Orchestra | Von Renold Quade

Encanto von Robert W. Smith

Encanto
Foto: Claudia auf Pixabay

»Encanto« ist ein spanisches Wort, ein Wort, dass dann stimmungsvoll herangezogen wird, wenn etwas im Leben eine Situation ver- und bezaubert. Dementsprechend sollte dann wohl ein besonderer Charme in der Luft liegen, gar eine Verlockung, die fasziniert, die verzückt, die beileibe alles in ihren Bann zieht. Da hatte sich Robert W. Smith im Jahre 2007 wohl etwas sehr Spezielles vorgenommen, etwas, was er zudem noch gezielt auf Blasorchester der Mittelstufe ­zuschneiden wollte. Das Werk hat nichts mit dem US-amerikanischer Animations- und Musicalfilm »Encanto« zu tun, der 2021 unter der Regie von Byron Howard die Kinos eroberte. Robert W. Smith hatte schon viel früher eine ganz eigene Inspiration. 

Der Komponist

Robert W. Smith wurde am 24. Oktober 1958 in Daleville, im amerikanischen Bundesstaat Ala­bama geboren. Er besuchte die dortige High School und setze seine Studien an der Troy State University fort. Dort besuchte er unter anderem auch die Kompositionsklasse von Paul Yoder. Er hat dem Vernehmen nach über 600 Werke veröffentlicht, größtenteils in langjähriger Zusammenarbeit mit Warner Bros., Alfred Music, C.L. Barnhouse und Belwin Music. Seine Originalwerke für Bläser und Schlagzeug standen und stehen regelmäßig sowohl auf den Programmen von Militärorchestern, als auch auf Programmen von Universitätsorchestern, Highschool- und Schoolbands.

Renommierte Ensembles, wie etwa die United States Navy Band, die United States Air Force Band, die Boston Pops und das Atlanta Symphony Orchestra gehören zu den regelmäßigen Interpreten seiner anspruchsvolleren Kompositionen. Schulbands und Schulorchester erfreuen sich darüber hinaus an anderen musikalischen Ideen, an Ideen, die er mit Geschick und Überzeugung speziell genau auf diese Zielgruppen zugeschnitten hat. Und nicht nur in den Vereinigten Staaten und Kanada, sondern auch in Europa, Australien, Südamerika und Asien schätzt man seine Musik.

Seine Symphonien Nr. 1 (»The Divine Comedy«), Nr. 2 (»The Odyssee«) und Nr. 3 (»Don Quixote«) sowie auch »Inchon und Afrika: Zeremonie, Gesang und Ritual« zählen wohl zu seinen renommiertesten Konzertwerken. Seine eher pädagogisch motivierten Kompositionen wie »The Tempest«, »Encanto« und »The Great Locomotive Chase« sind auf der ganzen Welt zu Standards zur Orchesterentwicklung geworden.

Auch für Drum and Bugle Corps

Freude bereitete ihm im Übrigen auch, für »Drum and Bugle Corps« zu schreiben, war er doch Mitte der 1970er Jahre Mitglied des »Charioteers Drum and Bugle Corps« in Alabama. In den 1980er Jahren schrieb er für »Suncoast Sound« aus Clearwater, Florida, »A Florida Suite«, eine der ersten Originalkompositionen für diese Besetzung. Sie wurde beim gleichnamigen Festival uraufgeführt. Für Soloinstrumente zählen wohl die »Gemeinhardt Suite« für Querflöte und die »Willson-Suite« für Eufonium zu seinen bekanntesten Werken.

Nicht zu vergessen, dass er über die Bläsermusik hinaus in etlichen anderen Bereichen der Musikbranche rührig war. So schrieb er für TV-Stationen und wurde in der Filmbranche nachgefragt. Selbstredend, dass er als Dirigent, Workshopleiter, Vortragender und Lehrender weltweit geschätzt wurde. Regelmäßig unterrichtete er im Rahmen des »Music Industry Programs« an der Troy University in Alabama. Dabei spezialisierte er sich einerseits auf Themen wie Komposition, aber auch praxisnah auf Themen wie Produktion, Verlag und Musikwirtschaft. 

Nach Problemen bei einer Herz-Operation verstarb Robert W. Smith überraschend im Alter von 64 Jahren am 21. September 2023. 

Die Idee zu Encanto

Die Bläserszene lobt »Encanto« als eines der wohl beeindruckendsten Werke, das Robert W. Smith für die engagierte Mittelstufe geschrieben hat. Es beginnt ganz klassisch mit einer Blechbläserfanfare, deren Duktus aber nicht nur mit einfachen Standardbausteinen auskommt. Fortgeführt wird das Werk mit einem gewitzten Thema, das stark von seiner synkopisch orientierten rhythmischen Ausprägung lebt, und das dazu auch noch vom (zugegebenermaßen, im Vergleich zu Zweier- und Vierermetren, eher seltener gespieltem) Dreiermetrum beherrscht wird. Der Geist dieser beiden prägenden Kompositionskomponenten »lässt junge Orchester stark und selbstbewusst klingen«, so eine weit verbreitete Einschätzung.

