnelles und gutes Wiederanlaufen des Orchesterbetriebs nach der Pandemie: “Zweifelsohne ist das gemeinsame Musizieren im Orchester die erste Wahl. Doch ich wünsche mir, dass in Zeiten der Pandemie noch mehr Orchesterleiter die großen Vorteile sehen, die diese Online-Projekte mit sich bringen. Freilich musiziert man nicht wirklich zusammen.

Aber die Aufnahmen motivieren die Musiker, zu üben, die Passagen immer besser zu spielen und auch musikalisch zu wachsen, wenn sie die entsprechende Rückmeldung bekommen. Einige Musiker haben mir bereits zu verstehen gegeben, dass sie sich durch das Feedback auf die Aufnahme noch persönlicher gefördert fühlen als im Orchesterverband. Durch das regelmäßige Spiel, wenn auch allein zu Hause, ist eine wichtige musikalische Grundlage geschaffen für die Zeit nach der Pandemie, um schneller physisch und musikalisch wieder dort anknüpfen zu können, wo man vor der Pandemie aus dem aktiven Orchesterleben gerissen wurde.”

Hellinghausen
Sven Hellinghausen

www.sven-hellinghausen.de