Dirigenten achten und schätzen »Encanto« für seine vielen spannenden Möglichkeiten, im Orchester vergnügliche, wie konzentrierte Aufmerksamkeit zu erzeugen. Einerseits erweckt das Werk von vorneherein ansteckende Spielfreude. Andererseits, wenn man es aus musikerzieherischer Perspektive so sehen möchte, schätzen Dirigenten auch die klugen pädagogischen Spielbausteine, die auf so pfiffig musikalische Art und Weise dort verortet sind. Dabei ergibt sich hier eine große Chance auf Mehrwert und Nachhaltigkeit, da gerade diese spannenden Elemente im sinnstiftenden Zusammenhang der Musik stets gut bewältigt werden können. Die Raffinesse des Werks, bei aller Mühe mit Fer­maten, Synkopen und einem Dreiermetrum, erweckt nie den Eindruck aus einer rein »pädagogischen« Intention heraus gewachsen zu sein. Viel eher vermittelt sie eine Art von tänzerischer Begeisterung und ausgelassener Leichtigkeit, die wohl letzten Endes jeden Zuhörer und Musiker ein wenig »verzaubern« kann. 

Der Aufbau

Die ersten fünf Takte gehören dem Blechregister, welches in solistischer Instrumentation, und immerhin im satten mf, sich anschickt, einen imposanten Klang zu formen, der an eine Kirchenorgel erinnert. Diese fünf Takte sind »stately«, im Tempo Viertel 68, im Vierertakt, absolut metrisch auszuführen. Sie wirken aber durch Fermaten und kleine Synkopierungen eher wie gut kontrollierte freischwebende Klänge. In den Takten 6 bis 10 wiederholt sich das Szenario, klanglich intensiviert im Tutti-Forte.

Ab Takt 11, aus einem langen Ton heraus, wechseln Tempo und Metrum und es beginnt der große A-Teil. Die Pauken weisen über zweimal zwei Takte zunächst den Weg und präsentieren den neuen, alles bestimmenden Grundgroove. Ab Takt 15 bieten tänzelnde Klarinetten darüber ein neues Thema, ein Thema, dass sich eng an die rhythmischen Vorgaben der Pauken anlehnt. Harmonisch wird dies alles zunächst nur von einem orgelpunktartigen langen Ton in den Bässen gestützt.

Ab Takt 23, bei der Themenwiederholung, gesellen sich die hohen Hölzer zu den Klarinetten und die Begleitung füllt sich harmonisch mit Bordun-Klängen an. Diese vergleichsweise harmlose, wenn auch energetisch aufgeregten, Stimmung durchbrechen ab Takt 31 kecke Taktwechsel im Tutti. Mit dem bisherigen motivischen Material spielend, stiften hier acht Takte durchaus Verwirrung. Zunächst zweimal zwei Takte im Verhältnis 3 zu 4, dann zwei Takte im Verhältnis 3 zu 2 und schließlich noch einmal zwei Takte im Verhältnis 3 zu 3 gilt es mit guter Artikulation metrisch zu bewältigen. Erst mit dem langen Ton, vier Takte vor 43, und dem gleichzeitigen Einsatz des Schlagwerks kommt wieder die klare Struktur des Ausgangsgedankens ordnend ins Spiel.

Mittelalterlich anmutende »Markt-Tanz-­Atmosphäre

Die Takte 43 bis 52 nehmen sich erneut der Grundidee an, stehen aber aufgrund ihrer vollkommen veränderten Instrumentation in einem ganz neuen Licht. In der Wiederholung pointieren noch einmal ganz besonders die Instrumente, die mit einem ostinaten Motiv einer »ungeraden Taktteilung« dazustoßen. Ab Takt 53 bleiben schließlich nur noch die Holzbläser und das Schlagwerk übrig. Irgendwie, wie eigentlich auch schon die ganze Zeit über vorher, bricht sich besonders in dieser Instrumentenkonstellation mittelalterlich anmutende »Markt-Tanz-­Atmosphäre« stark Bahn. Mit Hilfe des sich wiederholenden Kopfmotivs wird nun eine kleine Zwischencoda gebildet. Über einen langen Ton in den Bläsern und durch sich ausdünnendem Schlagwerk darunter wird die Szenerie auf den Grundgroove reduziert und leitet langsam zum Großteil B über.

Eine solistische Querflöte präsentiert ab Takt 65, rubato, einen neuen lyrischen Gedanken. Dieser wird ruhig mit zunächst eher liegenden, harmonisch sehr charmanten Tönen vom Klarinettenchor des Orchesters begleitet. Ein solistisches Altsaxofon schmiegt sich nennenswert wahrnehmbar dazu. Dies geschieht überleitend und zur Festigung des sich nun stabilisierenden Querflötenthemas. Das Altsaxofon stützt in der Folge mit langen Noten den begleitenden Klarinettenchor. Die Spannung belebend, agiert dieser nun rhythmisch ein wenig auffälliger, in komplementärer Anlage zur Melodie. Basstuba und Waldhorn mischen sich in den Schlusston der Liedphrase und bereiten den Weg für ein großes Tutti ab Takt 81, flowing, im Sinne des amtierenden lyrischen Gedankens.

Ein kleiner Höhepunkt

In Takt 89 wird ein kleiner Höhepunkt erreicht, der gleichzeitig auch Scheitelpunkt ist. Ab Takt 94 verlässt das Holzregister die Bühne und, angeführt von einer solistischen Trompete, vollendet das Blech im viertaktigen Nachsatz die musikalischen Gedanken. Ab Takt 97, im Tutti, erweist sich das Kopfmotiv von Takt 89 noch einmal als führend und leitet die nächste kleine Zwischencoda ein, die den Großteil B beendet. Die Takte 101 bis 105 gehören nunmehr wieder nur einer solistischen Querflöte, sanften Klarinetten und im Schlussakkord wenigen milden Blechbläsern.

Ab Takt 105 beginnt die Reprise des Werkes. Analog zu Takt 11 baut sich der prägende Grundrhythmus das A-Teiles wieder auf und führt, via dal segno, zurück zu Takt 15. Den Ausstieg zur finalen Coda, Kopf-Kopf, markiert Takt 49. 

Ab Takt 111, nach molto ritardando der liebgewordenen Dreierbewegung des A-Teiles, präsentiert sich über vier Takte noch einmal die einleitende langsame Fanfare im großen Tutti. Aber dies nicht, ohne noch einmal eine rhythmische Nuancierung zu erfahren. Und wer dachte, jetzt wird das Werk rein fanfarenmäßig beendet, der irrt. Im vierten Takt sorgt zunächst ein Paukenwirbel noch einmal für Aufmerksamkeit. Darüber liegen im ritardando Viertelnoten, die erneut überleitend wirken und noch einmal ein Presto freigeben. In den letzten acht Takten galoppiert schließlich noch einmal der »Dreiertanz« ins Bild und beendet das Werk recht furios.

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Die Instrumentation

Die Besetzungsliste hält Stimmen für das komplette Holzregister vor. Die solistischen Parts des Klarinettensatzes klingen voll ausgebaut mit Alt- und Bassklarinette natürlich am besten. Charmante Soli in Querflöte, Altsaxofon, Trompete und Pauke laden jeden Solisten mit Spaß an einer lösbaren Aufgabe ein, gestalterisch tätig zu werden. Das Blechregister ist für drei Trompeten, zwei Hörner, zwei Posaunen, einer »Bariton-Mittelstimme« und Basstuba mittelstark, eher bescheiden instrumentiert. Das Register verteilt seine Aufgaben aber klug und lässt nichts vermissen. Zudem können vier Schlagwerker angemessen und abwechslungsreich beschäftigt werden. Die Pauke hat eine zentrale Funktion. An keiner Stelle steht ein Instrumentalist vor unlösbaren Aufgaben, weder technisch, noch was Tonhöhen betrifft. Rhythmisch ist für alle ohne Frage »ein wenig Musik drin«. 

Fazit

Encanto – Verzauberung, Charme, Verlockung. Es bedarf manchmal nur einer kleinen, pfiffigen Idee, eines witzigen Motivs, einer einprägsamen rhythmischen Wendung, und schon ist er drin, der Ohrwurm. Der Ohrwurm, der einem ein Lächeln ins Gesicht zaubert und einen auch für längere Zeit einfach nicht so richtig loslässt. Es braucht dazu in der Tat nicht viel. Es ist auch nicht abhängig von großen Besetzungen oder spieltechnischen Voraussetzungen. Es muss lediglich zünden. Und das funktioniert hier auf durchaus eher kleinem Raum. Rund fünf Minuten dreht sich die Welt im überschaubaren Schwierigkeitsgrad drei um eine »kleine, krumme Fanfare« und um ein »tänzerisches Thema«, das ein Gefühl von Leichtigkeit und vergnüg­licher Stimmung verbreiten kann.